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35. Liv

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Liv und Beatrice zogen ihr ramponiertes Gepäck hinter sich her, schleppten es ein paar Stufen über einen künstlichen Wall und postierten sich dann am Wendehammer vor der Anlage. Für Liv sah der Komplex mit Schiff, Reling, Vorplatz und sorgfältig asphaltiertem Parkplatz unwirklich aus, wenn sie den Verfall betrachtete, der nur wenige Meter davon entfernt begann. Ungepflegte Büsche und wucherndes Unkraut waren gespickt mit Müll, an dem der Wind zerrte, bis er den Unrat in das nächste Schlagloch gepustet hatte.

Der Nieselregen vom Morgen war in ein leichtes Schneetreiben übergegangen, das die keilförmige Landzunge, an der auch das Hotelschiff ankerte, noch ungastlicher aussehen ließ. In sicherer Entfernung kauerten struppige Hunde, die das spärliche Treiben um sich herum beobachteten. Sie kratzten sich, um die Flöhe im Fell in Schach zu halten, knurrten einander an und suchten hinter den Büschen Schutz vor den schneidenden Böen, die die nassen Flocken vor sich hertrieben.

Die beiden Wachmänner des Hotels standen rauchend neben dem Schlagbaum des Parkplatzes. In der Ferne ratterte die blau-gelbe Metro über eine Metallbrücke, die beide Seiten des Ufers und das Stück Land im Fluss verband. Im Sommer würde die Insel bevölkert sein von vergnügungswilligen Ukrainern, die im hiesigen Freizeitpark Fahrgeschäfte ausprobierten. Jetzt im Schneetreiben wirkte der Vergnügungspark wie ein abgehalftertes Dorfschützenfest aus den Siebzigerjahren, das jemand vergessen hatte abzubauen. Abblätternde Farbe auf Spanplatten, die schief und krumm zu Bierständen zusammengehämmert waren, Plastikstühle, die unter einer schmutzigen Schicht weiß schimmerten, und immer wieder in den Nationalfarben Blau und Gelb bemalte Schuppen, die ohne erkennbaren Sinn um einen Platz gruppiert waren.

Stetig fuhren schwarze Geländewagen oder andere dunkle Limousinen in Richtung des Schlagbaums. Die Fahrer ließen die Scheibe herunter, wechselten ein paar Sätze mit den Wachmännern und drehten wieder ab. Einer der Ankommenden zeigte auf Liv und Beatrice. Er schien etwas zu fragen und erhielt eine barsche Antwort, woraufhin er mit quietschenden Reifen davonbrauste.

„Was machen die da?“, fragte Liv.

„Die suchen Fahrgäste. Das sind private schwarze Taxen, und die besten Tipps für lohnende Fahrten gibt’s vom Hotelpersonal.“ Beatrice hatte nur kurz von ihrem Telefon hochgeschaut und tippte gleich weiter.

„Was spricht dagegen, dass die uns mitnehmen?“

„Wir haben einen Wagen, der vom Hotel gerufen wurde. Das gibt uns Sicherheit, dass wir da ankommen, wo wir hinwollen, und dass es nicht das Dreifache kostet. Wenigstens das hat früher bei jedem Besuch gut funktioniert.“

Liv sah zweifelnd auf ihre Uhr. Sie hoffte inständig, dass Beatrice damit recht hatte. Sie bekam schon ein mulmiges Gefühl, wenn sie nur an der Fassade dieses schwimmenden Hotels hochschaute. Zwanzig Minuten standen sie sich im Schneeregen nun schon die Füße nass. „Wie gut, dass wir es null eilig haben.“

„Hm …“

Beatrice schaute weiter auf ihr Telefon. Liv beobachtete die Straße. Ein einzelner Geländewagen mit rundherum getönten Scheiben fuhr in Richtung der Männer. Waren solche Verdunkelungen hier erlaubt? Der Wagen hielt nicht an, sondern rollte in Richtung des Wendehammers. Die beiden Männer warfen ihre Zigaretten weg und beeilten sich, die Schranke zu öffnen. Der Fahrer rief etwas, beide nickten heftig und traten zurück. Das schwere Auto rollte mit eingeschalteten Scheinwerfern frontal auf die Frauen zu.

Livs Magen zog sich zusammen. Will der uns umfahren? Sie konnte das Gesicht des Fahrers hinter den dunklen Scheiben nicht erkennen. Genauso gut konnte der mit einer Waffe auf sie zielen. Der Wagen hielt mit der Beifahrerseite direkt neben ihren Koffern. Die Kofferraumklappe ging automatisch auf. Der Fahrer blieb sitzen. Langsam reicht es. Du bist der Größte, ist ja gut. Verärgert schmiss Liv den Koffer förmlich ins Auto und stieg hinter dem leeren Beifahrersitz ein. Beatrice setzte sich auf die andere Seite. Im gleichen Moment stieg der Fahrer aus und ging zu den Wachleuten.

„Beatrice, hältst du den wirklich für vertrauenswürdig? Ich habe ein ungutes Gefühl.“

„Die Männer sind hier nun mal so.“

„Üben die finster gucken schon in der Schule?“

„Super Land. Achtung, da kommt er.“

Wortlos stieg der Fahrer wieder ein. Beatrice beugte sich nach vorne und wechselte ein paar Sätze auf Russisch mit dem Mann. Der nickte und startete den Motor.

„Und?“

„Er fährt uns zum Flughafen. Das Hotel hat den Preis verhandelt. Alles okay.“

Beatrice nestelte an ihrem Gurt herum, der sich jedoch keinen Millimeter bewegte. Sie gab auf. Liv lehnte sich im Sitz zurück. Was war denn das? Sie schnellte nach vorne. Am Rückspiegel war eine Videokamera angebracht. Aber die zeigte nicht nach vorne. Liv blickte in die Linse der Kamera.

„Hat er Angst, dass wir ihn ausrauben, oder was?“

Beatrice folgte Livs Blick. „Es gibt öfter Auffahrunfälle. Deswegen zeigen diese Dinger manchmal auch nach hinten.“

„Sind wir etwa im Bild?“

„Denke schon.“

„Auffahrunfall? Ist klar.“ Liv rückte ganz nach rechts außen an die Autotür und zog ihre Baseballkappe aus der Tasche. Die hatte schon gute Dienste geleistet, als sie sich mit Oxana ins Hotel geschlichen hatte. Sie hielt in der Bewegung inne und starrte auf ihre Kappe. Vielleicht waren die Männer gar nicht hinter Oxana her gewesen? Wenn sie an der Rezeption unerkannt vorbeigekommen waren, hatte niemand wissen können, dass sie auf dem Zimmer war und schon gar nicht, dass Oxana bei ihr war. Hatten sie da etwa auch schon versucht, ihr Notebook zu stehlen? Es klingelte. Der Fahrer griff in seine Tasche, zog ein Smartphone heraus und ging ran. Er sprach mit leiser Stimme ins Telefon.

„Was sagt er?“, flüsterte Liv.

„Keine Ahnung. Er spricht ukrainisch, nicht russisch.“

„Kannst du nicht wenigstens ein paar Brocken verstehen?“

Beatrice beugte sich nach vorne und lauschte. Sie schüttelte bedauernd den Kopf.

Der Fahrer setzte zu einem Satz an, hielt inne, holte Luft, setzte erneut an. Augenscheinlich wurde er einige Male unterbrochen. Eine Männerstimme bellte so laut ins Telefon, dass sie bis auf die Rückbank zu hören war.

„Andrej!“, rief der Fahrer nun aufgebracht ins Telefon und knarzte abgehackte Sätze hinterher.

Andrej? Liv und Beatrice sahen sich an. Beatrice lehnte sich sofort zurück und schaute regungslos durch das Fenster in die vorbeirasende Landschaft. Liv verharrte geschockt. Hatten sie sich gerade verhört? Andrej? Das war hier sicher kein seltener Name. Aber sie kannte hier nur einen Menschen, der so hieß, und das war der Leiter des Mädcheninternats. Liv holte ihren Blackberry raus, legte ihn auf die Tasche und aktivierte die Diktierfunktion. Was immer ihr Fahrer zu seinem Andrej sagte, irgendwer würde das später übersetzen können.

Jäh zog der Fahrer mit einer Hand das Steuer herum. Im letzten Moment schwenkte er auf eine Ausfahrt. Reifen quietschten. Beatrice’ Kopf knallte gegen die Scheibe. Livs Telefon schoss über die Rückbank und verschwand im Fußraum.

Ohne seine durcheinanderpolternden Fahrgäste eines Blickes zu würdigen, sprach er aufgebracht auf diesen Andrej in der Leitung ein. Liv angelte zwischen Beatrice’ Füßen nach ihrem Blackberry, der weiterhin aufzeichnete. Beim Hochkommen sah sie, dass sie sich immer weiter von der Autobahn entfernten. Livs Herzschlag beschleunigte sich. Was sollte das? Auf dem Hinweg war die Autobahn eine schnurgerade Verbindung zwischen Flughafen und Stadt. Es konnte also keine Abkürzung sein. Beatrice hielt sich den Kopf.

„Beatrice, was geht hier vor?“, flüsterte Liv.

„Ich weiß es nicht. Das ist auf keinen Fall der Weg zum Flughafen“, wisperte Beatrice mit einem hysterischen Unterton.

Der Wagen raste über die Betonplatten. Dadum, dadum. Alle paar Sekunden ertönte an deren Nahtstellen das Geräusch unter den Reifen und der Wagen rumpelte leicht. Sie waren gefangen! Livs Gedanken rasten. Ihre Waffe war in Deutschland, das Tränengas lag schon für den Abflug hinten im Gepäck.

„Was tun wir denn jetzt?“ Beatrice knetete ihre Hände. Ein feiner Schweißfilm glänzte auf ihrem sonst so makellos geschminkten Gesicht. Wie kamen sie hier nur heil raus? Liv schielte auf ihren Blackberry, der immer noch aufzeichnete. Allerdings hörte der Fahrer mehr zu und antwortete kurz angebunden. Er schien ruhiger zu werden. Seit der Wagen von der Autobahn runtergefahren war, waren erst zwei Minuten vergangen, stellte Liv fest. Es fühlte sich viel länger an. Vorne wurde aufgelegt. Der Fahrer schielte in den Rückspiegel. Liv fing seinen Blick auf. Sie drückte die Stopptaste.

„Beatrice! Mach gleich genau, was ich dir sage. Bleib völlig ruhig“, flüsterte Liv.

Beatrice schaute fragend und nickte zögerlich.

Liv griff sich den Blackberry und drückte auf Wahlwiederholung. Sie war zu zittrig, um eine Nummer einzugeben, und rief die zuletzt gewählten Nummern auf. Oliver! Ja, das könnte klappen.

Sie lauschte in den Hörer und vergaß zu atmen. Nichts passierte. Liv schaute auf das Display. Kein Netz, keine Balken. Wie konnte das sein? Der Ukrainer telefonierte doch auch. Ruhig, Liv, ruhig. Sie starrte weiter auf das Telefon. Das Flugsymbol! Sie hatte vergessen, dass sie das Handy im Flugmodus hatte, um nicht Tausende Euro Roaminggebühren zu bezahlen. Sie aktivierte die Netzsuche. Jetzt! Es hatte ein Netz gefunden. Liv ging wieder in die Anrufliste und drückte auf den grünen Hörer. Es klingelte! Einmal, zweimal … Mensch! Geh an dein Telefon! Jetzt!

Oliver meldete sich. Liv stieß die angehaltene Luft aus und plapperte in einem auch für sie falsch klingenden Tonfall los: „Oh, hallo! Das ist ja prima, dass ich Sie in der Botschaft erreiche. Wir wollten uns doch unbedingt wegen des Projektes noch am Kiewer Flughafen treffen.“

„Liv, bist du das? Äh ... Frau Mika, sind Sie das? Hier ist Oliver Klauenberg. Haben Sie sich verwählt?“

„Ja, natürlich. Das passt. Wir haben genug Zeit. Bitte kommen Sie auf jeden Fall zum Abfluggate. Dann können wir alles besprechen.“

„Was bitte? Ich bin in einer Besprechung. Ich habe jetzt keine Zeit. Ist alles okay?“

„Wie Sie uns erkennen?“

Der Wagen holperte ein Stück über die Fahrbahnseite. Der Fahrer war von Livs aufgesetzter lauter Freundlichkeit bei dem Telefonat irritiert und schaute nur noch in den Rückspiegel. Mit einem Schlenker lenkte er den Wagen zurück.

„Aber ja, natürlich! Das ist eine prima Idee. Moment, das kläre ich.“ Liv nahm das Telefon vom Ohr, tippte dem verdutzten Fahrer auf die Schulter und wandte sich strahlend, aber mit einem eindringlichen Blick Beatrice zu. Die starrte sie an, als hätte sich Liv vor ihren Augen in ein Flusspferd verwandelt.

„Beatrice, da ist der Herr aus der deutschen Botschaft dran. Er wartet am Flughafen auf uns. Sag das doch mal dem Fahrer und bitte ihn, kurz anzuhalten.“ Liv zeigte auf den Blackberry und bleckte die Zähne. Mehr Lächeln ging nicht.

Beatrice übersetzte, und der überrumpelte Fahrer hielt an.

„Himmel! Sind Sie betrunken? Ich muss in die Besprechung zurück.“

Livs Gedanken rasten. Er musste einfach kapieren, dass hier was nicht stimmte.

„Einen kleinen Moment. Ich melde mich sofort wieder. Ich schicke Ihnen gleich das Kennzeichen. So können wir uns nicht verfehlen.“

Liv legte auf und sprang aus dem Wagen. Wie sie gehofft hatte, stieg der Fahrer auch aus, als sie nach hinten lief. Schnell schoss sie ein Foto vom Kennzeichen und kriegte sogar noch den Mann mit drauf, als er wütend zum Heck des Wagens stapfte. Ihre Finger flogen über die Tastatur, und sie schickte das Bild an Oliver. Hoffentlich hatte sie wie immer vergessen, das Datenroaming auszuschalten. Sie war bereit, Tausende von Euro zu zahlen, wenn nur dieses eine Foto durch die Leitung ging.

Liv wählte die Nummer erneut. Jetzt ging nur Olivers Mailbox ran. Verdammt! Er hatte es nicht kapiert. Egal, weiter. Sie holte Luft. „So, da bin ich schon wieder. Nun haben Sie das Kennzeichen und den Wagentyp. Da der Fahrer auch mit drauf ist, sollten Sie uns am Airport schnell finden. Bis gleich!“ Liv legte auf. Sie schwitzte.

„Beatrice, sagst du bitte unserem Fahrer, dass wir von der Botschaft am Flughafen erwartet werden? Ich habe dem Mitarbeiter gerade Kennzeichen, Wagentyp und sogar ein Bild des Fahrers geschickt. Dann kann er uns nicht verfehlen.“

Beatrice’ Augenbrauen schossen in die Höhe, und dann verzog sich ihr Gesicht zu einem Grinsen. Prima, sie hatte verstanden. Gott sei Dank!

Beatrice übersetzte mit deutlich sicherer Stimme als vorher und erntete einen erst ungläubigen und dann hasserfüllten Blick im Rückspiegel. Er fuhr weiter und beschleunigte deutlich. Er holte das Telefon raus, wählte eine Nummer und wartete. Livs Herz raste. Sie zwang sich, langsam zu atmen und unbeschwert zu gucken. Komm schon, dreh um. Dreh um!

Der Fahrer fluchte. Er schmiss das Telefon auf den Beifahrersitz.

Beatrice beugte sich wieder nach vorne und sagte dem Fahrer etwas. Liv schaute sie fragend an.

„Ich habe ihm gesagt, dass es sehr freundlich von ihm war, dass er diese Abkürzung nehmen wollte, aber mir wird so schnell schlecht, wenn die Straßen so uneben sind. Daher kann er gerne auf die Autobahn zurückfahren. Wir haben es nicht so eilig, und ich will mich nicht in das teure Auto übergeben.“

Vorne versuchte der sichtlich nervöse Fahrer wieder zu telefonieren. Erfolglos. Er steckte das Telefon weg und machte eine Vollbremsung. Er wendete! Seine Kiefer mahlten.

Liv unterdrückte ein nervöses Kichern und nickte leicht in Beatrice’ Richtung. Die ließ sich in den Sitz zurücksinken und schloss die Augen. Ihre Hände zitterten. Egal, was Beatrice vor ihr verbarg, es hatte nichts mit Bögershausen und den Mädchen zu tun. So gut konnte niemand schauspielern. Ihre Angst war echt. Die Gewissheit machte sich in Liv breit wie das angenehme Brennen nach einem guten Wodka.

Liv und Beatrice standen neben ihrem Gepäck und sahen dem Wagen hinterher. Livs Beine waren wie aus Pudding. Beatrice atmete erleichtert aus. „Sag mal, was war denn das?“

„Ein Entführungsversuch?“

„Aber warum? Was soll der Zweck sein? Und wer steckt überhaupt dahinter?“ Beatrice betastete die Beule an ihrer Stirn, wo sie gegen die Fensterscheibe geknallt war.

„Vielleicht sind wir einigen Dingen zu sehr auf den Grund gegangen und werden als gefährlich eingestuft?“

Liv überlegte. Sollte sie oder sollte sie nicht? Seit Tagen grübelte sie über das ambivalente Verhalten von Beatrice und wollte eigentlich im Flugzeug in Ruhe darüber nachdenken, ob sie ihr vertrauen konnte oder nicht. Aber Beatrice steckte da nirgendwo mit drin. Da war sie sich jetzt sicher. „Ich hatte gestern Oxana doch noch gefunden. Nur sehr mühsam konnte ich sie überreden, dass sie mich begleitete und dass ihr an meiner Seite keine Gefahr drohte. Wir sind dann gemeinsam ins Hotel gefahren. Oxana hat am ganzen Körper gezittert. Sie kannte das Hotel durch Bögershausen. Gerade als Oxana mir alles erklären wollte, klopfte es und wir sind im Hotelzimmer überfallen worden.“

„Was? Warum hast du nichts gesagt? Wann war das?“

„Als du geklopft hast, war alles erst wenige Minuten vorbei. Was ich an der Tür in der Hand hatte, war kein Haarspray, sondern Reizgas. Ich dachte, dass die Kerle zurückgekommen seien. Oxana konnte über die Reling entkommen, hatte mir aber bis dahin zu wenig Details gesagt, als dass ich alles hätte verstehen können. Ich hatte ihr bei ihrer Flucht meine Nummer zugesteckt und bis zuletzt gehofft, dass sie sich noch meldet.“

In Liv kroch wieder die Sorge hoch bei dem Gedanken, was dem Mädchen seitdem alles passiert sein konnte. Hätte Oxana doch nur angerufen.

„Aber … aber … warum hast du kein Wort gesagt?“

„Ich war unsicher. Du kamst betrunken genau zu dem Zeitpunkt im Hotel an, als die Kerle gerade weg waren. Ich wusste nicht, ob du Teil dieses Systems bist.“

„Bitte? Ich fördere Zwangsprostitution und nehme Morde in Kauf?“

Liv seufzte. „Ich weiß. Jetzt klingt das alles ziemlich an den Haaren herbeigezogen. Tut mir leid.“

Beatrice schüttelte den Kopf. „Wie kommst du nur darauf?“

„Du hast Bögershausen verteidigt, warst sofort bereit, mit mir nach Kiew zu fliegen, und hast immer abgewiegelt, wenn ich glaubte, eine Verbindung gefunden zu haben. Du starrst immer wieder auf dein Telefon, und du wirst panisch, wenn du es irgendwo liegen lässt. Ich hatte das Gefühl, dass du auf Instruktionen wartest oder jemandem mitgeteilt hast, wohin wir unterwegs waren. Was sollte ich davon halten?“

„Die Anrufe, auf die ich wartete habe, waren rein privater Natur. Ich bin hier, weil ich fest an das Projekt glaubte und es für ausgeschlossen hielt, dass gerade da Zwangsprostitution betrieben wird. Was wäre das nur für eine Ironie? Was sollten die ganzen jungen Frauen denken, die zu Connect Positive kamen? Das war mein Baby, und nun soll das alles nichts wert sein, weil eine Journalistin falsche Schlüsse zieht? Ich musste mit dir hier herfahren, um zu sehen, was du vorhast. Ob du das Projekt nur benutzen willst, um dich zu profilieren.“

Beatrice war laut geworden und gestikulierte wild mit den Armen.

„Warum sollte ich das tun?“

„Meine Erkundigungen ergaben, dass du damals bei der Wettbetrugsrecherche Unschuldige an den Pranger gestellt hast, um den Skandal und damit deine Geschichte größer zu machen.“

„Beatrice, das stimmt nicht! Es fehlten auf einmal Beweise, die die Hintermänner enttarnt hätten. Ich stand da wie ein Idiot, weil irgendjemand seine Fäden gezogen hatte und wichtige Beweise unauffindbar waren, die ich aber mit meinen eigenen Augen gesehen hatte. Bitte glaub mir, dass ich nichts Unbewiesenes veröffentlicht hätte.“ Liv war baff, dass Beatrice ihr genauso misstraut hatte wie sie ihr. Aber wieso bekam Beatrice angeblich private Anrufe aus dem Gesundheitsministerium? Oder war das eine Lüge? Liv beschloss, das Thema erst mal ruhen zu lassen. Es gab Wichtigeres.

„Ja, mittlerweile tue ich das. Aber um das herauszufinden, musste ich mit dir hier herkommen. Vor allem glaube ich jetzt, dass hier etwas ganz furchtbar schiefläuft“, sagte Beatrice in Livs Gedanken hinein.

„Warum?“

„Hast du etwa den Fahrer bezahlt? Hast du schon mal ein Taxi gesehen, das, ohne den Fahrpreis zu kassieren, einfach weggefahren ist?“

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