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43. Oxana
ОглавлениеOxana war verzweifelt. Wo sollte sie nur hin? Und was sollte jetzt mit ihr passieren? Sie ging mit gesenktem Kopf durch die Straßen der Altstadt. Zwischen ihren Beinen hatte es gestern endlich aufgehört zu pochen. Beim Gehen scheuerte das getrocknete Blut an ihren Oberschenkeln. Sie hatte sich seit Tagen nicht richtig waschen können.
Von allen Schlafplätzen war sie im Morgengrauen mit Geschrei und Schlägen vertrieben worden. Dann schlich sie wieder durch die Stadt und wühlte in den Abfalleimern vor McDonald’s-Filialen. Meist fand sie etwas für den ärgsten Hunger. Wenn sie zu spät kam, wurde sie von den Obdachlosen vertrieben, die die Mülleimer schon in Beschlag genommen hatten.
Oxana war vorher nie aufgefallen, wie viele Polizeiwagen durch Kiew fuhren. Erst jetzt, da sie sich vor ihnen verstecken musste, kam es ihr vor, als patrouillierten sie überall. Ob Andrej die Polizei informiert hatte? Er wirkte immer so, als würde er sich nicht besonders für die Kinder interessieren. Nur wenn Besuch von den Deutschen kam, ging er strahlend durch die Räume und strich hier und da einem Mädchen übers Haar. Dann mussten sie alle ihre besten Sachen anziehen und lächeln. Das war wichtig, damit sich der Mann von der deutschen Behörde davon überzeugen konnte, dass sie sich freuten, wenn sie in sein Land durften, und dass alle fleißig die Sprache lernten.
Bei einem Rundgang hatte der Deutsche sie eigenartig angeschaut und ihr auch wie Andrej über den Kopf gestrichen. Nur bei ihr hatte er das gemacht, bei keinem der anderen Mädchen. Seine fleischige Hand war feucht und zitterte. Oxana zog sich der Magen zusammen. Sie hätte damals noch nicht sagen können, warum. Jetzt wusste sie es. Und jetzt durfte sie nicht nach Deutschland. Nie würde sie die Schule abschließen und eine Ausbildung machen können. Dabei hatte Günther, wie sie ihn nennen musste, gesagt, dass das ihr Geheimnis bleiben würde. Wenn sie niemandem etwas sagen würde, dürfte sie ihn in Deutschland sogar zu Hause besuchen. Sie konnte nichts dagegen tun, dass ihr die Tränen kamen. Er leckte sie ab. Dann steckte er seine Hand unter ihr Kleid. Ab da hatte sie sich geschworen, nie wieder zu weinen.
Oxana schüttelte sich, um die Bilder zu vertreiben, doch die waren wie in ihr Gedächtnis tätowiert. Mit diesen Bildern schlief sie ein und sie ließen sie Nacht für Nacht schreiend wieder aufwachen. Dann lag sie stundenlang wach und weinte. Wie sollte es nur weitergehen?
Ohne darüber nachgedacht zu haben, wohin sie lief, stand sie plötzlich vor einem Torbogen und blickte auf das rote Schild von Connect Positive. Nein, hier durfte sie nicht um Hilfe fragen! Sie schluckte und stolperte schnell an dem modrigen Durchgang vorbei, hinter dem sich die Hilfsorganisation verbarg.
An der Ecke hob sie den Kopf. Es dämmerte bereits. In den kleinen Geschäften, deren Waren aus einer Mischung aus billigen Elektrogeräten, Mobilfunkzubehör und Lebensmitteln bestanden, waren die Lichter aus. Vielleicht waren sie aber auch nie angeschaltet gewesen. Eine Staubschicht lag in einigen Schaufenstern wie grauer Puderzucker über den ausgestellten Plastikeimern und vorsintflutlichen Staubsaugern. Verblasste Pappschilder kündigten Schließungen an, die lange in der Vergangenheit lagen. Je weiter Oxana ging, desto mehr Läden lagen verlassen da. Die Häuser zeigten Risse, die sich wie Falten durch die Fassade zogen, nur unterbrochen von zugemauerten Fenstern. Die Mauer vor dem Fenster eines mit Graffiti besprühten Eckhauses war ins Innere gekippt, als hätte sie aufgegeben, das verfallene Gebäude vor Eindringlingen zu schützen.
Oxana kletterte hinein und landete in einem völlig entkernten Raum, dessen Zementboden unter zerbrochenen Flaschen, zerrissenen Kleidungsstücken und Zeitungen kaum zu erkennen war. Sie suchte sich einige Pappen heraus, die von der Feuchtigkeit noch nicht komplett mit Schimmel überzogen waren, und sammelte sie auf einer freien Fläche in der Mitte des Raumes. In den Ecken lauerten bestimmt die Ratten unter dem Abfall. Sie tastete sich im schwächer werdenden Licht des Abends über den knirschenden Boden durch eine Öffnung, die vor vielen Jahren mal eine Tür beherbergt hatte, hockte sich in eine Ecke und pinkelte. Es brannte kaum noch, und es sickerte kein neues Blut durch. Oxana zog die Hose hoch und ging wieder in den Raum zu ihren Schlafpappen zurück. Die größte Pappe klemmte sie ins Fenster und hoffte, dass sie so ein wenig Schutz vor der Kälte und vor Bettlern hatte, die ebenfalls auf der Suche nach einem Schlafplatz waren.
Gähnend rollte sich Oxana zu einer Kugel zusammen. Morgen findet sich eine Lösung. Ganz bestimmt. Morgen … Der Gedanke verflüchtigte sich beim Einschlafen wie der Rauch einer ausgeblasenen Kerze.