Читать книгу Thriller Collection I - Penelope Williamson - Страница 64
52. Liv
ОглавлениеEs klopfte an der Tür. Oxana zuckte zusammen. Helena hielt noch immer die Adresse in der Hand.
„Keine Sorge. Das wird der Schlüssel für euer Zimmer sein. Hier kann euch nichts passieren. Hier seid ihr sicher. Niemand kann wissen, dass ihr in Hannover seid.“ Liv öffnete die Tür und stand einer Hotelangestellten gegenüber.
„Guten Abend, hier kommen die Schlüssel für das Apartment 202.“
„Gab es kein normales Zimmer auf der siebten Etage?“, fragte Liv.
„Leider nein. Es ist Messe. Das Apartment ist nur frei, weil ein Gast heute früh storniert hat. Eigentlich war die gesamte zweite Etage von einer japanischen Firma angemietet worden. “
Auf keinen Fall würde sie die beiden in ein anderes Hotel bringen. Sie wollte, dass die Mädchen in ihrer Nähe blieben.
„Okay, Hauptsache, Sie haben überhaupt etwas frei. Vielen Dank.“ Liv griff nach dem Schlüssel, schloss die Tür und lächelte die beiden Frauen an. „Ich habe euch auch etwas zu essen aufs Zimmer bestellt. Danach werdet ihr schlafen wie die Murmeltiere.“
„Wie wer?“ Helena gähnte.
„Ist eine alte Redewendung, die sagt, dass ihr tief und fest schlafen werdet.“
„Aber wie geht es dann weiter? Wir können nicht zurück. Ich glaube, dass Andrej ahnt, dass ich etwas herausgefunden habe, und dass Gefahr droht.“
„Warum glaubst du das?“
„Das Heim wurde geräumt. Wir haben alle Urlaub bekommen und Medikamente für zwei Wochen.“
Liv nickte zerstreut und konnte ihr Gähnen auch nur noch mühsam unterdrücken. Sie musste dringend mal wieder normal schlafen. Dunkel erinnerte sie sich, dass Irina von Connect Positive ihnen erklärt hatte, dass die Frauen, die dort arbeiteten, infiziert waren und mit einer bewährten Therapie gut versorgt wurden. Moment mal! Geräumt? Was hatte Helena da grade gesagt? Sie schoss senkrecht aus dem Sessel.
„Geräumt? Helena, warum sagst du das erst jetzt? Was ist passiert?“
„Ich weiß es doch nicht! Die Mädchen wurden in einen Bus gebracht. Begleitet wurden sie nur von Andrejs Männern und unserer Chefin. Wir sollten zur Medikamentenausgabe kommen und sollen uns in zwei Wochen wieder melden.“
Was bedeutete das? Hatten die etwas gemerkt? Was hatte ihr Auftauchen bloß ausgelöst? Wohin wurden die Mädchen gebracht? Sie musste in dieses Gesundheitszentrum. Vielleicht waren da jetzt alle Kinder, und sie konnte endlich herausfinden, was da vor sich ging. In Deutschland durften nur Jungfrauen eine Ausbildung machen? Das hatte Oxana gesagt.
Liv griff nach dem Zettel mit der Adresse.
„Da ist das Gesundheitshaus?“
Helena nickte.
„Oxana, wie sah das Haus aus? Ist dir etwas Besonderes aufgefallen?“
Oxana schreckte aus ihrem Sessel hoch. Sie hatte tiefe Schatten unter den Augen und sah aus, als könnte sie sich kaum noch auf den Beinen halten. Kein Wunder, wenn ihre Welt in so kurzer Zeit völlig zusammengebrochen war und sie seit Tagen kein richtiges Bett mehr gesehen hatte. Sie rieb sich die Augen.
„Wir sind mit Bus durch Wald gefahren, lange Zeit. Dann nur noch kaputte Häuser, alte Zäune, kaum Menschen.“
„Wald? Mitten in Kiew?“
„Ja. Das Gesundheitshaus liegt irgendwo in Puschtscha-Voditsa“, ergänzte Helena.
„Puschtscha was?“
„Puschtscha-Voditsa ist ein sehr abgelegener Teil von Kiew. Früher waren dort unsere Afghanistan-Veteranen in Sanatorien untergebracht. Dafür ist schon lange kein Geld mehr da. Alle Gebäude verfallen. Dieses Land hat keine Verwendung für kaputte Randgruppen. Ich war erstaunt, als ich die Adresse bei Andrej fand. Was für ein komischer Ort für ein Gesundheitshaus.“
Liv holte ihr iPad aus der Tasche, loggte sich ins WLAN des Hotels ein und rief eine Straßenansicht des Stadtteils von Kiew auf. Die beiden Frauen rückten näher an sie heran und beobachteten, wie mit jedem Zoom der Wald und die abgelegene Siedlung deutlicher wurden.
„Bist du hier durchgekommen? Lass dir Zeit und schau es dir gut an.“
Oxana berührte den Bildschirm. Als das Foto der Satellitenansicht gemacht worden war, war zufällig eine gelbe Straßenbahn durch den Wald gefahren. Oxana nickte heftig, als sie das rostig gelbe Dach entdeckte. „Ja, ja. Ich bin sicher. Die Bahn fuhr lange durch den Wald. Ich hatte solche Angst, dass von irgendwo die Männer kamen. Es war nichts außer Bäumen.“
„An was kannst du dich noch erinnern? Lass uns eine Liste machen.“
Helena versuchte wieder, ein Gähnen zu unterdrücken und steckte den Zettel in ihre Hosentasche. Liv beschloss, noch eine halbe Stunde mit Oxana allein weiterzumachen, und dann hatten sich die Frauen eine Nacht in einem weichen Bett in Sicherheit redlich verdient.
„Helena, ich zeig dir schon mal das Zimmer. Dann kannst du duschen und dich fertigmachen. Oxana erzählt mir noch alles, was in dem Bus geschehen ist, und morgen nach dem Frühstück überlegen wir, was wir als Nächstes unternehmen. Okay?“
„Nein, nein. Ich warte.“
„Unter die Dusche könnt ihr eh nur nacheinander. Nutz doch die Zeit und entspann dich ein wenig. Es ist ein schönes Hotel und im Prospekt steht, dass fast alle Zimmer eine Badewanne haben. Wollen wir mal schauen, ob das stimmt?“ Liv zwinkerte.
„Oh! Ich habe noch nie gebadet.“
„Dann mal los. Komm, ich bring dich hin.“
Als Liv den beiden Mädchen das Zimmer aufgeschlossen hatte und Helena vor Freude über die riesige Wanne in die Hände klatschte, vergaß Liv ihr schlechtes Gewissen wegen ihres kleinen Tricks. Sie wollte Oxana gerne ohne den Schutz von Helena befragen. Und sie hatte Angst, dass die Mädchen urplötzlich wieder verschwinden könnten. Liv zeigte den beiden, wie das Licht im Zimmer angemacht wurde und wie sie sich in der kleinen Küche Kaffee kochen konnten.
„Eine Küche? Im Zimmer?“, staunte Helena.
„Wenn du ein paar Wochen im Hotel wohnst, kannst du dir statt Pizzabringdienst ein Steak braten. Dafür gibt es in Hotels extra kleine Apartments. So wie dieses hier“, erklärte Liv und zog ehrfürchtig ein Filetiermesser aus einem mit einer Schleife umwickelten Messerblock. Sie drehte das schwere Messer in der Hand und staunte über die Qualität.
Neugierig geworden, öffnete Liv die Einbauschränke und fand einen Präsentkorb, ebenfalls mit roter Schleife, der jede Menge Lebensmittel enthielt. Was musste man tun, um so ein Zimmer zu bekommen? Wenn sie mal länger in der Stadt war, würde sie nach genau diesem Zimmer verlangen.
Während Liv und Helena die Küche untersuchten, stellte Oxana ihre Tasche neben dem Bett ab, und dann ging sie mit Liv zurück in die siebte Etage.
Zurück in der Suite schrieben sie gemeinsam auf einen Zettel, was Oxana sich gemerkt hatte. Das automatische Tor, die orange Warnleuchte auf dem Zaun, die Gebäude und dass gleich dahinter der Wald anfing. Liv fühlte eine nagende Unruhe. Das Internat war geräumt worden. Wohin hatte man die Mädchen gebracht? Was passierte in diesem Gesundheitshaus? Sie musste zurück nach Kiew, wenn sie auf diese Fragen Antworten finden wollte.
Liv sah, dass Oxana am Ende ihrer Kräfte war. „Komm, ich bring dich auf euer Zimmer.“
„Ich kann das alleine. Die Nummer steht auf dem Schlüssel. Ich bin kein Baby mehr.“
Liv dachte daran, dass das Mädchen allein auf der Straße überlebt hatte, und kam sich albern vor, dass sie ihr nicht zutraute, ein paar Treppen im Hotel alleine zu gehen.
„Dann los. Schlaf dich ganz fein aus. Hier wird dir nichts passieren. Ihr seid in Sicherheit.“ Liv strich Oxana über den Kopf und sah ihr fest in die Augen. Oxana schluckte. Tränen traten ihr in die Augen.
„Ab ins Bett. Bis morgen.“ Sie sah dem Mädchen hinterher und suchte nach einem Kauknochen für Frieda, die verschlafen blinzelte, als Liv aufstand. Frieda streckte sich wie ein Puma und trottete zu ihr.
„Na du, Püppi. Möchtest du noch mal ein paar Tage zu deiner Mama und deinen Geschwistern?“, flötete Liv so hoch, dass sie husten musste. Die Hündin wedelte wie eine Maschine mit dem Schwanz und fegte dabei eine Tasse vom Tisch. Liv hob die Tasse auf, streckte sich und wollte nur noch duschen und schlafen. Jetzt sofort.
Sie gähnte, sprang für eine Minute unter die Dusche und wickelte sich in den flauschigen Bademantel. Frieda brachte ihren Kauknochen und legte ihn Liv vor die Füße, die gerade ihre Haare in einen Handtuchturban wickelte. Sie gab dem Knochen einen Tritt. Er rutschte über das Parkett in Richtung Tür und knallte dagegen. Gleich darauf klopfte es.
Ein Echo? „Frieda, sitz.“
Sie steckte das Handtuch am Kopf fest und ging zur Tür. „Hallo? Wer ist da?“
Stille.
„Hallo? Ist da jemand?“, fragte sie noch einmal. Livs Herz fing an zu rasen. Dann leiser: „Frieda, hierher.“ Die Hündin sprang mit einem Satz an Livs Seite und winselte.
Liv riss die Tür auf. Nichts. Kein Mensch. Frieda sprang auf eine im Flur kauernde Gestalt zu. Liv fuhr zusammen. Blut! Frieda winselte wieder und leckte dem Menschenbündel über das Gesicht. Es war Oxana! Liv hastete zu ihr. Sie schluchzte und zitterte. Ihr Mund ging immer wieder auf und zu. Die Augen waren weit aufgerissen.
„Oxana, was ist los?“ Liv fasste das Mädchen unter und sah noch mehr Blut. „Komm rein. Schnell!“ Sie knallte die Tür von innen mit dem Fuß zu und suchte Oxana nach Wunden ab. Da war nichts. Nur Blut. Liv nahm Oxanas Kopf in die Hände und versuchte, den Blick des Mädchens zu fixieren.
„Du musst mir sagen, was passiert ist!“
Oxanas umherirrender, panischer Blick fand Livs Augen.
„Helena! Helena tot. Überall Blut!“