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41. Liv

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Liv freute sich, wieder in ihrem Lieblingscafé zu sein. Sie bestellte beim Reinkommen direkt am Tresen das Gleiche, was sie zuvor bei Isolde aufgetischt bekommen hatte: Cappuccino und Erdbeerkuchen. Und dazu noch einen Wassernapf für den Hund. Mit dem nach Kaffee duftenden Tablett ging sie, dicht gefolgt von Frieda, in die erste Etage. Zum Glück saßen um diese Tageszeit nur einige in ihre Lektüre versunkene Zeitungsleser im Raum verteilt. Liv ließ sich in einen Sessel am Fenster fallen und schob den Wassernapf unter den Tisch. Frieda rollte sich unter dem Tisch zu einem Dobermann-Donut zusammen und seufzte.

Liv schickte sich die Fotos auf das iPad und vergrößerte die Bilder. Eine Gartenszene im Sommer, wo zwar keiner fröhlich guckte, aber immerhin die Sonne schien. Zwei Kinder, Isolde und ihre Schwester Mariana vermutlich, die außen wie von Torpfosten von zwei Erwachsenen umrahmt wurden. Die magere Frau, die dann wohl Isoldes Mutter war, hielt den Kopf gesenkt, ein geblümtes Sommerkleid hing an ihr herunter. Sie zeigte ein angestrengtes Lächeln, das bereits am Ende der Mundwinkel versiegte. Der Vater kniff die Lippen zusammen und stand militärisch gerade. Fehlte nur noch, dass er salutierte, dachte Liv und fühlte sich an Isoldes Haltung, die auf dem Foto sogar den gleichen Ausdruck wie ihr Vater hatte, erinnert.

Zwischen diesen drei asketischen Menschen wirkte das zweite Mädchen wie eine Hummel in der Gesellschaft von Gottesanbeterinnen. Mit drallen Beinen – das Kleidchen saß so eng, dass die Knöpfe es vorne nur mühsam zusammenhielten – schaute es finster in die Kamera. Ganz eindeutig hatte es vorher irgendwo abgebissen. Ein pummeliger kleiner Arm war hinter dem Rücken versteckt, und eine Wange wölbte sich nach außen. Liv schauderte, als würde sie die Kälte der Szene spüren.

Wenige, aber deutlich fröhlichere Schnappschüsse von sonnendurchfluteten Kindheitstagen hortete sie selbst in ihrer Wohnung. Sie erinnerte sich nicht mehr an die Details im Gesicht ihrer Eltern.

An ihrem ersten Kindergartentag grinsten sie alle absichtlich ganz breit, als der Fotograf sie ermahnte zu lächeln. Aber auf den für immer in einem Bild eingefrorenen Gesichtern fehlten Mimik und Gestik. Warf ihre Mutter den Kopf zurück beim Lachen? War die Stimme ihres Vaters ein tiefer Bass? Wie sah er aus, wenn er müde war? Wie ein zu oft gewaschenes Kleidungsstück wurde ihre Erinnerung immer durchscheinender. Aber sie vergaß nie die Wärme, mit der ihre Eltern sie umsorgt hatten, nie das Gefühl des absoluten Geborgenseins, nie den Geruch der Äpfel, wenn ihre Mutter Kuchen backte.

Und nie die Schreie, die nichts mehr mit menschlichen Stimmen gemein hatten, als das Feuer, angestachelt vom auslaufenden Benzin, gierig nach ihren Eltern griff. Kopfüber durch die Gurte im Wagen gefangen, hatten sie keine Chance. Liv war rausgeschleudert worden und lag im Gras. Die Szene hatte sich auf ewig in ihr Gehirn eingebrannt. Aus dem frontal in sie geprallten Wagen war ein Mann im Anzug herausgetorkelt. Er raufte sich die Haare und lief um das Auto herum.

Außer ihnen war niemand auf der Landstraße, auf der sie unterwegs an die See gewesen waren. Kurz vor dem Aufprall hatte Liv ihren Gurt geöffnet, weil ihr beim Singen das Bilderbuch runtergefallen war. Dann wurde alles schwarz. Bis sie im Gras neben der Straße lag und die gellenden Schreie sie aus ihrer Ohnmacht rissen. Und der torkelnde Mann, der immer wieder „Oh mein Gott, oh mein Gott“ schrie. Er sah sie, warf sich neben ihr ins Gras und schrie irgendwas mit hervorquellenden Augen. Livs Gehirn verstand nichts. Sie roch nur den Alkohol. Wie ganz selten bei Papa, der dann immer ins Gästezimmer musste und schnarchte wie ein Bierkutscher. So hatte Mama das immer lachend genannt. Dann wurde wieder alles dunkel. Danach war nichts mehr gut.

Liv fuhr zusammen. Ihr Bildschirmschoner lief. Der Kaffee war kalt. Sie blinzelte die Tränen und die unendliche Traurigkeit weg, die sie immer lähmte, wenn sie wieder und wieder den Unfall durchlebte. Mit ihrer Tante hatte sie in den Jahren Strategien entwickelt, mit denen sie aus dem dunklen Loch in ihrer Seele ins Licht zurückklettern konnte. Wie auf einer Leiter, bei der es mit jeder Sprosse nach oben heller wurde.

Liv aktivierte den Bildschirm und sah wieder auf das Familienbild von Isolde Züchner. Sie musste weitermachen, damit die Mädchen, die schon ihre Familien verloren hatten, nicht auch noch die Hoffnung auf eine Zukunft aufgaben. Noch hatte Oxana eine Chance. Hoffentlich war sie irgendwo in Sicherheit. Liv betete, dass das hier alles gut ausging.

„Oxana, wo bist du nur?“, murmelte sie vor sich hin.

In einem Zug trank sie den kalten Kaffee aus, befahl Frieda, unter dem Tisch liegen zu bleiben, und holte sich von unten Nachschub. Früher, als sie öfter alleine im Café gesessen hatte, war ihr die Selbstbedienung auf die Nerven gegangen. Mit einem Dobermann unter dem Tisch konnte man seine Sachen gefahrlos alleine lassen.

Was bin ich nur für ein Idiot, fragte sich Liv, als sie, zurück am Tisch, akribisch Foto für Foto studierte. Die Bilder, die sie von den Unterlagen gemacht hatte, verrieten ihr nichts außer Namen. Auf der ersten Seite standen die Vertragsparteien, Neofarmo und ein Dr. Pahl. Auf der letzten Seite, wo die gelben Zettel Livs Vermutung nach wichtige Inhalte anzeigten, standen die Unterschriftenfelder. Die Post-its sollten nur den Unterzeichnenden die Orientierung erleichtern. Mist! Nun wusste sie nichts, außer dass Isolde und ein Dr. Pahl Verträge unterschrieben hatten.

Liv gab den Namen im Internet ein und studierte Publikationen, Artikel und anderes medizinisches Kauderwelsch. Hans Pahl war ein Wissenschaftler, der für ein Pharmakonsortium in der Forschung arbeitete. Nachdenklich wählte sie Beatrice’ Nummer. Vielleicht wusste sie mehr über den neu aufgetauchten Namen.

„Hemme?“

„Beatrice, ich bin es, Liv.“

„Hallo meine Liebe, wie geht’s dem Polizisten?“ Beatrice lachte.

Oh! Oliver. Den hatte sie so weit nach hinten gedrängt, dass sie die Frage völlig überrumpelte.

„Ähm ... keine Ahnung. Gut, nehme ich an.“ Liv wollte gar nicht über diese Nacht nachdenken und sie erst recht nicht mit Beatrice besprechen. Dieser unselige Wodka!

„Ach, du hast mich also nicht angerufen, um mir von deinen unglaublichen Abenteuern zu erzählen?“

„Nein“, antwortete Liv. „Ich wollte dich fragen, ob dir der Name Hans Pahl etwas sagt, Dr. Hans Pahl.“

„Hans Pahl? Wie kommst du denn auf den?“

„Du kennst ihn also?“

„Kennen ist zu viel gesagt.“

„Aber du weißt, wer er ist?“

„Ja, na klar, obwohl es lange her ist. Er war ein Semester im Medizinstudium über mir, und wir besuchten einige gemeinsame Vorlesungen. Allerdings war er ein Besessener. Ich glaube, dass er sogar im Labor geschlafen hat, wenn er mit irgendwas beschäftigt war.“

„Hattet ihr Medizinstudis keine Partys?“

„Doch, haufenweise sogar. Aber da war er nie anzutreffen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich ihn je habe reden hören.“

„Ein stummer Spaßverweigerer?“

„Ja“, lachte Beatrice. „So in etwa. Wir nannten ihn die Laborratte. Das war nicht nett, aber treffend. Er sah leider auch so ein bisschen verhuscht aus, trug eine dicke Brille, die seine Augen winzig klein machte, und schlich mit Büchern und Petrischalen in der Hand durch die Lehrräume.“

„Weißt du, was aus ihm geworden ist?“

„Ich hatte seinen Namen irgendwo mal gelesen, aber frag mich nicht, worum es da ging. Allerdings kann ich ihn mir einfach nicht in einer Arztpraxis vorstellen, wo er trostspendend fiebersenkende Mittel verschreibt.“

„Er arbeitet in der Forschung und ist Facharzt für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie geworden“, las Liv vor.

„Das passt wunderbar. Keine Menschen, jede Menge Petrischalen und Mikroskope. Vermutlich schläft er immer noch im Labor. Ist er verheiratet?“

„Das steht hier nicht.“

„Wie bist du auf ihn gekommen?“

„Zufällig. Ich ackere mich ein wenig durch die Fachliteratur. Der Besuch bei Isolde war okay, aber nicht sonderlich ergiebig. Da bin ich ein bisschen auf Internetreise gegangen. Danke noch mal, dass du mich angekündigt hattest.“

„Ach? Du warst schon da? Wie fandest du sie?“

„Sie war so weit ganz freundlich, musste dann aber irgendwas erledigen und hatte keine Zeit mehr.“ Das war knapp! Aber am Telefon wollte sie Beatrice nicht von diesem seltsamen Besuch berichten. Beatrice schwärmte zu sehr von Isolde und ihren Wohltaten. Sie würde Livs Befürchtungen vermutlich absonderlich finden.

„Aber was hat das mit Hans Pahl zu tun?“

„Hans Pahl arbeitet in der HIV-Forschung.“

„Ach was! Ob der wohl immer noch so verhuscht ist? Heute hätten wir uns vermutlich ein bisschen mehr zu erzählen, wenn er in diesem Bereich forscht.“

„Meinst du, dass die Züchner ihn kennt?“

„Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Das hätte sie mal erwähnt. Aber in der HIV-Forschung arbeiten unzählige Teams, Universitäten, Konsortien und so weiter.“

„Erinnert er sich noch an dich? Was meinst du?“

„Oh ja, da bin ich mir sicher“, lachte Beatrice.

„Warum?“

„Ich hatte betrunken eine Wette verloren und musste ihn küssen. Wir haben uns ins Labor geschlichen, die anderen Mädchen haben ihn festgehalten und ich hab mich auf ihn gesetzt. Himmel, wie der geschaut hat. Das war ihm davor bestimmt noch nicht passiert.“

„Hast du Lust, ihn mal anzurufen und zu fragen, ob er mit uns essen geht? Du kannst ja sagen, dass dir der Kuss von damals immer noch im Gedächtnis geblieben ist und du ihn wiedersehen möchtest.“

„Wenn das mal klappt …“

„Küsst du so schlecht?“

„Er hat mich so gebissen, dass die Zunge mit zwei Stichen genäht werden musste.“

Thriller Collection I

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