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38. Liv

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Sein Wagen war gepflegt. Nirgendwo flogen Fast-Food-Verpackungen oder leere Coffee-to-go-Becher herum. Im Kofferraum des Mercedes-Kombi nagte Frieda zufrieden an ihrem Knochen. Allerdings hatte es einige Zeit gedauert, bis der ansonsten so disziplinierte Hund seiner Wiedersehensfreude ausreichend Ausdruck verliehen hatte. Sie war an Liv hochgesprungen, hatte gejault und ihr einen feuchten Kuss verpasst. So geliebt zu werden, fühlte sich gut an. Wenn nichts mehr blieb, die Zuneigung ihres Hundes war unerschütterlich. Der Polizist ließ sie beide nicht aus den Augen, und sie hatte immer mal wieder verstohlen zu ihm hingeschaut. Sie mochte diese hochgewachsenen Typen, die wie kernige Eichen in der Gegend standen.

Ab und an richtete sich Frieda auf und schaute über die Sitze. Sie wollte sich vergewissern, dass sich Liv auf dem Beifahrersitz nicht plötzlich in Luft auflöste. Das Schmatzen der Hündin war das lauteste Geräusch im Auto. Konnte Schweigen laut sein? Liv war irritiert. Es hatte sich etwas verändert, was immer auch dieses Etwas sein mochte. Zuerst hatten sie immer gleichzeitig die Stille mit Worten füllen wollen und wie bei einem Duett dann wieder gleichzeitig mitten im Wort abgebrochen, um dem anderen den Vortritt zu lassen. Danach fühlten sich alle Sätze wie falsche Noten an. Also schwiegen sie nun. Der Blinker riss Liv aus ihren Gedanken. Sie standen direkt vor dem Hotel am Thielenplatz.

„Da wären wir“, wagte sich Oliver mit einem Wortbeitrag vor.

„Ja, da wären wir.“

„Also dann …“

„Ja, also dann … bis nachher. 19 Uhr? Holen Sie mich ab?“

„19 Uhr, hier vor der Tür. Ich reserviere uns in der Nähe einen Tisch.“

„Guter Plan. Bis nachher.“

Liv holte Frieda und ihr Gepäck aus dem Kofferraum und brachte alles in die Suite. Der Gedanke an Oliver kreiste dabei durch ihren Kopf wie eine Roulette-Kugel. Sein Gesicht im Profil, sein Gesicht, als er sie und den Hund beobachtet hatte. Liv ließ die Kugel in Gedanken in die rote Dreizehn kullern und beschloss, dass das ein Gewinn war.

Sie zog sich die Laufsachen über, zog sich die graue Kapuze ihres Sweatshirts ins Gesicht und verließ mit Frieda das Hotel. Gemeinsam trabten sie durch die nun fast schon vertrauten Straßen der City an den Rand des Stadtwaldes.

„Sitz!“

Frieda ließ sich sofort auf ihr Hinterteil nieder, bebte aber vor Aufregung. Sie ahnte, dass es gleich auf eine wilde Hatz ging.

„Und los!“, rief ihr Liv lächelnd zu. Frieda schoss wie ein schwarzer Torpedo in den Wald hinein. Liv steckte die ausgestellte Laufhose in die Socken. Ein blauer Fleck war noch deutlich sichtbar, den sie sich zugezogen hatte, als sie bei einer morgendlichen Trainingseinheit in Frankfurt bei einem Sprung über eine Parkbank mit dem Hosenbein hängen geblieben und auf den Boden geklatscht war. War das alles erst wenige Tage her? Es fühlte sich an, als wäre das in einem anderen Leben geschehen.

Frieda war schon weit voraus, und Liv trabte ihr hinterher. Der Hund machte vor Freude wilde Bocksprünge und kläffte jeden Mülleimer an. Nach zwanzig Minuten Warmlaufen gab Liv das ersehnte Kommando. „Und hopp!“, feuerte sie die Hündin an. Frieda sprang sofort über die nass glänzende Parkbank und landete auf der Rückseite. Liv sprintete ihr mit großen Sätzen nach und fing die Landung durch eine tiefe Kniebeuge auf, nur um sofort weiterzusprinten. So jagten sie durch den Wald und sprangen über gestapelte Baumstämme, Gräben und abgeknickte Bäume.

Zum Ende ihrer Runde erreichte Frieda mit heraushängender Zunge einen hüfthohen Müllcontainer, aus dem umgedrehte Sektflaschen wie Holzscheite herausragten. Sie überflog ihn elegant. Liv sprang, stieß sich auf dem Container mit dem Fuß ab und wäre beinahe an den Flaschen hängen geblieben. Als sie mit wild klopfendem Herzen die Balance am Boden wiedergefunden hatte, vibrierte es in Höhe der Lendenwirbel. Nach kurzer Verwirrung griff Liv hinten unter ihrer Jacke in die Taschen des Sportshirts. Sie trug meistens Radtrikots, da die drei Fächer am Rücken Telefon, Schlüssel und Friedas Leckerlis sicher am Körper hielten.

„Mika?“, keuchte sie in den Hörer und versuchte, durch tiefes Atmen ihre Herzfrequenz zu beruhigen.

„Bist du entführt worden und konntest in dieser Sekunde fliehen? Das wäre die einzige Erklärung, die ich für deine Funkstille gelten lassen würde. Wir müssen reden!“

Oh, nein. Mike! Hätte sie mal besser aufs Telefon geschaut, bevor sie rangegangen war. Mike war zu Recht wütend und hatte sich Sorgen gemacht.

„Wie gut, dass ich die Rufnummer unterdrückt habe. Ich hatte den Verdacht, dass du vielleicht nicht rangegangen wärst.“

Okay, damit war das auch geklärt. Er meinte es ernst. Liv verlangsamte das Tempo und rief: „Fuß!“ Frieda stoppte im Lauf, als wäre sie gegen ein unsichtbares Hindernis geprallt, machte kehrt und reihte sich neben Liv ein.

Sie gab das Laufen auf und ließ sich auf die nächste Bank fallen. Frieda setzte sich vor Liv und beobachtete die Umgebung.

„Mike, lass mich dir erklären …“

„Nein, Liv. Lass du dir mal was erklären. Wenn du im Grunde gegen meinen Willen in so eine Geschichte eintauchst, dann hast du dich zu melden, mindestens einmal am Tag. Das ist wie eine Bewährungsauflage und kein freundlicher Hinweis.“

„Ich habe mich doch gemeldet.“

„Eine SMS schicken oder ein Anruf direkt auf meine Mailbox ist absolut nicht ausreichend. Das weißt du auch.“

„Ich konnte nicht gut telefonieren und wollte wenigstens, dass du weißt, dass es mir gut geht.“

„Wieder falsch. Du konntest sehr wohl telefonieren, wolltest aber nicht, dass ich nachfrage und dich womöglich von der Geschichte abziehe. Also bist du den einfachsten Weg gegangen: Einbahnstraßenkommunikation.“

„Mike, da steckt viel mehr dahinter als ein toter Staatssekretär. Da …“

„Ja! Ich weiß das. Aber deswegen sollst du deine Schritte mit mir absprechen. Ich will dich nicht in einem gekachelten Raum identifizieren müssen.“

Sie wusste, wann sie verloren hatte und die Strategie ändern musste. Mike hatte recht und Angst um sie. Das konnte sie nicht einfach wegwischen.

„Mike, es tut mir leid.“

Sie hörte, wie er scharf einatmete und dann die Luft wieder ausstieß. Es klang beinahe, als würde er mit seinem Hörer in einer Windböe stehen. „Na toll. Ich war noch lange nicht fertig. Aber wie soll ich mich in einen Wutanfall steigern, wenn du nach zwei Ohrfeigen alles sofort einsiehst?“

Liv lächelte. Sie liebte ihn dafür, dass er nie lange sauer sein konnte und beinahe jeden Ausbruch mit einer Portion Humor wieder in das Gatter ihrer Freundschaft einschloss.

„Es war wirklich blöd von mir. Aber die Geschichte hat sich so unterwartet entwickelt, dass ich einfach weitermachen musste. Ich konnte noch nicht zulassen, dass du mich zurückholst.“

Mike brummte etwas in den Hörer, und Liv gab ihm einen kurzen Abriss über die Ereignisse in der Ukraine. Sie erzählte von der mehr als unerwarteten Reisebegleitung durch Beatrice Hemme, der Besichtigung des seltsamen Internates und dem Finden und Verlieren von Oxana. Dass Oxana vor Einbrechern geflohen war, dass am nächsten Tag ihre Zimmer verwüstet worden waren und die seltsame Autofahrt ließ sie aus.

„Und warum ist das Mädchen weggelaufen?“, bohrte Mike am Ende ihrer Darstellung nach.

So leicht ließ er sich also nicht hinters Licht führen. Okay, dann kriegte er einen großen Teil der Wahrheit. „Es klopfte draußen, und wir hörten Männerstimmen. Da ist sie durchgedreht und durchs Fenster raus.“

„Aha.“

„Das muss man verstehen. Sie hat viel durchgemacht und mit Männern die schlimmsten Erfahrungen gemacht, und dann auch noch ihre Flucht aus dieser ominösen Gesundheitsstation ...“ Langsam, Liv. Je mehr du erklärst und ausschmückst, desto eher weiß er, dass da noch ein paar Details fehlen.

„Okay, belassen wir es erst mal dabei. Wie willst du weiter vorgehen?“

Liv fühlte, dass er nicht zufrieden war, aber immerhin bereit war, sie weitermachen zu lassen. Sie wusste, dass er sich zwar einerseits große Sorgen um sie machte, aber ihr andererseits auch blind vertraute. Dass die Situation gefährlich war, war ihnen beiden klar.

„Ich habe einen Interviewtermin mit Isolde Züchner. Das ist die Unternehmerin, die in Kiew das Waisenhaus finanziert. Ich möchte mehr darüber erfahren, warum sie das tut.“

„Hat sie mit der Sache etwas zu tun?“

„Ich werde sie zu ihrem außergewöhnlichen Engagement für junge Straßenmädchen interviewen und nach dem Heim fragen. Und dann mal sehen, wie das Gespräch läuft. Ich glaube es eigentlich nicht. Was sollte ihr Motiv sein?“

„Geld?“

„Glaub ich nicht. Ihr Pharmaunternehmen brummt und verdient gut mit den Patenten ihres Vaters.“ Liv machte sich in Gedanken eine Notiz, dass sie sich dazu vorab noch genauer informieren musste.

„Und diese Frau Dr. Hemme?“

„Die kam mir anfangs komisch vor, aber ich glaube, dass sie eine von den Guten ist. Es gab ein paar Situationen, in denen sie glaubhaft agiert hat.“

„Was heißt das denn?“

„Waren nur Kleinigkeiten. Erzähl ich dir, wenn wir uns sehen und mir nicht so kalt ist.“ Die eng stehenden Bäume ließen die Sonne nur als kleinteiliges Muster durch die Blätter bis auf den Boden strahlen. Beim Laufen war es angenehm kühl. Die Waldrunden hatte sie an dieser Stadt immer geliebt. Aber jetzt im Sitzen fröstelte Liv.

„Rufst du mich nach dem Züchner-Interview an?“

„Ja, aber reiß mir nicht den Kopf ab, wenn das nicht heute oder morgen ist. Ich weiß ja nicht, wann ich eine Audienz bekomme.“

Mit einem Frottee-Turban um die nassen Haare hockte Liv auf dem Bett der Hotel-Suite. Frieda hatte sie beim Duschen in der verglasten Kabine beobachtet und von außen versucht, die Tropfen abzulecken. Wenn Liv den Strahl frontal auf die Glasscheibe gerichtet hatte, war sie mit einem Satz zur Seite gesprungen und hatte laut gebellt. Sie war definitiv kein Wasserhund. Beleidigt war sie aus dem Schlafzimmer getrottet, in dem als Designelement auch die Dusche integriert war, und hatte sich im Wohnzimmer vor die bodentiefen Fenster gelegt.

Anfangs war sie noch misstrauisch gewesen, weil es wirkte, als würde man ohne Sicherung an der Brüstung im siebten Stock eines Hauses stehen. Liv hatte gegen die Scheibe geklopft, Frieda hatte den Kopf schief gelegt und sie beobachtet. Dann wurde sie mutiger und stupste mit der Schnauze dagegen. Danach hatte der Hund die Lage als sicher eingestuft und lag nun direkt davor, um die Menschen, die aus der Höhe wie die wuselnde Belegschaft einer Modelleisenbahn aussahen, bei ihrem Treiben zu beobachten.

Liv legte sich derweil einen Ordner „Oxana“ auf dem iPad an und kopierte aus ihrer Cloud alle Inhalte darauf. Nun schob sie fortwährend Dateien in den neuen Ordner hinein, die sie im Internet nur überflogen hatte und die ihr interessant erschienen. Die Überschrift Selbstmord eines Staatssekretärs fiel ihr sofort ins Auge. In Kiew hatte sie die Berichterstattung kaum verfolgen können. Sie las den Artikel und war erstaunt, dass es für die Polizei völlig klar zu sein schien, dass Bögershausen sich erhängt hatte. In diesem Artikel war sogar von einem Abschiedsbrief die Rede. Liv wurde flau im Magen. Wo sollte der denn gelegen haben? Und wen hatte sie dann oben im Haus gehört? Oder hatten ihre Sinne ihr einen Streich gespielt? Auf den Bildern auf ihrem Blackberry war nirgends ein Brief zu sehen. Er konnte aber ja auch auf seinem Rechner gewesen sein oder in seiner Hosentasche.

Liv schob den Artikel in den Ordner. Später war für dieses Rätsel auch noch Zeit. Sie gab neue Suchbegriffe ins Netz ein. Neofarmo bleibt in Familienbesitz, Patente bescheren deutschem Pharmaunternehmen Umsatzsteigerung und Deutsche Unternehmerin verstärkt ihr Engagement im Kampf gegen AIDS lauteten die Schlagzeilen der Berichte. Liv blinzelte. Warum konnte sie sich nicht auf die Artikel konzentrieren? Weil ich mit meinen Gedanken woanders bin, gestand sie sich ein.

Okay, eins nach dem anderen. In einer halben Stunde steht unten der Herr Klauenberg, um mich auszuführen. Ist das etwa ein Date? Was mache ich dann noch auf diesem Bett? Sie schob alle Unterlagen zur Seite, sprang herunter und tappte barfuß zu dem riesigen Spiegel, der gemeinsam mit einem knallbunten Waschbecken und Frotteewaren das Badezimmer darstellen sollte.

Als Liv das Zimmer bezogen hatte, war sie beruhigt, dass wenigstens die Toilette blickdicht war. Privatsphäre war ihr besonders wichtig, seitdem sie wusste, wie beschämend der Verlust selbiger war. Die Dusche direkt neben dem versteckten Klo erinnerte Liv an eine futuristische Bushaltestelle. Immerhin war der Schrank als solcher in der Wand zu erkennen, und sie fand schnell ihre Standardausrüstung: Jeans und Pulli.

Liv föhnte sich die blonden Haare trocken und musterte sich im Spiegel. Ihr Haaransatz zeigte noch kein verräterisches Braun. Beim Durchforsten ihres Kulturbeutels stieß sie auf ein Etui. Oh, die Brille! Sie hatte sie seit der Zugfahrt nicht mehr aufgesetzt. Dabei kaschierte sie gut ihre alte Verletzung. Ob er schlecht verheilte Nasenbrüche mochte? Das knirschende Geräusch, als der Tritt auf ihrer Nase landete, hatte sie lange in ihren Träumen verfolgt. Aber es erinnerte sie auch daran, niemals aufzugeben. Liv ließ ihren Finger über den Höcker auf dem Nasenrücken gleiten und warf das Brillenetui zurück in den Beutel. Egal, was er mag, ich mag es ohne. Schnell überschminkte sie mit ein wenig Abdeckstift die Schatten unter den Augen und komplettierte die Sparversion eines Make-ups mit Puder und Mascara. Frieda tappte von ihrem Spähposten zurück ins Bad.

„Püppi, du bewachst heute Abend das Zimmer, nicht mich. Okay?“ Liv lachte, als der Hund den Kopf zur Seite neigte. Mit einer etwas höheren und überschwänglichen Stimme fügte sie an: „Und morgen fahren wir zum Tierarzt und schläfern alle Hunde im Viertel ein. Nicht wahr?“

Begeistertes Schwanzwedeln war die Folge. Frieda umkreiste Liv hechelnd und mit rotierendem Hinterteil, um ihr zu zeigen, dass das eine prima Idee war. Sie sah aus, als würde sie mit sich selbst Lambada tanzen.

„Von wegen Hunde verstehen alles, was man sagt …“, gluckste Liv. Sie füllte den Napf der Hündin und verließ ihr Zimmer.

Er saß in der Minibar neben der Rezeption und bekam soeben einen Espresso serviert. Cool und muskulös sieht er aus, registrierte Liv. Er trug Jeans und ein langarmiges Shirt, unter dem sich seine Armmuskeln deutlich abzeichneten. Sie ging auf ihn zu. Er lächelte. Dabei hatte er hundsattraktive Falten um seine Augen, die Liv vorher nie bemerkt hatte. Hatte er überhaupt in ihrer Nähe schon mal gelächelt?

„Hallo, Frau Mika, Sie sind sehr pünktlich.“

„Hallo, Oliver, können wir das Siezen nun beerdigen? Ich bin vermutlich älter, vermutlich nicht mehr tatverdächtig, und es fühlt sich falsch an.“

„Gern.“

„Gut, dann wäre das erledigt. Haben wir noch Zeit für einen schnellen Cappuccino?“

„Sicher.“

Eine Kellnerin näherte sich und Liv bestellte.

„Wo gehen wir hin?“

„In die Diva.“

„Diva? Anspielung, Versehen oder Zufall?“

„Gutes Essen.“

„Ach so.“

„Wir können zu Fuß gehen, wenn Sie … pardon, wenn du magst.“

Liv zahlte die beiden Getränke und nippte an ihrem Cappuccino. Keiner sprach. Oliver trank seinen Espresso und beobachtete sie dabei. Liv wurde unbehaglich, und sie nahm zwei schnelle Schlucke. Verflixt, war das heiß.

Sie stand auf und schaute Oliver an. „Kommst du nicht mit?“

Er blickte auf ihre Tasse. „Doch, aber du hast noch gar nicht ausgetrunken.“

„Das mache ich nie.“

„Ach. Warum?“

„Als ich vor Jahren mal mit einer Affäre nachmittags in einem Café saß, lag am Boden meiner Tasse ein Verlobungsring. Das will ich nie wieder erleben.“ Kaum waren die Sätze raus, mit denen sie jedem Beziehungswilligen gleich die Richtung vorgab, hätte sie sich auf die Zunge beißen können. Das war Jahre her. Und sie hatte eine Ewigkeit nicht mehr an diese peinliche Szene gedacht. Warum kam ihr das jetzt in den Sinn? Wie blöd war sie nur? Was sollte er jetzt denken? Ihr Gesicht glühte vor Peinlichkeit. Oliver schaute zu Boden und schwieg.

Als sie im Restaurant angekommen waren und sich setzten, bemerkte Liv ihren bohrenden Hunger und entschied sich für drei Gänge. Als Oliver sie darauf hinwies, dass die Portionen nicht so üppig waren, erhöhte sie auf fünf, was er mit einem schallenden Lachen quittierte. Das ließ die eigenartige Verstimmung nach ihrem blöden Abwehrspruch wie eine Seifenblase zerplatzen. Liv beobachtete die Wandlung, die sein Gesicht beim Lachen machte, und grinste.

Ihr Gespräch war jetzt wesentlich unverkrampfter als noch vor ein paar Stunden im Auto. Doch sie beide schienen vergessen zu haben, dass der eigentliche Grund für dieses Treffen Livs Trip nach Kiew war. Die Luft knisterte. Sie sprachen über Hunde im Allgemeinen und Frieda im Besonderen. Liv unterhielt ihn mit allerlei Anekdoten über ihre Hündin. Ihr war klar, dass sie sich bremsen musste, um nicht den ganzen Abend von den weichen Ohren, dem stolzen Gang und der bedingungslosen Zuneigung von Frieda zu erzählen, die sie so liebte. Oliver unterbrach sie nicht. Er vermied es offensichtlich, über die Ermordung von Edgar zu sprechen. Liv war jedoch neugierig und wollte mehr wissen. Sie hatte das Gefühl, dass ihr die Zeit davonlief, und warf einen Blick auf ihre goldene Uhr.

Oliver beobachtete sie und zog die Augenbrauen hoch. „Eine Rolex? Das hatte ich nicht erwartet.“

„Es ist ein Erbstück und so ungefähr das Einzige, was ich aus Gold besitze. Sie erinnert mich an meinen Vater und ist daher eine Art Glücksbringer.“ Was erzählte sie da nur? Ihre chaotische Vergangenheit ging den Polizisten nun wirklich nichts an. Schnell wechselte sie das Thema. „Seid ihr mit dem Mord an Edgar weitergekommen?“

„Nicht wirklich. Wir wissen, dass es nicht dein Hund war, kennen die Rasse und das Geschlecht des anderen Hundes, und wir wissen, dass er nicht daran gestorben ist.“

„Sondern?“

„Sein Auge wurde bis in den Hirnstamm hinein durchbohrt, und ein Stich ins Herz erledigte den Rest. Die Hundebisse erfolgten postmortal.“

Hoppla! Durfte er ihr das einfach so erzählen? Oder war das ein Test, ob er ihr vertrauen konnte?

„Was soll das mit dem Auge? Ist das etwas Symbolisches? Wenn schon Messer, warum dann nicht nur ins Herz? Edgar muss furchtbare Schmerzen durchlitten haben. “

„Wer sprach von einem Messer?“

„Kein Messer?“

„Kein Messer.“

„Was dann?“

„Tut mir leid. Das ist Täterwissen. Dazu darf ich dir nichts sagen. Das haben wir auch nicht veröffentlicht.“

Liv überlegte und griff in ihre Tasche. Sie legte ihren Blackberry mit dem Bild von Bögershausen und Oxana vor Oliver auf den Tisch. Der griff blitzschnell danach und nahm ihn vom Tisch.

„Was …?“

„So, hier kommt schon der dritte Gang“, rief die Kellnerin und platzierte appetitlich angerichtete Jakobsmuscheln direkt vor Liv und Oliver. „Vorsicht, die Teller sind sehr heiß.“

„Deswegen“, sagte Oliver und betrachtete das Bild unter dem Tisch. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Sein Lächeln verschwand sofort, als hätte es jemand ausgeschaltet. Er gab ihr das Smartphone zurück.

„Den kenn ich doch!“

„Das ist Günther Bögershausen.“

„Unser Selbstmörder? Kanntest du ihn auch? Wer ist das Mädchen auf dem Bild?“

„Ja, ich kannte ihn von früher aus meiner Zeit hier in Hannover. Das Mädchen heißt Oxana und ist der Grund, warum ich mit Beatrice nach Kiew geflogen bin.“

Liv fühlte sich unwohl unter dem Blick von Oliver, der nun wieder mehr Polizist als ein Date war. Hoffentlich bemerkte er die Notlüge mit Bögershausen nicht.

„Hast du ihn vor seinem Tod noch gesprochen?“

„Ja, aber nur am Telefon.“

„Worum ging es in dem Gespräch?“

Nein, das konnte sie ihm nicht sagen. Dann müsste sie auch zugeben, dass sie im Haus gewesen war. Livs Gedanken hangelten sich durch die Möglichkeiten. Er ließ sie nicht aus den Augen.

„Ich wollte ihn zu dem Bild befragen, aber er hat mich brüsk zurückgewiesen und mit Anzeige gedroht.“

„Das macht Sinn. Zu dem Zeitpunkt schienen auch schon andere von seinen pädophilen Aktivitäten gewusst zu haben, und er hatte vermutlich Sorge aufzufliegen.“

„Pädophile Aktivitäten?“

„Ja, natürlich. Was denkst du denn?“

„Oxana ist zwar jung, aber voll entwickelt. Das ist eher ephebophil.“ Liv hatte sich das Wissen, das sie von Beatrice erworben hatte, gut abgespeichert.

„Effe-was?“

„Ephebophil. Das kommt gewissermaßen nach pädophil. Die Pädos sind die mit der Neigung zu Kindern weit vor der Pubertät. Die Männer, die auf Epheben stehen, sind die, die nur bei beginnender Schambehaarung und Brustknospen können. Quasi ganz am Anfang der Pubertät.“

„Na, der Bögershausen war aber eindeutig eher ein Pädophiler! Wir haben Unmengen von Material bei ihm zu Hause gefunden. Dem war es auch egal, ob Mädchen oder Jungen. Hauptsache Kinder.“

Wie passte das denn zusammen? Wenn man eine sexuelle Neigung hat, dann wechselt man die doch nicht wie seine Unterhosen? Jung, ganz jung, Junge, Mädchen? Immer alles durcheinander?

„Wir werden das wohl nicht mehr aufklären können.“ Liv wollte dringend das Thema beenden.

„Ist sicher eine schwere Bürde, so eine sexuelle Störung.“

„Und, welche Störung bereitet dir Probleme?“ Was für eine plumpe Überleitung, schauderte Liv. Die Frage war raus, bevor sie darüber nachdenken konnte.

„Ähm ... keine. Also, meines Wissens nach. Es hat mich bisher jedenfalls noch keine Frau auf etwas Abnormes hingewiesen.“

Oliver wurde tatsächlich rot. Dieses Gespräch ging eine völlig andere Richtung als erwartet.

Leicht beschwipst näherten sie sich dem Hotel. Ob er denkt, dass ich ihn mit aufs Zimmer nehme? Allein der Gedanke löste ein Prickeln in ihrem Bauch aus, und das war nicht nur auf das warme Gefühl des Wodkas in der Blutbahn zurückzuführen. Dieser Mann roch einfach zu gut. Frisch und männlich. Wie er geschaut hatte, als die Bedienung gefragt hatte, welchen Wein sie denn zum Fisch nehmen wollten, und Liv geantwortet hatte: „Wodka.“

Er hatte kurz gegluckst und dann mit todernster Stimme ergänzt: „Für mich auch, bitte.“

Fünf Gänge, fünf Wodka. Ob ich wohl lalle? Oliver war nichts anzumerken. Er drehte sich zu ihr um und lächelte. „Grüßt du Frieda von mir?“

Frieda! Sie musste dringend noch mal raus. Wie spät war es? Liv schaute auf ihre Uhr. Mitternacht!

„Auweia. Ich habe für Stunden meinen Hund völlig ausgeblendet. Sie muss noch mal vor die Tür.“

„Jetzt? Oha. Da begleite ich dich aber. Wir sind hier schließlich in einer Großstadt.“

Nach Kiew erschien ihr Hannover zwar wie ein friedliches Dorf, aber so konnte sie die Zeit mit ihm noch ein wenig verlängern.

Frieda freute sich, als sie Oliver vor dem Hotel sah, und nach einer Runde um den Block standen sie wieder an ihrem Ausgangspunkt.

Ich bin in einer Zeitschleife gefangen, dachte Liv.

„Ich bring euch noch hoch, okay? Bin sehr neugierig, wie der Hotelumbau gelungen ist.“

Liv schluckte. Ihr Herz schlug einen Salto. „Klar, kein Problem.“

Sie betraten die winzige Lobby.

Thriller Collection I

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