Читать книгу Thriller Collection I - Penelope Williamson - Страница 63
51. Liv
ОглавлениеOliver meldete sich auch den Rest des Tages über nicht mehr. Liv kontrollierte halbstündlich ihr Telefon. Ihre Gedanken stolperten über die Frage, ob sie sauer war, weil er sich nicht meldete oder weil ihr das etwas ausmachte.
Abends war sie das Grübeln leid und brauchte dringend frische Luft. Als sie mit Frieda aus dem Hotel trat, vernahm sie ein Schluchzen. Liv blickte sich suchend um. Eine blond gefärbte Frau, deren brauner Ansatz den Scheitel bereits um eine Handbreit erobert hatte, streichelte über den Kopf eines Mädchens, das hemmungslos weinte.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte Liv und fasste Friedas Leine kürzer.
Das Mädchen wischte sich mit dem Ärmel den Rotz von der Nase und drehte sich um. „Liv! Liv! Du bist es!“
Oxana! Wie kam sie denn hierher? Und wer war die Frau? Die kannte sie doch irgendwoher?
„Ja … hallo! Oxana!? Das gibt’s ja nicht! Geht es dir gut? Wo warst du? Wie bist du nach Hannover gekommen?“
Liv stiegen vor Erleichterung Tränen in die Augen. Am liebsten hätte sie gleichzeitig gelacht und geweint.
Die fremde schlanke Frau schaute von Liv zu Oxana und hob die Augenbrauen, die zu einem schmalen, großen Bogen gezupft waren. Liv schätzte sie auf den zweiten Blick viel jünger ein als bei der ersten flüchtigen Betrachtung. Ihre Augen waren die einer alten Frau. Gütig und gleichzeitig resigniert. Die junge Frau lächelte. Jetzt erkannte Liv die Frau. Herrje, war sie denn völlig blind?
„Helena! Sie?“, rief Liv aus.
Helena nickte nur und lächelte wieder. Die beiden mussten völlig kaputt sein. Da entdeckte Liv auch die zwei kleinen Reisetaschen aus abgeschabtem Kunstleder. Liv ließ Frieda sich hinsetzen.
„Wir sind gekommen mit dem Nachtzug aus Kiew. Helena hat Freund in Bahn. Alles Geld wollte Freund haben. Hat uns an Grenze in leeren Abteil versteckt“, erklärte Oxana, während ihre Tränen gar nicht mehr versiegen wollten.
„Wie hast du mich gefunden? Warum hast du nicht angerufen? Ich habe mir solche Sorgen gemacht!“
Oxana verschluckte sich beim Weinen und hustete.
„Oh, Kleines. Entschuldige. Ich überfalle dich mit Fragen, und ihr seid bestimmt furchtbar hungrig und müde. Kommt mit ins Hotel. Frieda, lauf.“ Die Hündin stand auf und trottete an Livs Seite zurück zum Hotel.
„Hier wohnst du?“, fragte Oxana, als sie auf den Lift warteten. „Wir gefragt. Frau am Eingang sagt, dass du nicht mehr da bist.“
Mist. Sie wäre niemals darauf gekommen, dass Olivers List auch Oxana von ihr fernhalten könnte. Oxana wusste ja, dass sie in Hannover war, überlegte Liv. Aber woher wusste sie, in welchem Hotel?
„Das war ein Trick, damit ich hier unerkannt wohnen kann. Aber woher wusstest du, dass ich hier wohne?“, fragte Liv und schloss die Tür zur Suite auf.
Oxana kramte in ihrer Jackentasche und hielt ein leeres Hotelpröbchen hoch. „Die standen in Kiew alle in deinem Bad und rochen so gut. Ich hatte eines in Hand, als Männer kamen. Ich hatte es noch in meine Hand, als ich abends einschlief.“
„Warum hast du nicht angerufen?“
„Dein Zettel war weg. Ich hatte in eine Hütte vom Hydropark geschlafen, und dann war Zettel weg.“
„Du bist auf der Insel geblieben? Aber warum bist du nicht zurückgekommen? Ich habe überall nach dir Ausschau gehalten. Ich hätte dich versteckt.“
„Ja. Ich hatte so große Angst, dass Männer warten.“
„Hast du das Hotelschiff beobachtet? Hast du jemanden gesehen, den du kanntest?“
Oxana nickte. „Ja, Mann an Rezeption kam oft raus zum Rauchen. Freund von Andrej. Und dann … “
„Der finstere Typ am Tresen gehört zu Andrej? Ach, das hätte ich mir denken können. Diese Schweine.“
„Du nicht Freundin von Andrej?“
„Aber nein. Wie kommst du denn darauf?“
„Ich bin wieder zum Hotel und wollte warten bis dunkel. Da kamst du mit anderer Frau mit Koffern raus. Ihr habt gewartet. Ich konnte nicht kommen, weil Männer vom Hotel an Schranke standen. Dann kam Auto mit Fahrer. Gleiche Fahrer wie Bus zu Gesundheitshaus! Und ihr seid eingestiegen. Ich bin weggerannt und wusste nicht, wohin. Ich hatte große Angst. Auch ihr nicht helfen.“
Der Fahrer gehörte auch zu Andrej! Sie hätte auf ihr Bauchgefühl hören sollen. Dieses Miststück vom Hotel hatte tatsächlich einen falschen Fahrer bestellt. Das gab’s doch nicht!
„Oxana, ich wusste nicht, dass das kein normales Taxi war. Wir hatten extra das Hotel reservieren lassen, damit wir einen verlässlichen Fahrer bekommen. Wenn ich geahnt hätte …“ Liv schüttelte den Kopf. Nun ergab so einiges einen Sinn. Aber warum hätte der Fahrer sie entführen sollen oder gar Schlimmeres?
Sie holte Schokoriegel, Chips und etwas zu trinken aus dem Kühlschrank und versorgte die beiden Frauen. Gierig biss Oxana ein Stück vom Schokoriegel ab und spülte alles mit Orangensaft herunter. Liv fing den liebevollen Blick von Helena auf, die etwas Tröstliches auf Russisch murmelte, und wartete, bis Oxana alles aufgegessen hatte.
„Oxana, was wisst ihr über das Heim und über diesen Ort, den du Gesundheitshaus nennt? Fragst du bitte Helena? Was war im Heim los?“
„Ich kann selber antworten“, sagte Helena mit einem russischen Akzent. Sie sprach Deutsch? Liv klappte der Unterkiefer herunter.
Helena lächelte und wirkte auf einmal müde. „Ich habe fast zwei Jahre bei einem deutschen Journalisten gelebt. Er kam als Korrespondent in die Ukraine und nach Russland, um für deutsche Zeitungen von den großen Fortschritten nach der Orangen Revolution zu berichten. Europa war damals noch euphorisch und sehr neugierig, wie sich der Osten dem Westen annähern würde. Wenn er in Moskau war, passte ich auf seine Wohnung auf und verschlang alles, was ich auf Deutsch in die Finger bekam. Ich wollte eure Sprache lernen, damit er sich mit mir nie schämen musste und mich vielleicht mit in seine Heimat nahm. Ich schaute stundenlang deutsche Filme, wenn ich bei ihm alleine war. Wenn er zurück war, gab ich ihm Sex, er lehrte mich die Grammatik und Feinheiten eurer Sprache.“
„Was ist dann passiert?“
„Das, was immer passiert. Nach zwei Jahren war seine Zeit im Osten vorbei, er wurde zurückbeordert und kehrte heim zu seiner Familie.“ Helena kniff die Lippen fest zusammen und zuckte mit den Schultern. Ihr lakonischer Ton konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Risse in ihrem Herzen noch lange nicht verheilt waren.
„Helena, wie alt bist du?“ Liv rechnete in Gedanken.
Helena lächelte nachsichtig. „Ich war damals schon volljährig. Das war zumindest das, was er hören wollte.“
Bei Helena schien sich alles zu bestätigen, was Liv von Irina und Beatrice erfahren hatte.
„Wie ging es für dich weiter?“
„Ich hatte keine Bleibe mehr, lebte auf der Straße, verkaufte mich, aber nicht mehr für eine Sprache, sondern für Geld. Irgendwann vergaß ich zu essen, hatte keine Vene mehr frei für Schirka …“
„Schirka? Was ist das?“
„Wir haben alle Schirka oder Kompott gespritzt. Euer Heroin kann sich bei uns in Kiew niemand leisten. Schirka wird an unzähligen Stellen am linken Ufer aus Opiaten hergestellt. Einmal blasen und schon hatte ich für Tage genug.“
„Linkes Ufer?“ Je mehr Helena berichtete, desto mehr Fragen fielen Liv ein.
„Das rechte Ufer des Dnjepr gehört den normalen Leuten. Die, die für eine Behörde arbeiten oder jemanden kennen. Links sind die Trabantensiedlungen, wo die Drogen hergestellt werden, wo es kriminell ist, wo geschossen wird. Nirgendwo anders konnte ich hin, als Stephan zurück nach Deutschland ging.“
„Stephan? Das war der Journalist? Wie hieß er weiter?“
„Klein.“
„Stephan Klein?“ Liv hoffte, sich verhört zu haben. Helena meinte doch wohl nicht Kasachstan-Klein? So hatten sie ihn in der Redaktion immer genannt. Er sollte damals für drei Monate im Osten bleiben, es wurden zwei Jahre daraus. Er überzeugte alle in der Redaktion, dass er länger bleiben musste, weil in Kiew und Moskau gerade Zeitgeschichte geschrieben würde. Nach zwei Jahren hatte die Chefredaktion genug und beorderte ihn zurück.
Liv kannte Stephan Klein kaum. Sie war damals Volontärin bei der gleichen Tageszeitung gewesen und hatte von Mike ihr Handwerk gelernt. Als Mike erkannte, dass ihr die Wirtschaftsthemen lagen, hatte er sie nach dem Volontariat übernommen und ihr den letzten Feinschliff verpasst. Sie blieb bei ihm, bis er nach Frankfurt wechselte. Den Klein traf sie nur hin und wieder auf dem Flur. Er hatte sie stets wie etwas behandelt, das einfach nur da war. Mit völliger Gleichgültigkeit. Sollte das der Stephan sein, von dem Helena berichtete? Mike hatte sie gewarnt, dass er zwar ein hervorragender Schreiber sei, aber auch berüchtigt für seine Affären. Die Warnung hätte er sich schenken können. Stephan Klein hatte sie nicht mal wahrgenommen.
Helenas Körper straffte sich. „Kennst du ihn?“
„Nein, ich glaube nein. Mir kam nur der Name kurz bekannt vor.“ Sie wollte später herausfinden, was aus Stephan Klein geworden war. Vielleicht würde er sich freuen, Helena zu sehen? Aber sie wollte nicht Schicksal spielen, sondern erst mit ihm reden. Am Ende erinnerte er sich kaum noch, und Helena würde wieder enttäuscht werden.
Helena sackte in sich zusammen. Sie seufzte. „Irgendwann gingen Leute von Connect Positive durch das Viertel und verhinderten, dass sich betrunkene Männer auf mich stürzten. Meine Sachen hingen schon in Fetzen herunter. Sie nahmen mich mit. Ich machte einen Entzug, wurde rückfällig, als ich erfuhr, dass ich HIV-positiv war, machte den nächsten Entzug, und sie boten mir an, eine Stelle zu finden, wenn ich meine Sucht in den Griff bekäme. So kam ich zu Andrej. Das Geld, das ich verdiene, reicht gerade so zum Leben, aber die Medikamente, die ich bekomme, wiegen alles auf. In der Ukraine gibt es keinen Platz für Infizierte wie mich. Wir werden verstoßen. So waren das Heim und der Job die einzige und beste Chance, die ich hatte. Ich habe sie genutzt und bin sehr stolz drauf.“
Was hätte aus Helena alles werden können. Sie sprach hervorragend Deutsch und schien schnell im Denken. Es schien Liv so ungerecht, dass sie nie eine echte Chance gehabt hatte.
„Was passierte dann? Was war los an dem Tag, als wir zu euch ins Heim kamen?“
„Es war eine komische Stimmung. Wir kriegen nicht so oft Besuch. Auf einmal waren mehrere von Andrejs Männern da. Meist gab es nur ein oder zwei Wachen, aber nicht an dem Tag. Ich wollte schauen, was los war. Unsere Mädchen waren auf dem Weg nach Deutschland, und die neuen Mädchen sollten erst eine Woche später kommen.“
„Dann habe ich dir das Bild gezeigt …“, half Liv den Faden wiederaufzunehmen.
„Ja. Das war großer Schock. Meine Kleine auf dem Bild mit diesem alten Mann? Nie, nie sollte ihr so etwas passieren. Sie sollte ein Leben haben. Ein wirkliches Leben!“ Sie strich Oxana über den Kopf, die der Unterhaltung stumm gefolgt war.
„Kanntest du den Mann?“
Helena nickte und schüttelte sich.
„Woher?“
„Er war ein paarmal bei uns. Er kam und ging immer mit Andrej. Sie lachten, tranken Wodka und hatten meist beste Laune.“
„Wieso hast du so getan, als würdest du kein Deutsch sprechen?“
„In der Ukraine ist es als Frau besser, man blickt nach unten und macht, was einem gesagt wird. Ich hatte Angst, dass ich den Job nicht bekomme. Eine HIV-positive Drogensüchtige, die Deutsch spricht? Das war gefährlich. Außerdem wollte ich die Sprache nie wieder sprechen. Es tat zu weh … Ich sehe noch immer sein Gesicht, wenn ich eure Wörter sage.“
„Kennst du den Namen des Mannes auf dem Bild?“
„Nein. Er hat nie mit uns gesprochen. Oxana sagt, er heißt Günther.“
„Warum bist du weggerannt, nachdem ich dir das Bild gezeigt hatte?“
„Jemand rief, dass ein Mädchen aus dem Bus verschwunden war. Ich rannte zu Andrejs Büro und hörte Oxanas Namen. Als alle durcheinanderschrien und Andrej sie in den Besprechungsraum schickte, bin ich in sein Büro rein und habe aus den Unterlagen die Adresse vom Gesundheitshaus abgeschrieben. Da war Oxana verschwunden. Da sollten sie alle untersucht und geimpft werden. Von da ging es nach Deutschland weiter.“
„Was ist das bloß für ein komisches Zentrum oder Haus?“ Liv konnte sich keinen Reim darauf machen. Impfungen? Was sollte das?
„Ich hatte so gehofft, dass du dort hinfährst und Oxana findest. Aber außer der Adresse konnte ich dir nichts sagen. Andrej hatte gemerkt, dass jemand in seinem Büro war, und mich von dir weggezerrt. Ich tat, als wüsste ich nicht, wovon er spricht. Aber ich kenne Männer. Sie waren so wütend, und dann sehe ich das Foto, das Oxana mit diesem alten Mann zeigt. Ich habe Andrej und seinen Leuten nicht mehr vertraut.“
„Welche Adresse?“
„Die ich dir in die Jacke gesteckt habe!“
„Du hast was?“
„Einen Zettel mit der Adresse, wo die Mädchen hingebracht werden sollten, in deine Tasche gesteckt. Beim Fallen. Erinnerst du dich nicht?“
Liv sah ganz deutlich vor sich, wie Helena in sie hineingelaufen war und dann stürzte. Das war ein Ablenkungsmanöver gewesen! Aber wo war der Zettel geblieben?
„Helena, ich habe keinen Zettel gefunden.“
„Doch! Das musst du! Ich habe ihn dir in die Tasche geschoben. Da! Diese Jacke war es!“ Helena sprang auf und ging zu Livs Lederjacke, die an einem Haken neben der Tür baumelte. Sie durchwühlte alle Taschen. „Hier! Hier ist er! Du musst ihn gefunden haben. Ich hatte ihn aber nicht in diese kleine Tasche gesteckt.“ Helena zeigte auf eine streichholzgroße Tasche, die zudem bis dato mit einem Druckknopf verschlossen war.
„Er war hier. In der anderen Seite.“ Sie wies auf eine Jackentasche ohne Knopf.
„Helena, ich habe diesen Zettel noch nie gesehen. Das musst du mir glauben.“ Aber wie kam der in diese Tasche? Liv schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Beatrice! Sie hatte sich die Jacke geliehen, als sie zur Rezeption gegangen war. Hatte sie den Zettel gefunden? Hatte sie jemanden gefragt, was da stand? Bekamen wir deshalb dieses Höllentaxi? Was wusste Andrej bereits alles über sie? Liv schauderte.