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Sonntag, 14. April 40. Liv

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Der Blackberry weckte Liv um sieben Uhr durch ein dezentes Brummen. Im Dämmerlicht suchte sie sich frische Anziehsachen zusammen und schlich mit ihrer Zahnbürste unter die Dusche, um Oliver nicht zu wecken. Da die gläserne Kabine aber mitten im Raum stand, hielt sie es für ausgeschlossen, dass er noch lange weiterschlafen könnte. Beim Abtrocknen bewunderte sie noch immer seinen Rücken, der unter der Bettdecke hervorschaute.

Bewegte sich dieser Rücken? Atmete er überhaupt noch? Liv schluckte. Lieber Gott, lass nichts passiert sein. Sie ließ das Handtuch fallen und war mit einem Satz am Bett. Sie beherrschte sich, dass sie nicht hysterisch an seiner Schulter rüttelte. Mit klopfendem Herzen beugte sich Liv über Oliver.

Sie biss sich in die Faust vor Lachen, als sie sah, dass er sich die knallorangen Ohropax, die auf dem Nachttisch gelegen hatten, in die Ohren gesteckt hatte. Er sah aus, als wäre seine Verwandlung vom Teletubby zum Menschen mittendrin abgebrochen worden. Vor Erleichterung wurde ihr beinahe schwindelig. Hatte sie in der Nacht geschnarcht? Gott, wie peinlich wäre das denn. Sie wusste nicht, ob sie wollte, dass er aufwachte und sie sofort wieder küsste oder ob er doch weiterschlafen sollte. Livs Magen zog sich bei der Vorstellung zusammen, dass sie gleich in diese braunen Augen schauen würde. Mensch Liv, Schluss jetzt, rief sie sich zur Ordnung. Sex mit einem Polizisten war okay, aber eine romantische Beziehung kam nicht infrage. Warum fühlte sich das dann aber so gut an?

Liv schloss leise die Schiebetür des Schlafzimmers hinter sich und zog sich im Wohnbereich ihre Jeans und eine halbwegs knitterfreie weiße Bluse an. Blazer oben, Sneaker unten, fertig. Friedas Augen folgten ihr überallhin, der Rest des Hundes blieb regungslos. Sollte sie Oliver einen Zettel schreiben? Am liebsten hätte sie sich wieder an ihn gekuschelt, aber die Bilder von Oxana, dem toten Bögershausen und die Eindrücke aus Kiew ließen sie nicht los.

Eigentlich hätte sie mehr als genug Zeit gehabt, mit Oliver zu frühstücken. Ein Spaziergang mit Frieda und ein Cappuccino in ihrem Lieblingscafé erschienen ihr aber sinnvoller, um sich auf den Termin mit Isolde Züchner einzustimmen. Über Oliver konnte sie erst nachdenken, wenn alles andere erledigt war. Es war schon genug Durcheinander in ihr. Sie verschloss ihre Unterlagen im Safe und hoffte, dass Oliver nicht irritiert war, wenn er alleine im Zimmer aufwachte. Später würde sie ihm alles erklären können. Jetzt musste sie nur hier raus und sich sammeln. Liv griff nach ihrer Tasche, der Leine und schlich sich mit Frieda aus der Suite.

Liv hatte es sich mit Koffein und Kalorien im Café gemütlich gemacht. Sie loggte sich ins WLAN ein und ging in Ruhe noch mal die einzelnen Artikel aus dem Internet durch. Isolde Züchner kam 1949 als jüngere Tochter des schon vor dem Zweiten Weltkrieg aktiven Pharmaunternehmers Alfred Züchner zur Welt. Ihr Vater war ein glühender Verehrer Richard Wagners. Mariana hieß ihre ältere Schwester und war vermutlich ebenso nach einer Figur aus einer Oper benannt wie Isolde von Tristan und Isolde. Wagner-Fan? Erfolgreich auch unter Hitler? Bestand da ein Zusammenhang? Hitler war ebenfalls ein bekennender Wagner-Anhänger.

Liv recherchierte weiter in diese Richtung und fand heraus, dass Alfred Züchner ein Mitläufer des nationalsozialistischen Regimes gewesen war. Nur zwei Prozent der bei den Nürnberger Prozessen Angeklagten wurden als Täter verurteilt. Bei rund 35 Prozent wurde das Verfahren eingestellt, und 54 Prozent wurden als Mitläufer eingestuft. Liv schüttelte den Kopf. Isoldes Vater hatte also mit seinem Pharmaunternehmen von dem NS-Regime profitiert.

Mariana, die ältere Schwester, hatte sich in den Siebzigerjahren mit Heroin einen goldenen Schuss gesetzt. Die Mutter starb bei einem „häuslichen Unfall“. Was das wohl heißen sollte? Liv griff sich an die Nasenwurzel und kniff die Augen zu. Sie nahm einen Schluck von ihrem kalt gewordenen Cappuccino. Hier steckte etwas sehr Schlimmes dahinter. Vielleicht konnte sie Isolde auf ihre Familiengeschichte ansprechen. Der Vater war nach dem Abschluss der Prozesse ein angesehenes Mitglied der Nachkriegsgesellschaft geworden und konnte den Erfolg seiner Firma mit wertvollen Patenten sichern und ausbauen. Später erkrankte er an Alzheimer und verstarb. Sie würde versuchen, Isolde mehr Details zu entlocken. Liv schnappte sich Frieda und ihre Unterlagen und ging zum Auto.

Als das Navi sie zu der Adresse beim Stadtwald gelotst hatte, musste sie den Anblick erst mal auf sich wirken lassen. Goldene Spitzen, die wie Speere aussahen, steckten auf dunkelgrün lackierten Zaunstäben aus Eisen, deren Zwischenräume mit blickdichtem Milchglas verkleidet waren. Hinter dem zwei Meter hohen Zaun schimmerte eine gelbe Trutzburg mit einem verwitterten, grünen Kupferdach. Liv klappte den Mund zu, gab Frieda einen Kauknochen und stieg aus. Mein zweiter Besuch bei einem Hannoveraner in einer gelben architektonischen Absonderlichkeit. Bögershausen in seiner Toskana-Villa, und jetzt Isolde Züchner in einem neoklassizistischen Ensemble, das so groß war wie ein mittleres Gewerbegebiet. Waren die Zaunspitzen wohl aus echtem Gold?

Liv klingelte. Eine Kamera, die zwischen den funkelnden Spitzen aussah wie ein Frühstücksei in einer Fabergé-Sammlung, schwenkte zum Eingangsbereich. Sekunden später surrte die Tür und Liv trat ein. Sie ging über einen gepflasterten Vorplatz des Hauses und an einem Marmorspringbrunnen vorbei. Vier Pferde in seiner Mitte erbrachen hocherhobenen Hauptes fortwährend Wasser. Liv erwog, vom Plätschern animiert, direkt nach der Gästetoilette zu fragen.

Sie ging am Brunnen vorbei weiter in Richtung des Säulenportals. Eine imposante Flügeltür öffnete sich am Ende der Marmorstufen, und eine Art Gouvernante mit strenger Hochsteckfrisur, gestärkter Schürze und schwarzem Rock erschien. Sie sah aus, als wäre sie eben einer englischen Fernsehserie entsprungen.

„Guten Tag. Frau Mika, nehme ich an?“

„Guten Tag. Ja, das bin ich.“

„Frau Züchner erwartet Sie bereits. Folgen Sie mir.“

Sie ließ Liv eintreten und ging durch die runde Eingangshalle voraus auf eine der dunklen Holztüren zu. Ein Kronleuchter von gigantischem Ausmaß baumelte schwer über einem Blumenbukett, das in der größten Barockvase thronte, die Liv je gesehen hatte. Ich könnte darin baden und müsste mich nicht mal klein machen.

Hinter der Treppe plätscherte wieder Wasser eine Marmorwand herunter. In allen Ecken standen barocke Kommoden und Vasen um sie herum und präsentierten Orchideen. Aber nirgendwo lag auch nur ein Blütenblatt auf dem Boden. Liv schauderte. Alles, was nicht aus Marmor war, war türkis oder hellblau. Kalt und unpersönlich und gleichzeitig opulent. Wenn ein Haus etwas über seinen Besitzer verriet, dann hätte dieses hier einiges zu berichten.

Liv riss sich zusammen und ging weiter. Die Hausangestellte – wie hieß sie überhaupt? – wartete schon vor einer der Türen. Sie betraten eine Mischung aus Salon und Bibliothek. Die ganze Wand um die Tür wurde von einem prallen Bücherregal mit ledergebundenen Büchern dominiert, bewacht von einem Ungetüm von Schreibtisch. Sicher war das Haus um ihn herum gebaut worden. Daneben war eine Wand voller Fotos von Menschen, die Pokale hielten, vor Gebäuden posierten oder eingehakt in die Kamera lächelten. Alle Bilder waren mit edlen Holzrahmen eingefasst. Auch hier verhinderten Bodenfliesen aus Marmor jegliche Gemütlichkeit, die die Holzregale hätten erzeugen können.

Der Raum öffnete sich zwei Stufen tiefer zu einem Wohnzimmer, in dem in einem schrankhohen Kamin Brennholz wie für einen Scheiterhaufen aufgetürmt war. Liv hoffte, dass die Haushälterin es nicht entzünden würde. Sie fühlte sich unbehaglich, wie immer, wenn irgendwo offenes Feuer drohte.

Das Wohnzimmer ging in einen runden Wintergarten über, wo in einem der zartrosa Biedermeier-Sessel ihre Gastgeberin saß: Die sah ja fast aus wie Linda Evans aus dem Denver Clan! Oder zumindest deren ältere Zwillingsschwester. Die Ähnlichkeit war spannend. Allerdings fehlte Isolde die Güte der Filmfigur in den eisblauen Augen. Sie wirkte eher so, als hätte man bei ihr noch geübt. Zu hager, zu verhärmt. Die Falten waren tief vom Mund abwärts eingegraben. Die Gene hatten es nicht gut mit ihr gemeint. Würde das Gesicht netter aussehen, wenn alles unterpolsterter wäre?

„Herzlich willkommen, Frau Mika.“ Das war eine Befehlsstimme, klar wie Glas, die die Luft zerschnitt und dadurch perfekt zu den kalt blickenden Augen passte. Isolde Züchner stand auf und schritt kerzengerade auf Liv zu. Liv unterdrückte den albernen Impuls zu salutieren und streckte lächelnd ihre Hand aus.

„Frau Züchner. Danke, dass Sie so schnell Zeit für mich gefunden haben.“ Sie gingen zu der Sesselgruppe.

„Tee oder Kaffee?“

„Gerne Kaffee.“

Isolde Züchner blickte in Richtung Tür, ihre Haushaltshilfe nickte und verließ den Raum.

„Was kann ich für Sie tun?“

„Ich bin Journalistin und berichte aktuell über gelungene private Projekte aus dem Wohltätigkeitsbereich. Dabei bin ich im Internet auf Ihr Mädcheninternat in der Ukraine gestoßen. Das scheint mir ein echtes Vorzeigeprojekt zu sein.“

Isolde hob die Augenbrauen, sodass sie unter dem blonden Pony verschwanden, als wollten sie sich vor Liv verstecken.

„Im Internet? Das ist ja interessant. Meines Wissens ist darüber kaum etwas zu finden.“

Nichts zu finden? Liv wurde warm. Sie hatte sich den Einstieg auf der Hinfahrt überlegt und das nicht mehr gegengecheckt, weil sie die Familiengeschichte zu sehr gefangen genommen hatte. Jetzt musste sie improvisieren.

„Stimmt. Da waren nur einzelne Artikel, in denen Ihre Arbeit am Rande erwähnt wurde. Aber Dr. Hemme schwärmte so von Ihnen, dass ich neugierig geworden bin.“

„Ach ja, die gute Beatrice.“ Isolde schien sich zu entspannen und lehnte sich im Sessel zurück. „Was genau wollen Sie wissen?“

„Wie kamen Sie ausgerechnet auf die Ukraine, um dort zu helfen?“

„Meine Firma hatte dort Projekte begleitet. Vor Ort entdeckte ich die Not der Straßenkinder, und das in einem Land, das der EU beitreten möchte. Da kam mir die Idee zu dem Internat.“

„Warum dann ein Heim nur für Mädchen?“

„In dem Land herrscht ein starkes Patriarchat, und diesen vergessenen Mädchen hilft niemand. Zudem arbeitete in einem unserer Projekte ein ukrainischer Pädagoge, der in Deutschland studierte und der uns anfangs in Kiew sehr geholfen hat. Er baute damals das Heim mit auf, regelte viel mit den Behörden und leitet die Einrichtung seitdem.“

Wusste Isolde, dass sie schon vor Ort im Heim gewesen waren? Oder sollte sie das lieber nicht erwähnen?

„Andrej, nicht wahr? Ich habe ihn kürzlich kennengelernt.“ Liv folgte ihrem Instinkt. Ein kaum merkliches Nicken von Isolde bestätigte, dass sie das natürlich schon lange wusste.

„Ja, Andrej. Ein sehr fähiger Mann.“

„Was passiert mit den Mädchen? Wo sind ihre Eltern?“

„Sie sind überwiegend Waisenkinder, oder die Eltern sind nicht in der Lage, sich um sie zu kümmern. Wir geben ihnen meist bis zur zehnten Klasse Schulunterricht. In dieser Zeit lernen sie bereits die deutsche Sprache. Da es in der Ukraine kaum eine Chance auf Arbeit und Ausbildung gibt, kommen sie über ein Abkommen – der Staat hat ja immer noch die Vormundschaft – für eine Ausbildung oder eine weiterführende Schule nach Deutschland. Hier haben die Mädchen einen Vormund, leben meist in einer Wohngemeinschaft mit ein bis zwei Pädagogen und entscheiden sich zum Ende ihrer Ausbildung, ob sie zurück in die Ukraine möchten oder in Deutschland bleiben wollen.“

„Oh, das klingt spannend. Darf ich so eine Wohngemeinschaft mal besuchen?“

„Leider nein. Wir wollen, dass die Mädchen ein normales Leben führen und sie nicht in die Öffentlichkeit zerren.“

„Das war auch nicht mein Anliegen. Ich habe als Kind selber einige Zeit in einem Heim leben müssen und sehe daher solche Dinge mit ganz anderen Augen als Menschen, die aus normalen Familienverhältnissen kommen. Mir geht es um das Projekt als Ganzes.“

„Hören Sie. Ich habe Sie empfangen, weil Frau Dr. Hemme mich darum gebeten hatte. Dass Sie in einem Heim gelebt haben, qualifiziert Sie nicht automatisch dafür, mit diesen Kindern zu sprechen. Ein deutsches Heim ist im Vergleich zu allem, was es in der Ukraine gibt, ein Wellnesshotel. Ich halte es für keine gute Idee, diese teilweise traumatisierten Mädchen, die sich ein Leben aufbauen wollen, auch noch …“

Isolde Züchner verstummte. Von der Tür war Geschirrklappern zu hören. Ihr Kaffee wurde gebracht.

„Ich habe Erdbeerkuchen für Sie und Ihren Gast bereitgestellt“, sagte die Haushaltshilfe und deckte den Tisch. Isolde beobachtete alles schweigend und sah auf ihre Uhr.

Als sie wieder alleine waren, war die Temperatur gefühlt um einige Grad gefallen. Bald würde Isolde Liv zur Tür begleiten. Die Zeit lief viel schneller ab als erwartet.

„Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, ich halte es für überhaupt keine gute Idee, das Projekt öffentlich zu machen. Die Mädchen brauchen eine Chance.“

„Die will ich ihnen ja auch nicht nehmen. Im Gegenteil, wenn so ein Beispiel Schule macht, könnte doch noch vielen anderen Kindern geholfen werden.“ Liv sah ihre Felle schon nicht mehr, so weit waren die davongeschwommen. Sie brauchte dringend eine andere Taktik.

„Ich hingegen denke, dass die Nachteile für die betroffenen Mädchen überwiegen“, erwiderte Isolde. Es klang entschlossen.

Schnell ein Themenwechsel. „Vermutlich haben Sie recht. Sie kennen Ihr Projekt am besten und wissen, was nützlich ist und was schädlich. Das Geld für die Förderung kommt doch aus ihrem Unternehmen, nicht wahr?“

„Ja, natürlich. Wir haben dafür eine Stiftung gegründet, die die Mittel verwaltet.“

„Mit welcher Art von Medikamenten verdient Neofarmo denn das Geld?“

„Wir produzieren Impfstoffe für verschiedene Virenstämme und halten dort auch Patente.“

„Die demnächst auslaufen?“

Isoldes Stimme wurde eine Spur härter. „Ja, aber das gilt nur für wenige Präparate. Der überwiegende Teil läuft noch jahrelang, und wir haben vielversprechende Anschlussmedikamente in der Vorbereitung.“

„Sind das Patente, die Ihr Vater schon erworben hatte? Die, die sie mit einigen Verfahrenspatenten über die übliche Zeit hinaus schützen konnten? Oder kamen die erst in der Zeit danach?“

„Mein Vater? Wie kommen Sie denn darauf? Ich führe die Firma seit Ewigkeiten, und wir leben nicht mehr von den Erfolgen der Fünfzigerjahre. Den Erfolg von gestern hat morgen schon jemand anders, und Sie können den Laden schließen, wenn Sie sich nicht fortwährend neu erfinden.“

Isolde spießte mit einer zierlichen Gabel ein Stück Erdbeerkuchen so energisch auf, als wolle sie dem Gebäck irgendetwas heimzahlen. Sie hielt die Gabel in der Luft und setzte an: „Wenn Sie glauben, dass …“ Sie verstummte, starrte auf die Unterseite des Kuchens und schluckte. Isolde ließ die Gabel auf den Teller fallen, als hätte sich der Kuchen in einen Skorpion verwandelt, würgte und sprang auf. Was war denn jetzt los? Liv war ebenfalls aufgesprungen, schaute vom Kuchen zur Tür und ging zu Isoldes Platz. Sie hob mit ihrer eigenen Gabel das aufgespießte Stück an. Igitt! Eine Ecke des Bodens war verschimmelt.

Sie war allein! Liv sprang zu ihrer Tasche, griff den Blackberry und spähte in Richtung Tür. Niemand war zu sehen, sie hörte nur ein entferntes Würgen. Schnell ging sie zu der Wand mit den Bildern und fotografierte systematisch alle Bilder ab. Sie wandte sich dem Schreibtisch zu, wo Verträge und Ähnliches in Aktendeckeln lagen, die mit gelben Post-it-Zetteln markiert waren. Zügig fotografierte Liv die erste Seite und schlug dann die gekennzeichneten Stellen auf.

Speicherplatz voll! Ah! Das gab’s doch nicht. Irgendwo weiter hinten im Flur war eine Wasserspülung zu hören. Liv scrollte zu ihren Bildern und löschte wahllos einige Frieda-Schnappschüsse. Sie ging wieder in den Kameramodus. Absätze klickten auf Marmor. Sie kamen näher.

Liv schoss ein Foto, blätterte zur nächsten Markierung, noch ein Bild. Sie schlug alle Unterlagen zu, wirbelte zur Bücherwand rum, legte einen Finger an den Mund und studierte die Buchrücken. Das Klackern war verstummt. Liv griff ein Buch aus dem Regal, schlug es auf und versuchte, durch tiefes Atmen ihren Herzschlag zu beruhigen. Sie stellte es zurück und wandte sich zur Tür. Da stand Isolde. „Frau Mika, es tut mir leid. Mir geht es nicht gut. Ich muss Sie bitten zu gehen.“

„Ja, klar. Natürlich. Kein Problem.“ Liv ging zu der Sitzgruppe, wo bis auf den aufgespießten Bissen alles unberührt war, und schnappte ihre Tasche. Isolde ging voraus und öffnete Liv die Tür.

„Auf Wiedersehen.“

„Gute Besserung“, rief Liv noch. Aber die Tür war schon zugefallen.

Was war denn das jetzt? Liv zog den Blackberry aus der Hosentasche, schaute, ob sich Oxana endlich gemeldet hatte, und ließ ihn enttäuscht in ihre Handtasche fallen. Sie drehte sich zum Haus um. Isolde stand wie eine Statue am Fenster neben der Eingangstür und beobachtete Liv. Sie hob die Hand, aber Isolde verschwand. Liv bekam eine Gänsehaut und beeilte sich, ins Auto zu kommen.

Sie fuhr bis zu einem öffentlichen Parkplatz, gab Frieda Wasser und warf einen Ball in den Wald, dem die Hündin bellend hinterherjagte.

Liv beschwor das Telefon, endlich zu klingeln. Sie hätte sich sofort in den Flieger gesetzt, wenn sie nur eine Ahnung gehabt hätte, wo sie Oxana finden konnte. Es blieb stumm. Sie scrollte durch die Bilder. Auf einem vergilbten Foto stand ein hoch aufgeschossener, blonder Mittvierziger mit hartem Blick, umrundet von Farbigen mit Hemd und dunkler Hose, vor einem Fabrikgebäude. Auf einer Leiter hockten links und rechts ebenfalls zwei Farbige, die je einen Hammer hochhielten und so ein Holzschild einrahmten, das in altdeutscher Schrift bemalt war. War das Isoldes Vater? Von wann war das Bild? Sie vertiefte sich in das nächste Foto.

„Hallo? Hallo, Sie? Hören Sie?“ Eine vorwurfsvolle Männerstimme zerrte an ihrer Aufmerksamkeit. Liv blinzelte. Vor ihr hatte sich ein Mann in einer roten Outdoorjacke, die so knallig war, dass sein blasses Gesicht und die spärliche Kopfbehaarung wie ausgewaschen wirkten, aufgebaut. Über der Jacke, die mit gelben Hundetatzen bestickt war, trug er eine Bauchtasche. Neben ihm hockte ein hechelnder Mops, der ehrfürchtig nach rechts schaute. Da stand Frieda. Mit zwei Bällen im Mund. Der Mops hatte keinen.

Liv hustete, um nicht zu lachen. „Ja.“

„Was, ja?“

„Ich höre Sie.“

„Das ist erfreulich. Ist das Ihr Hund?“ Er zeigte nur mit dem Finger zu Frieda. Den Arm auszustrecken, traute er sich vermutlich nicht.

„Ja.“

„Den dürfen Sie hier aber nicht ohne Leine laufen lassen. Außerdem hat er unseren Ball.“

„Ja.“

„Was soll das immer mit diesem Ja?“

„Ja, sie darf nicht ohne Leine laufen. Ja, sie hat vermutlich Ihren Ball.“

Er ließ den Arm sinken. Der Mops schaute, als wäre ihm sein Besitzer peinlich. Liv schnipste, Frieda ließ beide Bälle aus dem Mund plumpsen, nahm sich ihren eigenen und setzte sich. Der Mops blickte zu seinem Herrchen, stellte fest, dass der es wohl nicht regeln würde, schnappte nach seinem Spielzeug und trabte mit aufgestelltem Ringelschwanz und dem Ball seines Weges. Nach ein paar Metern drehte er sich um, als wolle er sagen: Was ist nun? Ich habe alles geklärt. Wir können weiter.

„Nun hat jeder wieder seinen Ball und keiner eine Leine. Frieden?“

Die Outdoorjacke glotzte erst Liv, dann Frieda an und schüttelte den Kopf.

„Unfassbar …“, murmelte er und folgte seinem Hund. Der Mops hatte damit die Rangordnung endgültig festgelegt und schien mit der Welt im Reinen.

Liv prustete los. Himmel, da hatte dieses kleine Marzipanschwein seinem Menschen mal gezeigt, was entschlossenes Handeln war. Frieda nutzte die gute Stimmung und brachte sich neben Liv in Ohrenkraulposition. Liv liebte die weichen, warmen Schlappohren und massierte sie mit beiden Händen. Wie kamen Menschen nur auf die Idee, einem Tier die Ohren abzuschneiden, damit es besser aussah? Komische Welt. Sie gab der Hündin einen Klaps und stand auf.

„Komm, Süße, irgendwo sollten wir noch einen Kaffee und ein unverschimmeltes Stück Kuchen bekommen.“

Thriller Collection I

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