Читать книгу Der Zornige: Werdung eines Terroristen - Ralph Ardnassak - Страница 17
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ОглавлениеWir fahren nach Berlin, um vor der Deutschland-Zentrale der großen Krankenhaus-Holding und vor dem Gesundheitsministerium gegen den Verkauf unseres städtischen Klinikums und für menschenwürdige Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen zu demonstrieren, die am Ende ja auch unseren Patienten zugute kommen.
Die Gewerkschaft ver.di hat unsere Demonstration angemeldet.
Wir wollen zuerst zum Potsdamer Platz laufen, wo die Krankenhaus-Holding ihren Sitz hat und von dort zum Berliner Dienstsitz des Bundesministeriums für Gesundheit.
Einige haben Transparente und Spruchbänder vorbereitet, andere tragen Megaphone.
Von Halle an der Saale aus fahren wir mit dem Zug. Es ist meine alte Strecke, die ich früher so oft fuhr, als ich noch in Königs Wusterhausen lebte.
Die Bahnstrecke führt mitten durch den Fläming hindurch. Der Zug ruckelt und stößt in den Gleisen. Die Reisenden schauen uns verängstigt an, als wären wir Terroristen oder Hooligans, die auf Krawall aus sind. Eine verschwitzte und ängstlich aussehende Zugbegleiterin, der die Sorge um ihren Job förmlich ins Gesicht geschrieben steht, schiebt einen Wagen mit Warm- und Kaltgetränken durch den Mittelgang. Sie hat auch kleine Snacks im Angebot. Natürlich ist alles unangemessen teuer, wie ich finde. Aber das ist typisch für die Bahn, seit ein gewisser Herr Mehdorn ihre Sanierung eingeleitet hat. Eine Art von Sanierung, wie sie vermutlich auch meinem kleinen Klinikum bevor steht.
Neulich sah ich einen Bericht im Fernsehen über die Sanierungsmaßnahmen bei der Bahn. Alles steht unter dem Motto: Service runter, Preise rauf! Dank Herrn Mehdorns Sanierungsmaßnahmen ist die Bahn heute unpünktlicher, als sie es zu Kaisers Zeiten je gewesen ist!
Ich finde, das Motto Service runter, Preise rauf ist zwar treffend, beschreibt aber nicht den Kern. Besser wäre: Profit ist alles!
Die verschwitzte Servicekraft oder Zugbegleiterin, die augenscheinlich nicht mehr lange braucht, bis zur Rente, tut mir leid und ich kaufe einen großen Pott Kaffee.
Pott heißt es nur aus Marketing-Gründen, denn gereicht wird mir keine Tasse mit Henkel, wie ma es nach der Ankündigung eigentlich erwartet hätte, sondern ein schlichter Pappbecher mit Deckel. Coffee to go, heißt es in Neudeutsch!
Gib der Scheiße Geschmack! würde meine Frau jetzt sagen. Aber ich will nicht andauernd meckern!
Es haben sich weniger Leute zu unserer Demonstration eingefunden, als erwartet. Das ist ärgerlich. Und einer unserer Betriebsräte, jener Kollege, der die Demo organisiert hat, ist deprimiert.
Bei den meisten Mitarbeitern herrschen Resignation und Ohnmacht vor. Viele haben Angst, sich durch eine Teilnahme an der Demo möglicherweise unbeliebt zu machen und dann gekündigt zu werden.
Eine Kollegin hat mir angstvoll zugeflüstert, dass alle Teilnehmer dieser Demo in Berlin gefilmt und fotografiert würden. Danach sei man aktenkundig und würde als Querulant und Störenfried nie wieder irgendwo einen Job im Gesundheitswesen bekommen. Dieses Risiko wolle sie nicht auf sich nehmen. Es gäbe schließlich Schlimmeres, als die Halbierung des Arbeitslohnes!
„Müssen wir uns eben noch mehr einschränken!“, sagte die Kollegin mit leichtem Schulterzucken und mit zusammengepressten Lippen. Ihre beiden Hände umklammerten dabei ihre Kaffeetasse, als müsse sie befürchten, diese könne ihr auch noch weggenommen werden.
Überall hörte man das, wir müssen uns noch mehr einschränken! Ein ganzes Volk war unausgesetzt dazu bereit, sich immer weiter einzuschränken, auf Gehalt zu verzichten, auf Lebensqualität, auf Komfort, auf Urlaubsreisen, auf eine tägliche warme Mahlzeit, auf Kino- und Theaterbesuche, auf Markenklamotten! Nur die Millionäre brauchten sich nicht einzuschränken! Die hatten ja schließlich auch nicht über ihre Verhältnisse gelebt, sondern als Eliten und Leistungsträger der Nation dahin vegetiert, wie die Asketen!
„Pass nur auf, Heide!“, sagte ich zu der betreffenden Kollegin: „Eines Tages wird nichts mehr da sein, worauf Du noch freiwillig verzichten kannst!“
Heide zuckte wieder hilflos mit den Schultern und sah zu Boden. Wie wir alle schob auch sie jetzt freiwillig jede Menge unbezahlter Überstunden.
Ich konnte es Heide nicht übel nehmen, dass sie kein Held sein wollte! Eigentlich konnte man es keinem Menschen übel nehmen, sofern er kein Held sein wollte! Warum aber hatten es dann die Bürgerrechtler der ehemaligen DDR ihren Mitbürgern übel genommen, dass diese keine Helden hatten sein wollen? Aber das war ja schon wieder eine ganz andere Geschichte!
Die Fahrt durch die mir noch gut bekannten flachwelligen bis hügeligen Landschaften des Flämings ließen mich wieder melancholisch werden, wie immer, wenn es in Richtung auf meine alte Heimat zu ging.
Jetzt bildete die Landschaft zu beiden Seiten der Gleise ein großes und zusammenhängendes Waldgebiet aus hochstämmigen Föhren oder dichten Schonungen mit vereinzelten Rodungsinseln.
Bald schon würden sich die ausgedehnten Föhrenwälder mit Acker- und Wiesenflächen abwechseln, mit Koppeln und Weideflächen, auf denen einzelne Pferde oder Herden von Kühen grasen würden.
Mit uralten einsamen Dörfchen, die sich um winzige, aber imposante Feldsteinkirchen scharten, wie die Schafe einer verschreckten Herde um ihren Hirten.
Im Frühjahr und Sommer durchzogen leuchtende Teppiche aus strahlendem Gelb und sattem Grün die Landschaft: die Rapsfelder.
Die Böden des sogenannten Sandsteingürtels, zwischen Bad Belzig und der Stadt Dahme, zählen zu den fruchtbarsten Äckern, welche die Landschaft zu bieten hat.
Hier verlaufen die Zuflüsse von Havel und Spree, meist von West nach Ost: die Nuthe, die Dahme, die Ihle und zahlreiche kleiner Bäche.
Die Region liegt immer noch im Regenschatten des Harzes und die Orte beiderseits der Gleise heißen Ziesar, Bad Belzig, Niemegk, Treuenbrietzen, Jüterbog, Baruth/Mark, Zahna-Elster, Lutherstadt Wittenberg, Wiesenburg/Mark und Rabenstein.
Wie eh und je, hält der Zug noch in Jüterbog. Jener Stadt, deren Backsteingotik, wie das Rathaus und das Dammtor, an alte Hansestädte an der Nord- und Ostseeküste, erinnert. Zu Jüterbog gehören heute auch Trebbin, Kloster Zinna und Luckenwalde, so dass die Stadt im Norden bis zum Seddin-See und damit bis vor die Tore Potsdams reicht.
Zu DDR-Zeiten war hier alles Grau in Grau. Am 20. April 1945 hatte die Rote Armee Jüterbog ohne nennenswerten Widerstand besetzt und sie war bis Anfang der 1990er Jahre geblieben.
„Altes Lager“ wurde ihre gewaltige Garnison genannt. Dort lagen unter anderem die 32. Garde-Panzer-Division „Poltawa“ und die 27. Raketenbrigade.
Absonderliche Gedanken beschäftigten mich. War hier nicht eigentlich meine Heimat? Hatte ich hier nicht eigentlich leben sollen? Wäre dies nicht meine Bestimmung gewesen?
Aber unsere Vergangenheit glich schließlich einem toten Verwandten. Es war ohne jeden Sinn, sie zu betrauern und jene, toten Angehörigen gleichenden, Leben zu beweinen und zu beklagen, die einem alle nicht geworden waren. Der Mensch konnte schließlich immer nur ein einziges Leben leben, ebenso, wie er nur einen einzigen Tod zu sterben vermochte und nicht tausend Tode!
Dennoch war es, als ob die Melodie und Verlorenheit dieser Landschaften, durch die der Zug geradewegs hindurch raste, eine seltsame Saite in meiner Seele zum Klingen brachte.
Die Vergangenheit war tot und ihre Zeugen hatten sich verändert. Ich hätte von Berlin aus leicht mit der S-Bahn bis hinaus nach Königs Wusterhausen fahren können. Aber es wäre eine Reise in die Vergangenheit geworden, denn dort gab es keinen Anlaufpunkt mehr für mich. Und wer von den einstigen Freunden und Bekannten meiner Eltern in der Stadt noch leben mochte, wer von meinen früheren Klassenkameraden womöglich noch vor Ort lebte, vermochte ich nicht einmal zu sagen.
Ich kämpfte gegen immer wieder aufsteigende Erinnerungen, die mit viel Wehmut verbunden waren. Geräusche, Gerüche, Gesprächsfetzen und alte Songs drangen in mein Bewußtsein. Impressionen und kurze Lichtblitze, zahllose Schnappschüsse von Tagen, die wir vor 35 Jahren an den märkischen Seen oder in den Kiefernwäldern rings um Königs Wusterhausen verbracht hatten.
Der Geschmack der alten grünen Gummiluftmatratze im Mund war mir plötzlich wieder gewärtig, die ich auf Bitten meines Vaters jedesmal mühselig aufblasen musste, nachdem wir unsere Badestelle am Ufer des Wolziger Sees erreicht hatten. Es war ein anstrengendes Aufblasen, das ich häufig unterbrechen musste, weil mir die Luft knapp und weil es mir schwindelig im Kopf wurde. Erst wenn die länglichen Luftkissen genüg Füllung hatten, um einen von uns über die Oberfläche des Sees zu tragen oder um uns, beim Liegen am Strand, die dürren, aber harten Wurzeln der Uferbäume und die Kienäpfel und die rund gewaschenen Steine im Sand nicht mehr spüren zu lassen, wenn wir, die Matratze darüber gebreitet, uns am Strand zum Liegen und Dösen in der Sonne ausgebreitet hatten, konnte ich das Gummimundstück der Luftmatratze endlich mit dem an einem Bindfaden hängenden Plastikstöpsel verschließen.
Über den Feldern des Flämings, an denen der Zug vorüber fuhr, lagen die Schwaden morgendlicher Nebel. Irgendwo ästen friedlich Rehe. In die Waldränder und Buschstreifen der Feldraine waren hier und da Hochsitze hinein gebaut worden.
Die Menschen im Zug schliefen, lasen Zeitung oder beschäftigten sich mit ihren Smartphones. Einer meiner Kollegen blickte versonnen nach draußen.
Früher, zu DDR-Zeiten, hatten alle aus dem Süden der Republik nach Berlin fahrenden Züge in Schönefeld gehalten. Schönefeld war das südliche Tor der Hauptstadt gewesen. Lichtenberg das nördliche Tor.
Heute jedoch hielt der Zug am Bahnhof Berlin Südkreuz, der mehreren auf den Gleisen übereinander gestapelten gewaltigen Stahlschachteln glich.
Durch diese Stahlschachteln hindurch, verliefen die Gleise von Nord nach Süd und von Nordwest nach Südost. Turmbahnhof, so nannte die Bahn dieses Konzept. In den unteren Stahlschachteln verliefen die Gleise für die Fernbahnzüge, die nach Leipzig, nach Halle/Saale, München, Wien, Budapest, Hamburg, Kiel, Westerland auf Sylt oder nach Dresden fuhren, von Nord nach Süd.
In der schräg darüber gestapelten und breiteren Stahlschachtel verlief die Trassierung für die Berliner S-Bahn, von Nordwest nach Südost.
Ich hätte von hier aus direkt nach Königs Wusterhausen fahren können und es war ein seltsames und beklemmendes Gefühl, die S-Bahn einfahren zu sehen, die direkt bis nach Königs Wusterhausen fuhr. Ich meinte, mich einsteigen zu sehen. Den kleinen Jungen it den widerborstigen Wirbeln zu beiden Seiten des Haaransatzes über der Stirn. Den kleinen verängstigten Jungen und der doch voller Staunen war, an der Hand seiner Mutter, die ihn in den Waggon beinahe zärtlich hinein und an den Menschen vorbei schob, sobald sich die Türe geöffnet hatte.