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Wir fuhren mit der S-Bahn der Linie S2 von Südkreuz bis zum Bahnhof Potsdamer Platz. Die Leute in der S-Bahn beäugten uns mit unseren Transparenten argwöhnisch, als wären wir Aussätzige, die unberufen das heilige Pflaster der Hauptstadt beschmutze n oder ihre wichtigen Geschäfte durch unsere bloße Anwesenheit stören würden.

Die Namen der Haltestellen wurden jeweils ausgerufen: Bahnhof Yorckstraße, Anhalter Bahnhof, Bahnhof Potsdamer Platz.

Den Anhalter Bahnhof kannte ich selbst nur aus Romanen und Erzählungen und aus den Berichten über seine Sprengung in der Nachkriegszeit.

Der Potsdamer Platz empfing uns mit der Hektik eines aufgescheuchten Bienenschwarmes, in den irgendein Leichtsinniger mit seinem Stock hinein gestochen und die Bienen damit gestört hatte. Er empfing uns mit seiner protzigen spätkapitalistischen Architektur aus Glas, Beton und Stahl, mit der preußisch-herzlosen Emsigkeit seiner Passanten, die oft schon an Egoismus grenzte.

‚Wieder solche Krakeeler und Störenfriede aus der Provinz! ‘, schienen die verächtlichen Blicke hauptstädtischen Selbstbewußtseins zu verkünden.

Ich studierte interessiert das anscheinend durchtrainierte Gesäß einer Frau mittleren Alters, die neben mir, an einer Ampel, gezwungen war, während der Rotphase von ihrem Fahrrad abzusteigen und auf Grün zu warten. Ihre elegante Kleidung fiel mir auf, der Schmuck, das stylisch frisierte Haar mit der Sonnenbrille, die über den Scheitel hinauf hoch geschoben worden war, die eleganten und selbstbewussten Bewegungen.

Diese Frau hätte eher in ein teures weißes Cabriolet gepasst, als auf ein Fahrrad, aber der um sich greifende Fitnesswahn hatte offenbar auch sie erfasst. Ich taxierte sie und schätzte sie, ihrem Beruf nach, als Anwältin, Unternehmerin oder Ärztin in leitender Stellung ein, während ich die Konturen ihres Slips musterte, die sich deutlich unter ihrer hautengen khakifarbenen Hose abzeichneten. Dann schaltete die Ampel auf Grün und die Frau war im Gewühl der Menschen und Fahrzeuge verschwunden.

Sekundenlang spielte ich mit der Phantasie, was wohl geschehen wäre, hätte ich sie auf offener Straße angesprochen und auf die Unwiederbringlichkeit dieses einen einzigen Augenblicks im Universum anzusprechen. Aber soviel Selbstbewusstsein konnte ich gar nicht aufbringen, um mich mit der mir vermutlich entgegen schlagenden eiskalt-belustigten Verachtung auseinander setzen und vor ihr bestehen zu können.

In den oberen Stockwerken der rötlich verkleideten Architektur des nach dem Vorbild der Gebäude New Yorks errichteten Kollhoff-Towers befand sich die deutsche Dependance des Klinik-Konzerns.

Wir entfalteten unsere Transparente und Spruchbänder und verteilten selbst verfasste Informationsblätter an die Passanten. Die meisten der Menschen waren gelangweilt oder reagierten gereizt. Niemanden interessierte der Grund unserer Anwesenheit wirklich. Wir waren Krakeeler, mehr nicht!

Zwei Auserwählte aus unserer Mitte versuchten, Zutritt zu den Büros für ein Gespräch zu erhalten und wurden mit überraschender Schroffheit abgewiesen.

„Wenn wir hier nicht verschwinden, rufen sie die Polizei!“, erklärten sie uns, sobald sie wieder in unserer Mitte standen.

Nun schwoll das Murren an: „Polizei? Sollen sie doch! Wir lassen uns nicht einschüchtern! Diese Demo ist schließlich angemeldet! Wir dürfen das! Steht schließlich sogar im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland!“

Einige hatten sich Bierflaschen mitgebracht und tranken. Mir gefiel das nicht. Damit wurden alle Klischees bedient: Besoffene und arbeitsscheue Krakeeler vor dem Kollhoff-Tower!

Schließlich verursachten wir, ohne damit noch gerechnet zu haben, doch einigen Auflauf. Passanten blieben in respektabler Entfernung von uns abwartend stehen, um zu beobachten, was möglicherweise passieren würde. Wir befriedigten ihre Sensationsgier und waren eine willkommene Unterbrechung ihres ansonsten öden und immer gleichen Tagwerks.

Wie die Silhouette einer rötlich glänzenden Fahne stand der Kollhoff-Tower vor dem strahlend blauen Berliner Himmel.

Arrogant ragte der steile Grat seiner 115 Meter und 25 Etagen vor uns auf, wie ein unbezwingbarer Felsen.

Herbert rief Parolen durch sein Megaphon, hinein in den Passantenstrom, schleuderte sie gegen die kalte und arrogante rötliche Front des Kollhoff-Towers, von der sie abzuprallen schienen, wie Tennisbälle von einer senkrechten Betonfläche.

Wir waren nichts weiter, als nur Krakeeler! Kleine lästige Eintagsfliegen in den Augen der Mächtigen. Und ich ahnte bereits, dass wir gar nichts oder möglicherweise sogar das ganze Gegenteil von alledem erreichen würden, was wir eigentlich angestrebt hatten!

Der mächtige Klinik-Konzern würde unser kleines und erbärmliches Provinzkrankenhaus fressen, wie ein Wildschwein, das eine Eichel ausgegraben hatte. Es würde vielleicht ein wenig knacken dabei, wie bei der Eichel, die das Wildschwein fraß, aber am Ende würden wir doch verschlungen werden und interessieren würde das ohnehin niemanden in diesem Staate, in dem jeder nur damit beschäftigt war, so viel Geld, wie nur irgend möglich, auf seinem persönlichen Bankkonto zusammen zu raffen!

Wie herzlose Giganten schien das steinerne Trio des Kollhoff-Towers, des PWC- und des Bahn-Towers auf unser erbärmliches, aber aufrechtes Häuflein, herab zu schauen.

„Wir machen uns hier zum Robert!“, flüsterte ich in plötzlich aufkeimender Angst und Hellen, meine sportliche Kollegin, deren Beine ich immer so sehr bewunderte, ergänzte leise: „Das kann nicht gut ausgehen!“

Wie zur Bestätigung ihrer Worte, beleuchtete das Aufzucken mehrerer hellblauer Rundumkennleuchten von Einsatzfahrzeugen plötzlich die Szenerie.

Ein gespenstisches bläuliches Licht erhellte zuckend und aufblitzend die Fassade. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass dies uns galt.

Unter uns tauchten plötzlich alternativ aussehende Jugendliche auf, in Leder- oder Tarnjacken. Sie rochen unangenehm, trugen Springerstiefel und begannen, ihre Gesichter, mit mitgebrachten schwarzen Sturmhauben zu verdecken. Mir fiel siedend heiß ein, dass sie damit gegen das Vermummungsverbot verstießen.

„Dass sind Krawallos!“, flüsterte Hellen mir zu: „Die sind ganz klar auf Krawall gebürstet!“

Ich hatte davon gehört, dass es in der Hauptstadt Jugendbanden gab, die jede Art von friedlicher Demonstration nutzten, um auf diese Weise eine Bühne für gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei zu bekommen. Keiner der Jugendlichen Vermummten hatte auch nur das Geringste mit unserem Anliegen und unserem Hiersein zu tun!

Ein junger und nach Schweiß und verbranntem Marihuana stinkender junger Mann, der neben mir stand und die rechte Faust siegesbewusst in den Himmel reckte, zeigte auf seine schwarze 3-Loch-Balaclava: „Na, wie find’st det, Alter? Ha‘ ich mir im Bundeswehr-Shop bestellt! Echt mit böse Augen und so! Det tragen och die SEKs! Denn denken die Bullen v’leicht, det ick ihresgleichen bin!“

Die Polizisten, die den Einsatzwagen entstiegen waren, hatten damit begonnen, uns zu umzingeln. Ich sah Helme, Schilde und Schlagstöcke. Mir wurde mulmig zumute.

Ein Beamter forderte uns durch sein Megaphon auf, den Platz unverzüglich zu räumen. Die Vermummten sollten ihre Hasskappen ablegen, wie sich der Beamte ausdrückte und sich einer Überprüfung ihrer Personalien unterziehen. Es war ganz klar, dass von den anwesenden Einsatzfahrzeugen von nun an eine Videoaufzeichnung unseres Häufleins erfolgen würde.

Die vermummten Jugendlichen antworteten mit einem Freudengejohle. Eine leere und zerknüllte Zigarettenschachtel fiel auf meine Fußspitzen, ich hob sie mechanisch auf und schleuderte sie weg. Eine Windbö wehte sie in Richtung auf die Linie der Polizei.

Immer mehr Schaulustige versammelten sich nun. Ordner der Polizei drängten die Neugierigen ab.

Die Vermummten skandierten nun im Chor: „Bullen raus! Bullen raus! Bullen raus!“ Der junge Mann neben mir mit der schwarzen Sturmhaube vorm Gesicht sprang dazu rhythmisch in die Höhe und streckte die rechte Faust aus.

Trillerpfeifen wurden in den Reihen der Polizei laut. Immer mehr Einsatzfahrzeuge mit blauen Rundumleuchten fuhren nun vor. Links und rechts von uns brandete ein weißliches-blaues Meer zuckender Rundumleuchten auf.

Nun änderte sich der laute Singsang der Vermummten, die offensichtlich erreicht hatten, was sie wollten. Sie skandierten jetzt laut: „Hass! Hass! Hass!“ und reckten dazu ihre ausgestreckten rechten Fäuste hoch in die Luft.

Es schoss mir durch den Kopf, mit den Beamten reden zu wollen. Das waren doch schließlich Menschen wie wir auch. Menschen mit Familien, die auch um ihren Job bangten und nur bemüht waren, ihre Angehörigen irgendwie durch die ungewissen Zeiten zu bringen!

In diesem Augenblick begannen die Vermummten, Steine, leere Flaschen und andere Geschosse, die sie offenbar mitgebracht hatten, auf die Polizeikette zu schleudern.

Trillerpfeifen schrillten auf, Schilde wurden hoch gerissen und ich sah schwarze Knüppel aufzucken und auf ungeschützte Köpfe und Schultern herab sausen.

Die Vermummten antworteten mit lauten Freudengejohle, dass wie Kriegsgeschrei klang. Ein Feuerwerkskörper, irgendein Böller, zerbarst krachend zwischen den Stiefeln der Polizisten.

Ich sah Herbert unter den Schlägen von Gummiknüppeln zu Boden gehen. Sein Megaphon polterte auf das Straßenpflaster. Er blutete an der Stirn. Zwei Beamte drehten ihm die Arme auf den Rücken, während ein anderer Polizist immer noch Herbert einprügelte, der dabei laut schrie, wie ein Tier in der Falle.

Wir wichen entsetzt zurück. Einer der Vermummten zog eine Waffe, anscheinend eine Schreckschusspistole, aus der Tasche und feuerte in die Luft. Die Schüsse krachten hallend über den Potsdamer Platz. Die Vermummten hatten erreicht, was sie erreichen wollten. Sie hatten wieder einmal ihren Krieg mit der Polizei, für den unsere angemeldete Demo einen willkommenen Anlass geboten hatte.

Einer der zurückweichenden Vermummten stolperte: „Weg hier!“, schrie er in heller Panik: „Die Bullenschweine setzen Tränengas ein!“

Auch Hellen schrie mir ins Ohr: „Bloß weg hier!“

Bilder aus Berichten über die 1968er Krawalle liefen in Sekundenbruchteile vor meinem geistigen Auge ab: der Schah-Besuch, der Tod von Benno Ohnesorg! Siedend heiß schoss die Angst in mir hoch. So mussten sich Soldaten im Krieg, vor einem Sturmangriff fühlen, bevor sie mit dem Hass und der ungebremsten Gewalt ihrer Gegner konfrontiert wurden.

Hellen zerrte mich am Ärmel nach hinten, fort von den los knüppelnden Polizisten, fort von den Steine und leere Flaschen schleudernden Vermummten.

Ich warf mein Transparent fort.

Vorbei an Passanten, die uns neugierig anglotzten, erreichten wir atemlos den noch nicht durch Polizei abgesperrten südlichen Eingang des Bahnhofes Potsdamer Platz.

Ohne eine Fahrkarte zu besitzen oder zu lösen, sprangen wir in heller Panik in die gerade aus Pankow eingefahrene U-Bahn der Linie U2, die über Nollendorfplatz, Zoologischen Garten, Ernst-Reuter-Platz und Olympiastadion bis nach Ruhleben fuhr.

Unter der wie eine gewaltige Kaiserkrone wirkenden Kuppelkonstruktion des oberirdischen U-Bahnhofes Nollendorfplatz stiegen wir aus.

Obwohl wir in jeder Minute damit rechneten, festgenommen zu werden, erreichten wir unbehelligt den Bahnhof Südkreuz.

Erst, als wir wieder im Zug nach Halle/Saale saßen, wagten wir, per Smartphone Kontakt zu unseren Kollegen aufzunehmen. Endlich war der Vibrationsalarm von Hellens Handy vernehmbar.

„Herbert liegt mit Platzwunden am Kopf im Krankenhaus!“, las sie atemlos vor und ich sah, wie ihre Hände, die das Handy hielten, dabei zitternden. Als würde sie frieren, hatte sie die Ärmel ihres bunten dicken Pullovers beinahe bis zu den Fingerspitzen gezogen.

Das Fahrgestell des Zuges ratterte und stieß im Gleisbett. Draußen, vor den Scheiben der Fenster, in denen sich unsere rotfleckigen Gesichter spiegelten, zog wieder, diesmal allerdings in umgekehrter Richtung, die malerische Landschaft des Flämings vorüber.

„Ulrich, Helga, Steve und Karla haben sie wohl vorläufig festgenommen! Vom Rest erstmal keine Spur!“, ergänzte Hellen. Sie schlug die Hände entsetzt vor den Mund.

Obwohl ich eigentlich nichts verbrochen hatte, war ich doch sicher, bei meiner Ankunft am Hauptbahnhof in Halle/Saale festgenommen zu werden. Umso erstaunter war ich, als dies nicht geschah.

„Was habt ihr in Berlin nur angestellt?“, fragte meine Frau verärgert, als ich am Abend zu Hause eintraf. Ich zitterte am ganzen Körper vor Angst und Aufregung.

„Wieso?“, fragte ich.

„Wieso? Wieso?“, äffte meine Frau: „Die Polizei war hier und hat nach Dir gesucht! Da kannst Du Dich frisch machen, was jetzt auf Dich zu kommt!“

Die Fahrt nach Berlin hatte die Konsequenz, dass gegen mich ein Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung eingeleitet wurde.

Ich hätte die Polizei provoziert und ein Polizeivideo zeigte, wie ich einen nicht näher zu identifizierenden und offensichtlich gefährlichen Gegenstand, der durchaus ein Stein oder ein Brandsatz sein konnte, in Richtung auf die Polizistenkette schleuderte.

Mein Einwand, dass es sich um eine leere Zigarettenschachtel handelte, die der Wind auf die Polizisten zu geweht hatte, wurde als bloße Schutzbehauptung abgetan.

Der Zornige: Werdung eines Terroristen

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