Читать книгу Der Zornige: Werdung eines Terroristen - Ralph Ardnassak - Страница 22
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ОглавлениеEs arbeitete sich unruhiger, seitdem wir Claas Möller und Christina Schmidtbaur in ihren Büros sitzen wussten.
Tatsächlich lichteten sich unsere Reihen nun nach und nach. Manche gingen freiwillig, andere wurden gegangen. Gerüchte kursierten und wir arbeiteten nun, wie auf Abruf. Jeder blickte mit Bangen in seine persönliche Zukunft und schrieb Bewerbungen, was das Zeug hielt.
Die Patienten spürten unsere Angst, sahen und mitleidig an und versuchten, uns Mut zuzusprechen.
Krank oder schwanger durfte jetzt niemand von uns werden! Mit solchen Vorkommen hätten wir uns exponiert und uns in die Schusslinie von Claas Möller und Christina Schmidtbaur begeben.
Jeder achtete jetzt peinlich genau auf Pünktlichkeit und Korrektheit. Urlaub zu beantragen und ihn dann auch zu nehmen, galt beinahe schon als Sakrileg!
Das Leben reduzierte sich quasi schlagartig auf die Notwendigkeit, den Job behalten zu müssen. Es war, als reduziere sich Leben auf den Job, als sei der Job das Leben, was ja in gewisser Weise auch stimmte.
Der Blick verengte und fokussierte sich auf die Arbeit. Selbst die Freizeit nach Feierabend und die Wochenenden dienten nur noch ganz allein dem Zweck, um wieder fit für den neuen Arbeitstag oder fit für die kommende Arbeitswoche zu werden.
Nach und nach würde uns die endgültige Schließung einzelner Stationen und medizinischer Bereiche angekündigt. Als erstes starb die Gynäkologie, dann die Pädiatrie.
Über Jahrzehnte hinweg hatte unsere Stadt mit ihren mehr als 30.000 Einwohnern eine eigene Gynäkologie und Pädiatrie besessen und beide Bereiche waren stets gut ausgelastet gewesen. Wer ein Kind zur Welt bringen wollte, konnte dies im Kreissaal unseres Klinikums tun. Und Eltern, deren Kinder stationär behandelt werden mussten, konnten mit dem Fahrrad oder zu Fuß ins Klinikum kommen, um ihre Sprösslinge während der Besuchszeiten aufzusuchen.
Stand nun eine Entbindung an, so musste die Kreißende 30 km weiter bis ins nächste größere Krankenhaus fahren. Kinder, die stationär behandelt werden mussten, traf dasselbe Schicksal, denn die nächste Pädiatrie gab es auch erst in jenem größeren Krankenhaus am Rande des Harzes.
Besonders arg traf es natürlich wieder die Ärmsten. Eltern, die Hartz IV bezogen und deren Kinder stationär behandelt werden mussten, konnten, gerade wenn sie kein eigenes Auto besaßen, ihren Nachwuchs nur selten im Krankenhaus besuchen, denn auch die Verbindungen mit Bus und Bahn waren aus Profitgründen zusammen gestrichen worden oder exorbitant teuer.
Unser Klinikum sollte sich „gesund“ schrumpfen, wie Claas Möller es ausdrückte. Es wurde jedoch zu einem besseren Bettenhaus, aus dem viele medizinische Funktionsbereiche einfach ausgelagert wurden.
Die leer stehenden Stationen und Räumlichkeiten sollten gewinnbringend genutzt werden. Man sprach von „Funktionstrakten“.
Tatsächlich bemühte man sich eine Zeit lang, diese Räume an Gewerbetreibende zu vermieten. Von einem Friseur und einem Zeitungsladen war die Rede, von einer Parfümerie, welche hier einziehen sollte.
Die exorbitant hohen Mieten und der schlechte bauliche Zustand verschreckten jedoch alle Interessenten. So standen die Räumlichkeiten leer und Claas Möller plädierte gegenüber der Klinik-Holding für einen Abriss aus wirtschaftlichen Gründen.
Immer häufiger geisterte das Gerücht von einer möglichen Totalschließung durch die Gänge.
An einem Morgen fand ich Hellen, schluchzend hingekauert auf der Bank der Raucherinsel.
„Was ist denn los?“, fragte ich besorgt. Ich tippte auf Ärger mit dem Ehemann.
„Ich hab solche Angst!“, weinte sie: „Wenn sie hier dicht machen, was soll dann nur werden? Mich nimmt doch keiner mehr! Am besten, ich nehme mir einen Strick!“
In der Pause blickte ich aus einem Fenster der Station. Gegenüber lag der zweietagige Klinkerbau der Physiotherapie. Dort war auch die Röntgenabteilung untergebracht. Davor parkten die Autos von Ärzten, Schwestern und Pflegern.
Graue und tief hängende Wolken zogen über den Himmel in Richtung Osten, wie Schafe, die ein wütender Hirtenhund vor sich her trieb. Der Wind heulte über uns im Dachgebälk.
Nach Osten zu erstreckten sich uferlose Felder. Begrenzt durch die ausgefransten Kronen einer Reihe uralter Pappeln, die im Wind schwankten und den hohen schlanken Schornstein der Stadtwerke.
Gewaltige Schwärme von Krähen hatten sich auf den Äckern nieder gelassen und die großen grau-schwarzen Vögel stolperten über die Furchen und erinnerten mich dabei an Soldaten, die ein erobertes Feld nach Feinden durchkämmten.
Durch die dünne Trockenbauwand, die mit billiger Raufasertapete beklebt und anschließend hell gestrichen worden war, hörte ich die aufreizende Stimme von Christina Schmidtbaur, die in ihrem fränkischen Dialekt telefonierte.
Draußen, auf dem Stationsflur, brach währenddessen Hellen zusammen. Sie fiel einfach um und ihr Kopf knallte krachend auf den mit Linoleum belegten Betonfußboden. Reglos lag sie vor dem Wäschewagen und der Sauerstoffflasche.
Wir trugen sie in den Ruheraum.
„Ist den kein Arzt da?“, brüllte Herbert.
Christina Schmidtbaur steckte ihren schönen Kopf durch die Tür und fragte mit distanzierter Höflichkeit: „Sie wird doch wohl ned schwanga sei?“