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Ich bin also der Robert Ems und geboren bin ich zu Beginn der 1960er Jahre in Königs Wusterhausen.

Mir wird immer ganz warm ums Herze, wenn ich an Königs Wusterhausen denke und ich muss mich gleich bezwingen, dann nicht wieder anzufangen, zu berlinern!

Ich bin lange nicht dort gewesen, in KW, ausgesprochen KaWe und meine Wurzeln in meiner Heimatstadt, sind seit dem Tode meiner Eltern leider gekappt und seit jenen Tagen, da es mich, der Liebe wegen, ins Mitteldeutsche verschlagen hat!

Ich denke jetzt oft mit Wehmut an meine märkische Streusandbüchse, wie das Kurfürstentum Brandenburg ob seiner sandigen Böden oft genannt wurde. Ich denke mit Schmerzen an die weiten und schier uferlosen Forsten aus den stets nach dem klebrigen, aromatischen und honigartigen Harz duftenden Waldkiefern, in denen ich als Kind mit Vater und Tante spazieren ging oder mit dem Rad fuhr, dabei stets ängstlich bemüht, mit dem auf seinem großen alten 28er Herrenrad voraus fahrenden Vater mitzuhalten und nicht im Sand der Wege stecken zu bleiben.

Ich denke, während ich dabei regelrecht ein schmerzhaftes Ziehen in der Brust verspüre, an die zahlreichen Gewässer in der Umgebung meiner Heimatstadt, an die Dahme, den Krüpel-, den Kriminick- und den Senziger See und an den Wolziger See und den Notte-Kanal, zu dem sie heute Notte-Fließ sagen.

Ich denke an die im morgendlichen Nebel auf den Feldern vor Ragow äsenden Sprünge schlanker rot-silbriger Rehe. Ich denke an das Quietschen der alten klapprigen Bahnhofstür in Königs Wusterhausen, an das kühle helle Metall ihres silbrig glänzenden Griffes, der sich diagonal und verbogen über das abgeschabte Holz ihres mächtigen grauen Türblattes zog.

Ich denke an den warmen Geruch nach Papier und nach frischer Druckerschwärze, der aus der kleinen Luke des gelb gestrichenen Zeitungskiosks am Fernbahnsteig wehte, in dem es stets gerade diejenigen Kinderzeitschriften nicht gab, die ich mir wünschte.

Ich denke an die mehlig-wässrige Konsistenz der langen, fettigen und stets knorpeligen Bockwürste zu 90 Pfennig das Stück, die sie am Bahnsteig verkauften und auf einem weißgrauen Papptablettchen mit einem Klacks Senf, der an frische Entenscheiße erinnerte und mit einem pappigen Brötchen, aus dem Fenster heraus auf den Bahnsteig reichten.

Ich denke an den rostigen und verrußten Wasserturm beim Bahnhof, am Gebäude des Stellwerks, neben der Straße; an das rund und glatt getretene anthrazitfarbene Straßenpflaster in der Altstadt; an das hellbraune regelmäßige Muster der Gehwegplatten, über die ganze Heere schwarzroter Feuerwanzen krabbelten, deren mit schwarzen Punkten und Dreiecken auf rotem Grund gezeichnete Rückenpanzer an die Schilde geheimnisvoller afrikanischer Neger- oder Menschen fressender Südseestämme erinnerten.

Ich denke an das zweigiebelige hellgrau verputzte Schloss mit seinen parallelen leuchtend roten Satteldächern, unter denen das berühmte Tabakskollegium einst tagte, an den dicken Treppenturm mit den schrägen Fenstern und der schiefergedeckten Schweifhaube. An die das Schloss umrahmenden mannsdicken, grauen und mächtigen Platanen mit ihrer großflächig abblätternden Rinde; an die eleganten zweietagigen Kavaliershäuser beim Schloss, in denen meine feierliche Einschulung stattfand.

Ich denke an den weitläufigen Schlosspark mit all den uralten Bäumen und dem gepflegten grünen Rasen, der an einen Teppich oder Golfplatz erinnerte.

Ich denke an die hohen schlanken Gittermasten der Funktürme, das Wahrzeichen meiner Heimatstadt, oben auf dem Funkerberg. Ich denke an die ockerfarbene Fassade der evangelischen Kreuzkirche, oben am Kirchplatz und in der Nähe des Krankenhauses.

Ich denke an den markanten Niederlehmer Wasserturm aus grauem Kalksandstein, der einst nach dem Vorbild des Istanbuler Galaturms errichtet worden war.

Ich denke an den einsamen Uferweg des Tiergartens, draußen in Neue Mühle. Ich denke an den uralten mächtigen Eichenwald, den es dort gibt und an die Landzunge Husareneck, die mein Vater so liebte, mit ihren zerschnitzten Bänken in Ufernähe zur Dahme, die sie hier heute Staabe nennen. Ich denke an die beeindruckenden, silbrig-grau glänzenden Stämme der dickleibigen und hohen Buchen, die den Waldweg bis zum Husareneck hin säumten. Buchen, die mich an dorische Säulen oder an die Pfeiler hoher gotischer Kathedralen erinnerten. Buchen, deren Stämme die Schnitzereien unzähliger Herzchen und Initialen trugen, die langsam vernarbten.

Ich denke daran, dass man zu Brötchen hier Schrippen sagte, zu einer Scheibe Brot Stulle und dass ein Glas Bier „eine Molle“ war.

Ich denke daran, dass man hier Schlachtplatte und Eisbein liebte und Fischgerichte, besonders Aal und Forelle und Spargel in allen nur denkbaren Variationen und dazu Berliner Weiße mit Schuss!

Ich denke an das rötliche und noch von früher durchfahrenden Dampflokomotiven stark verrußte Backsteingebäude des Bahnhofs mit den hohen romanischen Fensterbögen, das mich stets ein wenig an ein mittelalterliches Schloss erinnerte und daran, dass ich mich als Junge so oft verzweifelt fragte, wer wohl hinter den zugezogenen Vorhängen der hell erleuchteten Fenster im Obergeschoß des Bahnhofsgebäudes wohnen mochte, während das langgezogene hohe und ein wenig unheimliche Signal einer Dampflok herüber wehte.

Ich erinnere mich an das gelbliche Leuchten der großen Bahnhofsuhr im hohen backsteinernen Giebel des Bahnhofsgebäudes, die die nächtliche und einsame Bahnhofstraße und die im Abendwind zitternden Gipfel ihrer uralten Robinien und Platanen erleuchtete, als wäre sie ein zweiter, ein künstlicher Mond.

Ich erinnere mich an die zartgrünen raschelnden Strähnen der Weiden, die draußen in Neue Mühle in die silbrig glänzende Dahme hingen und die mich von weitem an die Zöpfe der Frauenfrisuren erinnerten.

Ich erinnere mich an die silbrig-grau verwitterten, knarrenden Planken all der Stege, an die alten ausrangierten Autoreifen, die man gern daran zum Schutz der Bootskörper angebunden hatte und an das schmatzende Geräusch, welches die kleinen unberechenbaren Wellen machten, die die sorgsam mit Planen abgedeckten Bootsleiber regelrecht tanzen ließen.

Ich denke mit Wehmut an unsere Ausflüge an den nahen Rangsdorfer See, dessen blauschimmernder Spiegel zwischen den waldreichen Ufern eingebettet lag, wie ein Edelstein in einem Ring. Ich erinnere mich an tausende Wildgänse, die an seinem südlichen Ufer rasteten und von denen es hieß, sie kämen aus Sibirien.

Ich entsinne mich der ausgedehnten Luchwiesen im Süden des Sees und der Klage meines Vaters, dass es hier keinerlei ufernahen Wanderweg gäbe.

Und ich entsinne mich des dicken Eises, dass der See im Winter stets zeitig trug. Der blauen oder grünen Farbe oder der bläulich durchscheinenden Eisdecke des Rangsdorfer Sees.

Ich entsinne mich, wie, vermutlich ausgelöst durch die Sonneneinstrahlung, plötzlich Risse in der Eisfläche des Sees auftraten, während wir darüber hin liefen. Ich erinnere mich an das Geräusch dieses Reißens, wie es urplötzlich erschreckend und explosionsartig laut da war und an ein Projektil erinnerte, welches in der klaren frostigen Winterluft auf uns abgefeuert schien. An das hohe Pfeifen dabei, beinahe schon körperlich spürbar in der kristallklaren frostigen Luft, die in die Nase und in die Ränder der Ohrmuscheln biss, ein Geräusch, welches im Bruchteil von Sekunden von hohen Tönen bis zu tiefen Frequenzen abfiel und uns dadurch stets erschreckte.

Die Dicke der Eisdecke des Rangsdorfer Sees betrug bis zu 20 cm, so dass selbst Lastkraftwagen auf seiner ganzen Länge von 18 km darüber hin fahren konnten.

Ich erinnere mich der sowjetischen Soldaten, die aus Asien stammende Silberkarpfen in diesem See ausgesetzt hatten, um sie dann im Winter geduldig an ihren Eislöchern zu angeln.

Silberkarpfen, die einst das Rückgrat des Fischbestandes im Rangsdorfer See gebildet hatten und die spätestens seit der langen Eisbedeckung des Sees im Winter 2009/2010 ebenso aus dieser Gegend verschwunden sind, wie die bereits 1994 abgezogenen Sowjetsoldaten.

Am Nordufer des Sees gab es eine kleine Erhebung. Eigentlich viel eher einen Hügel, den die Anwohner den Weinberg nannten. Einst, vielleicht im Mittelalter, war hier also offensichtlich sogar Wein angebaut worden, so weit oben im Norden! Aber der Wein war gegangen, ebenso wie die Sowjetsoldaten und die von ihnen im See ausgesetzten asiatischen Silberkarpfen. Was an Leben hinter uns lag, das war tot. Und darüber nach zu sinnen, bereitete uns ebensolchen Schmerz, wie die Erinnerung an einen Menschen der gestorben war.

Deshalb war es mitunter besser, nicht an die Vergangenheit zu denken! Deshalb wäre es humaner gewesen, der Mensch besäße keine Erinnerungen!

Der Zornige: Werdung eines Terroristen

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