Читать книгу Der Zornige: Werdung eines Terroristen - Ralph Ardnassak - Страница 7
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ОглавлениеMit der Wende waren für jeden von uns große Hoffnungen verbunden. Hoffnungen, die sich nicht nur auf die Möglichkeiten begrenzten, endlich in den Geschäften Bananen einkaufen zu können, so wie wir vorher in den HO-Läden Weiß- und Rotkohl gekauft hatten; auf Autos nicht mehr ein halbes Leben lang warten zu müssen und überall hin reisen zu können, sofern das Geld dafür verfügbar war!
Mit Speck fing man bekanntlich Mäuse! Westgeld, Warenangebot, Reise- und Meinungsfreiheit, das war derjenige Speck, mit dem man uns geködert hatte!
Nur was nützte einem das Westgeld, wenn man als Arbeitsloser keines mehr bekam? Was nützten das Warenangebot und all die Möglichkeiten, zu reisen, wenn man es sich nicht mehr leisten konnte? Wozu hatte man Meinungs- und Pressefreiheit, wenn die Öffentlichkeit doch nur Dasjenige interessierte, was die Mächtigen sagten und wenn die Presse quasi automatisch nur Jenes druckte, was Diejenigen gedruckt sehen wollten, denen die Zeitungen und die Druckhäuser gehörten?
Was stets so verführerisch von drüben geglänzt hatte, löste sich, sobald man es in Händen hielt, wie ein Tarnanstrich von der Oberfläche und darunter kam die Tatsache zum Vorschein, dass man nur als Konsument gebraucht wurde. Und wer nicht mehr konsumieren konnte, der fiel auch durch den letzten Rost ins soziale Nirwana, aus dem ihn niemand mehr je noch herauszuholen vermochte!
Dabei hatte ich eigentlich noch Glück gehabt! Mein Beruf, ich hatte Alten- und Krankenpfleger gelernt, würde wohl auch noch nach der Wende gebraucht werden, weil er nicht oder nur sehr wenig ideologisch besetzt gewesen war.
Dennoch redeten viele davon, die Alten würden nun alle nach Mallorca gehen oder nach Südfrankreich und in ostdeutschen Kliniken würden sich wohl überhaupt nur noch Mittellose behandeln lassen wollen.
Die Erkenntnis, dass auch das Alt- und Kranksein in der neuen freien und demokratischen Gesellschaft eine Menge Geld kostete und nur dann wirklich genossen und ausgekostet werden konnte, sofern man zeitlebens Zeit und Muße gehabt hatte, ein ererbtes Kapital durch Zinsen zielstrebig zu vermehren, was wohl kaum einem von uns im Osten möglich gewesen war, kam wenig später.
Zu DDR-Zeiten hatten wir kaputte Städte, marode Straßen und leere Schaufenster, aber alles war voller Leben gewesen! Heute haben wir piekfeine teure und moderne Städte, im Osten befinden sich die besten Straßen Deutschlands, weil es für ihre andauernde Sanierung die höchsten Fördermittel einzustreichen gab und die Schaufenster quellen über vor Angeboten. Nur, dass viele Städte auszusterben drohen und verwaisen, denn es gibt keine Arbeit und außerdem kaum jemanden mehr, der sich die explodierenden Mieten und Nebenkosten noch leisten kann oder der sich nachts noch auf die einsamen Straßen traut, angesichts der Tatsache, dass sich das Selbstverständnis der Polizei auch grundlegend gewandelt hat, weg vom Ordnungshüter und dafür hin zum reinen Buß- und Ordnungsgeldeinsammler, der auch schon mal weg sieht und nicht tätig wird, wo es nichts einzustreichen gibt.
Arbeiten gehen, heißt keinesfalls, sich selbst zu verwirklichen oder sich und seine Erfahrungen einzubringen! Arbeiten gehen heißt, tagtäglich um seinen Job zu bangen, heißt kämpfen und sich verbiegen, heißt lügen und denunzieren und sich anbiedern, nur, um dadurch möglichst lange in Arbeit zu bleiben!
Alles Eigenschaften, die westdeutsche Soziologen an uns diktaturerfahrenen Ostdeutschen nach der Wende so sehr verdammten! Wir sollten doch endlich, die Technik des aufrechten Ganges erlernen! Nun trainieren sie uns all diese Eigenschaften schneller und gründlicher wieder an, als es Partei und Staatssicherheit in 40 Jahren DDR je vermocht hätten! Der aufrechte Gang endet spätestens vor dem Büro des Chefs! Und wer sich nicht verbiegen möchte, landet als angeblich nicht teamfähig wieder auf dem Arbeitsamt, dem Bautzen II des Kapitals!
Ich weiß, so darf ich als Ostdeutscher nicht denken! Das will keiner hören, auch wenn es zehnmal die Wahrheit ist! Die Wahrheit will man zu keiner Zeit hören! Stattdessen sollte ich dankbar sein, weil ich die Freiheit bekommen habe, Bananen einkaufen und auf dem Arbeitsamt eine Nummer ziehen zu können, wenn ich das Maul einmal aufreiße.
Immer wieder verblüfft mich nur die Hellsichtigkeit von Marx, Engels und Lenin! Zu DDR-Zeiten, im Staatsbürgerkundeunterricht, habe ich immer geglaubt, die alten Zausel spinnen und das ist vollkommen übertrieben und nur kommunistische Propaganda, mit der Ausbeutung des Menschen und der Unmenschlichkeit des Kapitals! Aber man muss zugestehen, dass die tatsächlich nicht einmal übertrieben haben, sondern alles ganz exakt so beschrieben haben, wie es ist! Unsere Staatsbürgerkunde- und Geschichtsbücher, über deren Inhalt wir damals gelacht haben, lesen sich heute wie eine präzise Zustandsbeschreibung unserer gegenwärtigen politischen und wirtschaftlichen Umgebung! Und fast, besonders in den Wartezonen der Arbeits- und Sozialämter, wird nun auch die verbiesterte Entschlossenheit verständlich, mit welcher die greisen und vertrottelten Genossen, die den Kapitalismus in jungen Jahren noch am eigenen Leibe erlebt haben, seine Rückkehr nach 1945 notfalls gewaltsam verhindern wollten!
Demokratie und Freiheit sind vollkommen sinnentleerte Phrasen, wenn sie nur einer Handvoll superreicher Familien dienen. Demokratie heißt Volksherrschaft, soweit ich mich noch entsinne und nicht Herrschaft der wenigen Superreichen, die sich ein Parlament und dessen Machtapparat kaufen können!
Vor der Wende, als es noch zwei deutsche Staaten auf deutschem Boden gab, war das alles mal anders, habe ich mir von denen sagen lassen, die das wissen müssen. Da war das Kapital sozialer und das Bruttosozialprodukt wurde gerechter verteilt, weil man der Weltöffentlichkeit beweisen musste, dass der Kapitalismus das menschenfreundlichere System war, in dem es sich freier und vor allem besser leben ließ. Heute muss der Kapitalismus niemandem mehr etwas mehr beweisen, denn es gibt praktisch nur noch ihn als Gesellschaftsentwurf auf der Welt und man muss auch auf niemanden mehr Rücksicht nehmen. Und da heißt es nun plötzlich, Knüppel aus dem Sack und ganz schnell die sogenannten sozialen Errungenschaften wieder zurück gebaut und schnell zurück zu jener Art von Raubtier- oder Manchesterkapitalismus, wie ihn schon Marx und Engels beschrieben und erlebt haben!
Diejenigen, die das wissen müssen, sagen, nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Gesellschaftsentwürfe in Mittel- und Osteuropa sei auch der Entwurf der sozialen Marktwirtschaft nach Ludwig Erhardt zusammen gebrochen und der Kapitalismus habe sich von jedem sozialen Anspruch getrennt.
Nun aber, nach der Finanzkrise, würde der Kapitalismus sich auch noch von jeder Form an Demokratie trennen, sei es nun auf politischer Ebene oder auf der Ebene der Gewerkschaften in den Betrieben. Die Gier sei so groß geworden, dass diktatorische oder neufeudalistische Strukturen im Entstehen seien, die von den Menschen am Ende sogar akzeptiert würden.
Das alles bereitet mir große Angst! Wohin soll das alles noch führen? In eine anarchische Gesellschaft, in der es weder soziale noch physische Sicherheit für den kleinen Mann mehr gibt, in der er keinen Lohn mehr für seine Arbeit und im Alter keine Rente mehr erhält? In eine vollkommen amoralische und asoziale Gesellschaftsstruktur, in der den Reichen alles gehört und in der die Reichen automatisch auch alles dürfen und bestimmen und in der nur noch der eine gesellschaftliche Impetus gilt, wonach der Reiche noch reicher werden muss?
Was mich aber noch mehr als diese Möglichkeit beunruhigt, ist die Tatsache, dass niemand ein Interesse hat, dagegen etwas zu unternehmen, sondern alle dabei kräftig mittun!
Jeder kleine Arbeitnehmer, ja sogar jeder Arbeitslose, verhält sich so, als müsse er selbst ein kleiner veritabler und vor allem gnadenlos egoistischer Kapitalist werden! Das ist durchaus so gewollt und wird durch die Medien und die Kultur noch gezielt befeuert! Jeder, der etwas dagegen sagt, wird als Verschwörungstheoretiker oder Stasi-Spitzel denunziert und damit sofort mundtot gemacht! Das führt nicht nur zur Anpassung aller Menschen an den unmenschlichen neoliberalen Mainstream, sondern auch zur Entsolidarisierung der Gesellschaft und zur allgemeinen Verrohung der Sitten und Gebräuche! Das führt zu explodierender Kriminalität, zum Rückfall in eine Ausländerfeindlichkeit, die fatal an die Judenpogrome des Dritten Reiches erinnert, zu Kommunistenhass, Bigotterie und Intoleranz und Heuchelei, dass einem davon speiübel werden kann! Es führt zu Zensur und einseitiger Berichterstattung, zur Monopolisierung und Privatisierung in allen Bereichen der Gesellschaft. Dazu, dass die Stärkeren lustvoll und sadistisch auf den Schwächeren herum trampeln, anstatt sie zu unterstützen, zu kalten Enteignungen, Schauprozessen, Zweiklassen-Justiz, Zweiklassen-Bildungssystemen und Zweiklassen-Medizin. Es führt zur politischen und gesellschaftlichen Kapitulation und Kastration des Bürgers, der nur noch um seine paar erbärmlichen Besitztümer und den Abstieg ins soziale Nichts fürchten muss! Es führt zur Spaltung und zum Zerreißen der Gesellschaft und zur Pervertierung einer längst rein lobbyistisch ausgerichteten Politik, die als Vollstrecker der Wünsche des Großkapitals agiert!
Es führt zur Erblichkeit politischer und parlamentarischer Ämter, zur Erblichkeit der Richtertitel und Generalsränge und zu skrupelloser Selbstbedienungsmentalität bei den Mächtigen, die niemandem mehr Rechenschaft schulden!
Niemand kann sich ernsthaft wünschen, in einer solchen Gesellschaft leben zu müssen, in der allein Derjenige das Sagen hat, der das Geld besitzt und die sich nur noch allein dadurch von der spätfeudalen Gesellschaft unterscheidet, in der es noch die Leibeigenschaft und die Prügelstrafe gab und das Recht der ersten Nacht, dass der Fabrikbesitzer heute nicht mehr in der achtspännigen Droschke vorfährt, sondern in der S-Klasse von Daimler-Benz, im Maybach, im Bentley oder im Porsche Cabriolet!
Niemand kann sich ernsthaft wünschen in einer Gesellschaft zu leben, deren Spielregeln nicht von Humanismus, Demokratie und Sachverstand, sondern von der Höhe des jeweiligen privaten Bankkontos bestimmt werden!
Niemand kann sich ernsthaft wünschen, in einer solchen Art von Gesellschaft leben zu müssen, es sei denn, er gehört zu jenen sagenhaft reichen Familien im Lande, deren Namen aus gutem Grund keiner wirklich kennt und deren Zahl vermutlich an den Fingern beider Hände abgezählt werden kann.
Niemand kann sich ernsthaft wünschen, in einer solchen Gesellschaft leben zu müssen und niemand müsste sich eigentlich noch ernsthaft darüber wundern, wenn angesichts dieser Entwicklungen immer mehr Menschen, vor allem im Osten, die noch etwas gänzlich anderes kennengelernt haben, rufen werden: „Baut endlich die Mauer wieder auf! Aber baut sie unbedingt noch zehn Meter höher als zuvor!“
Aber ich weiß, so darf, so soll ich nicht denken und schon gar nicht reden, sonst werfen mir meine Kollegen wieder den Satz an den Kopf: „Dann verpiss Dich doch endlich und hau ab, nach Nordkorea!“
Ich denke dann aber immer an den Text dieses Liedes, das ich früher immer so gern gehört habe und wegen dem sie mich bei der NVA sogar in den Bau stecken wollten, als ich es einmal beim Waffenreinigen auf dem Kompanieflur laut gesungen habe:
„Die Gedanken sind frei,
wer kann sie erraten?
Sie fliegen vorbei
wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen,
kein Jäger erschießen
mit Pulver und Blei.
Die Gedanken sind frei!
Ich denke, was ich will
und was mich beglücket,
doch alles in der Still',
und wie es sich schicket.
Mein Wunsch und Begehren
kann niemand verwehren,
es bleibet dabei:
Die Gedanken sind frei!
Und sperrt man mich ein
im finsteren Kerker,
ich spotte der Pein
und menschlicher Werke;
denn meine Gedanken
zerreißen die Schranken
und Mauern entzwei:
Die Gedanken sind frei!
Drum will ich auf immer
den Sorgen entsagen,
und will mich auch nimmer
mit Grillen mehr plagen.
Man kann ja im Herzen
stets lachen und scherzen
und denken dabei:
Die Gedanken sind frei!“
(Volkslied von etwa 1790, bearbeitet von Hoffmann von Fallersleben im Jahre 1841)