Читать книгу Eugenio Pacelli im Spiegel der Bischofseinsetzungen in Deutschland von 1919 bis 1939 - Raphael Hülsbömer - Страница 11
I.3 Konzept und Ziel der Studie
ОглавлениеDie von Thomas Flammer geforderte „ausführliche Darstellung“ der Bischofseinsetzungen in Deutschland in der Zeit von 1919 bis 1939 auf Basis der vatikanischen Quellen ist der Gegenstand der Studie. Die Klammer, die gewissermaßen als Konstante und Bindeglied der einzelnen Besetzungsfälle fungiert, ist die Person Pacellis. Das bedeutet, dass die einzelnen Bischofseinsetzungen in seiner Perspektive respektive seine Person im Licht der Besetzungsfälle fassbar werden. Er ist der Bezugspunkt, der es erlaubt, die Bischofseinsetzungen, die in den verschiedenen deutschen Bistümern unter ganz unterschiedlichen Vorzeichen erfolgten, zusammenzubinden. Er ist gewissermaßen das Formalobjekt, die Besetzungsfälle das Materialobjekt der Untersuchung.
Entsprechend der skizzierten Versäumnisse der bisherigen Forschung liegt die „mittlere“ Phase von Pacellis Vita, seine Zeit in München und Berlin sowie an der Spitze des Staatssekretariats, im Fokus. Dabei wird seine Nuntiaturzeit nicht als „Durchgangsstation“ zur „römischen“ Zeit gesehen, sondern umgekehrt wird seine Amtsführung als Kardinalstaatssekretär gewissermaßen von „vorne“ betrachtet, vom Nuntius her. Auf diese Weise lassen sich durch den Amtswechsel bedingte Kontinuitäten beziehungsweise Diskontinuitäten nachweisen und die Frage beantworten, ob – wie Wolf und Unterburger vermuten – die in Deutschland gewonnenen „prägenden Erfahrungen, Kenntnisse, Handlungsmuster und menschlichen Beziehungen“ Pacellis „auf sein Wirken in Rom … einen nicht zu unterschätzenden … Einfluss ausgeübt“82 haben. Indem seine Rolle bei der Besetzung der Bischofsstühle untersucht wird, werden seine „innerkirchliche“ Wirksamkeit ins Auge gefasst und Forschungslücken hinsichtlich Pacellis Verhältnis zum deutschen Episkopat geschlossen. Das Bischofsamt ist das wichtigste Amt in der Hierarchie der Teilkirche, das entscheidend Wohl und Wehe der Kirche mitverantwortet. Untersucht man das Ringen um die Besetzung der Bischofsstühle, dringt man bis zum inneren Nerv vor, an dem die eigentlichen Ziele, Intentionen und Vorstellungen der an diesem Prozess Beteiligten offen liegen. Hier bietet sich also ein ausgezeichneter Zugang zur Person Pacellis, der neue Einsichten in sein Denken und Handeln erhoffen lässt.
Die ersten Erkenntnisse zu Pacellis Bischofsbild und Besetzungspraxis sind umfassend zu überprüfen, zu erweitern und gegebenenfalls zu differenzieren. Gleichzeitig werden die bis heute in weiten Teilen unbekannten Bischofseinsetzungen erstmals in ihrem Verlauf detailliert nachvollziehbar und in ihrer Gesamtschau, vom Fixpunkt Pacelli und der Kurie aus betrachtet, tiefer einsichtig und womöglich überhaupt erst verstehbar. Zum einen werden damit die Lücken innerhalb der Bistumsgeschichten gefüllt. Zum anderen wird mit der vergleichenden interdiözesanen Perspektive auch einem zentralen Anliegen der modernen Diözesangeschichtsforschung entsprochen.83
Durch die Analyse der Bischofseinsetzungen öffnet sich ein spannungsreiches Beziehungsgeflecht als Koordinatensystem der Studie: Als Nuntius war Pacelli formal Empfänger römischer Anweisungen, als Kardinalstaatssekretär war er sowohl Weisungsempfänger – nämlich vom Papst – als auch Weisungsgeber – nämlich seinen Nachfolgern in den Nuntiaturen von Berlin und München. Wie dieses Zusammenspiel der römischen Instanzen verlief und wo die jeweils maßgebliche Schaltstelle war, lässt sich herausarbeiten. Als zweiter Bezugspunkt tritt die Ortskirche hinzu, für die nicht nur der neue Bischof bestellt wurde, sondern die zumindest in ihren Exponenten Episkopat und Domkapitel auch selbst am Besetzungsverfahren partizipierte oder diesbezüglich ihre eigenen Vorstellungen besaß und gegebenenfalls einbrachte. Die Frage, wie das Zueinander von lokal-diözesaner Perspektive und römisch-universaler Sicht des Nuntius und Kardinalstaatssekretärs funktionierte, wie viel Verständnis Pacelli etwa für die ortskirchlichen Interessen aufbrachte, ist damit ein Grundthema der Untersuchung. Die dritte Koordinate transzendiert den binnenkirchlichen Bereich: Das Bischofsamt impliziert nicht nur die innerkirchliche Dimension, sondern – genauso wie das Amt des Apostolischen Nuntius und des Kardinalstaatssekretärs – auch eine politische Seite. Als Oberhirte und kirchliche Führungsfigur übt der Diözesanbischof – allgemein formuliert – Einfluss auf die die Gesamtgesellschaft betreffende Meinungsbildung der Katholiken aus. Darum hat der Staat auch bei einer prinzipiellen Trennung von der Kirche ein Interesse daran, wer dieses Amt bekleidet, weshalb er in sämtlichen Staatskirchenverträgen ein mehr oder weniger umfassendes Mitspracherecht erhielt. Insofern ist das Verhältnis von Kirche und Staat als wesentlicher Faktor mit einbegriffen, sodass die Untersuchung auch einen Beitrag leistet zur Erforschung der Politik Pacellis beziehungsweise des Heiligen Stuhls sowohl gegenüber den Teilstaaten der Weimarer Republik als auch dem NS-Regime.
Das Beziehungsgeflecht ist auch im Kontext der Konkordatsverhandlungen von Bedeutung, die ebenfalls zu beachten sind, weil Pacelli hier die bis heute geltenden Modi der Bischofseinsetzungen aushandelte. Insofern gewährt die Studie auch neue Einblicke in die Konkordatsthematik, die – wie im Forschungsstand dargelegt – noch weiter mit den vatikanischen Quellen aufgearbeitet werden muss.
Das bisher Gesagte zusammenfassend möchte die vorliegende Arbeit Folgendes leisten: erstens die deutschen Bischofseinsetzungen zwischen 1919 und 1939 auf Basis der vatikanischen Quellen darlegen, dadurch die Lücken der Bistumsgeschichtsforschung schließen und eine vergleichende Perspektive ermöglichen; zweitens anhand der Besetzungsfälle neue Einblicke in das Denken und Handeln des Nuntius und Kardinalstaatssekretärs Pacelli gewähren und damit einen Beitrag zu seiner Biographie liefern; in diesem Rahmen sowohl drittens die kuriale Personalpolitik und die dazugehörigen Entscheidungsfindungsprozesse ausleuchten als auch viertens die darin zum Tragen kommende Beziehung zum Deutschen Reich beziehungsweise den einzelnen Teilstaaten herausstellen.