Читать книгу Eugenio Pacelli im Spiegel der Bischofseinsetzungen in Deutschland von 1919 bis 1939 - Raphael Hülsbömer - Страница 22

Die Fortgeltung der Verträge und das Wahlrecht der Domkapitel: die Debatte der Kongregation für die Außerordentlichen Kirchlichen Angelegenheiten

Оглавление

Nicht nur die staatliche Autorität reagierte auf die Eingabe Middendorfs vom 24. November, sondern ebenfalls das römische Staatssekretariat. Gasparri antwortete dem Domkapitel vier Tage nachher, erstmals seit dem Tode Hartmanns in ausführlicher Form.229 Allerdings ging er auf das Kölner Schreiben mit keinem Wort ein, sondern wiederholte eigentlich nur das, was er dem Kapitel über Pacelli bereits am 13. des Monats mitgeteilt hatte: „Was endlich die Besetzung [provisio] dieser sehr geehrten verwaisten erzbischöflichen Kirche betrifft, wird der Apostolische Nuntius in München Euch die Überlegung und den Willen des Apostolischen Stuhles eröffnen.“230 Hatte Gasparri zuvor gegenüber Pacelli noch von einer Ernennung (nomina) des Erzbischofs gesprochen,231 formulierte er hier neutraler und vorsichtiger. Wenngleich das Kapitel gegenüber dem Nuntius, der das Schreiben Gasparris nach Köln weitervermittelt hatte, einen völligen Gehorsam hinsichtlich der zu erwartenden römischen Entscheidung signalisierte, bekräftigte es doch erneut, wie notwendig und opportun das Kapitelswahlrecht sei.232

Man kann jedoch nicht sagen, dass Gasparri das Kapitel hier auf unbestimmte Zeit hinhalten und möglichst wenig Informationen preisgeben wollte, um nach einer günstigen Gelegenheit zu suchen, die eigene Position durchzusetzen. Es gab vielmehr schlicht und ergreifend noch keine endgültige Entscheidung des Heiligen Stuhls. Eine klar umrissene Position in der Frage der Bischofsinauguration in Deutschland zu finden, war das Anliegen der auf den 2. Dezember 1919 terminierten Sessio der AES, der ersten Sektion des Staatssekretariats.233

a) Eine Relation als Diskussionsgrundlage – Als Vorbereitung für die Teilnehmer der anberaumten Sitzung wurde schon im November im Staatssekretariat unter der Federführung Gasparris eine umfassende Relation angefertigt, die alles Wissenswerte für die Kardinäle zusammenfassen und so eine Entscheidung der Zweifelsfragen ermöglichen sollte.234 Der einleitende Satz eröffnete die Programmatik des Themas und deutete zugleich an, dass über den konkreten Anlass hinaus ganz prinzipielle Entscheidungen zu treffen waren: „Der schmerzhafte und unvermutete Tod seiner Eminenz, des Erzbischofs von Köln, legt dem Heiligen Stuhl die schwere Frage auf, wie die Besetzung der Erzdiözese vor sich gehen müsse.“235 In einem ersten Teil des Gutachtens (S. 5–9) wurde die bis zur WRV unbestritten geltende Rechtslage der Bischofseinsetzungen in Deutschland (ausgenommen Bayern) dargelegt, das heißt das traditionelle Wahlrecht der Domkapitel und das Exklusivrecht der Staatsoberhäupter gemäß den Zirkumskriptionsbullen und Breven aus dem 19. Jahrhundert.

b) Staatliche Übergriffe auf die kirchliche Freiheit – Die bisherige Rechtslage sei jedoch das eine, die praktische Anwendung das andere und hier seien schwere Missbräuche zu bemängeln, von denen der nächste Abschnitt (S. 9–12) der Relation handelte. Nicht nur, dass man auch in Preußen das sogenannte „Irische Veto“236 eingeführt habe, das in Hannover und der Oberrheinischen Kirchenprovinz vorgeschrieben war. Zusätzlich dazu habe sich sogar eine Tendenz durchgesetzt, dem Staatsoberhaupt das ius maiestaticum in Bezug auf die Ernennung der Bischöfe einzuräumen:

„In der Kraft dieses Rechtes sorgte man sich vor allem darum, die Freiheit der Wahl zu verringern, indem man die Einwirkung auf das Kapitel (dass es keine minder genehme Person wählen darf) in eine positive Einflussnahme der Regierung veränderte, um die besonders genehme Person wählen zu lassen; nämlich so, dass man einen Einfluss ausübte, welcher der königlichen Ernennung ebenbürtig ist, deren der Heilige Stuhl die nicht-katholischen Fürsten niemals für fähig gehalten hat.“237

Als Beispiele für eine solch umfassende Ingerenz der staatlichen Seite über das verbriefte Recht hinaus führte das Gutachten die Besetzungsfälle Limburg 1840238, Paderborn 1856 und Kulm 1857239 an. In der jüngeren Vergangenheit freilich habe die preußische Regierung – allzu sehr damit beschäftigt, die Größe des 1871 gegründeten Deutschen Reiches zu verwalten – nicht mehr so „grob“ agiert, „aber mit Geschick versucht, die Wahlen zu den wichtigeren Stühlen (Köln, Breslau, Münster) zu beeinflussen, insofern es ihr genügte, dass der Kandidat eine patriotische Gesinnung besaß“240. Dessen ungeachtet stellte das Gutachten – wohl in Anlehnung an die frühere Aussage Pacellis – fest, dass es im Allgemeinen sehr gute Bischöfe in Deutschland gegeben habe, insbesondere in Bayern, wo der katholische König gemäß dem Konkordat von 1817 das Nominationsrecht ausübte. Neben der Forcierung der staatlichen Einflussnahme habe man auch versucht, die Rolle des Heiligen Stuhls bei dem Verfahren weiter einzuschränken, indem man mittels einer feierlichen Teilnahme eines Regierungskommissars das Prestige des Souveräns erhöht habe. Der Kommissar habe stets zuerst Kenntnis vom Wahlausgang erhalten und um Erlaubnis gebeten werden müssen, dem wartenden Volk den Wahlsieger mitteilen zu dürfen.

Diese Missbräuche habe der Heilige Stuhl stets mit großer Besorgnis beobachtet und – so der Relator weiter – die AES mehrfach über mögliche Lösungen diskutieren lassen. Er erinnerte an die Sitzung vom 8. Dezember 1865, in dessen Anschluss Papst Pius IX. dem Kölner Metropolitankapitel brieflich die Absicht bekundet hatte, mit Preußen einen neuen Vertrag zu schließen, „um klar festzulegen, welche Rechte ihm [sc. dem Domkapitel, R.H.] bei der Bischofswahl zustanden, damit das Kapitel künftig leichter und freier das Recht, den eigenen Hirten zu wählen, ausüben könne“241. Allerdings sei dieses Vorhaben nicht zur Ausführung gelangt, obwohl in einer weiteren Sitzung am 23. Juli 1869 beschlossen worden sei, „alle Dokumente über die Wahl der Bischöfe zu veröffentlichen, die sich im Staatssekretariat zu den Verhandlungen zwischen dem Heiligen Stuhl und den Regierungen befanden, um den Sinn und den Umfang der päpstlichen Zirkumskriptionsbullen zu bestimmen und indirekt die irrigen Äußerungen zu widerlegen.“242 Ein dritter Versuch, die Missstände zu beschneiden und die libertas ecclesiae wiederherzustellen, sei schließlich das Zirkularschreiben des Kardinalstaatssekretärs Rampolla an die deutschen Bischöfe und Domkapitel vom 20. Juli 1900 gewesen.243

c) Mögliche Lösungsansätze zur Beseitigung der Missbräuche – Die monierten staatlichen Übergriffe seien also im 19. Jahrhundert nicht zu beseitigen gewesen. Doch nun habe sich die Situation grundlegend geändert: Die tiefgreifenden politischen Umwälzungen in Preußen und den übrigen deutschen Teilstaaten eröffneten nach Ansicht des Gutachters „die Möglichkeit, dass die Kirche ihre Freiheit in der Besetzung jener Diözesen wiedererlangen kann“244. Welche Lösungsansätze denkbar seien, thematisierte das Dokument in einem nächsten Teil (S. 13–15):

1) Eine „radikale Abschaffung des Kapitelswahlrechts“245 und die Anwendung des allgemeinen Rechts (also Can. 329 § 2 des CIC), sodass man dem jeweiligen Domkapitel höchstens zugestehe, dem Heiligen Stuhl eine Kandidatenterna einzureichen, an welche dieser jedoch nicht gebunden sein sollte.

2) Oder man könne – „falls man eine solch radikale Veränderung nicht für angemessen hält, aus Angst, den deutschen Katholiken etwas Schmerzhaftes anzutun“246 – jedweden staatlichen Einfluss auf die Bischofseinsetzungen abschaffen, indem man erkläre, die früheren Zugeständnisse an die deutschen Fürsten seien nicht auf die neue republikanische Regierung übergegangen.247 So würde die völlige Freiheit der Bischofswahl durch die Domkapitel gesichert.

3) Als letzte und abgeschwächteste Lösung schlug der Gutachter vor – „falls man Auseinandersetzungen mit der Regierung und den Verlust der finanziellen Leistungen fürchtet, die der Staat den Bischöfen zahlt“248 –, die gesamte Materie ex novo zu verhandeln. Freilich müsse dies in der Weise geschehen, dass es künftig dem Heiligen Stuhl und nicht wie bisher den Domkapiteln zukomme, sich darüber zu vergewissern, dass die Wahl nicht auf eine staatlicherseits minder genehme Person falle.

d) Auffassung I: Die Position Eugenio Pacellis – Wie sollte aber nun eine Entscheidung für eine dieser Optionen gefällt werden? Damit beschäftigte sich der nachfolgende Teil der Relation (S. 15–22). Zur Entschließungshilfe sei – so der Verfasser – der Münchener Nuntius beauftragt worden, vom Eichstätter Kanonisten Hollweck ein Gutachten einzuholen und außerdem seine eigenen Ansichten zu diesem Thema vorzulegen. Der von Pacelli in diesem Kontext erstellte Bericht vom 13. August des Jahres wurde den Kardinälen zur Information beigefügt.249 Zur Erinnerung: Pacelli hatte dort zwei Fragen unterschieden:

1) Einmal, ob die preußischen Domkapitel noch an die alte Pflicht gebunden seien, sich vor dem Wahlakt bei der staatlichen Autorität über etwaige nicht genehme Kandidaten zu vergewissern. Mit anderen Worten: ob dieses den früheren Fürsten vom Heiligen Stuhl gemachte Zugeständnis auf die neue republikanische Regierung übergegangen sei. Vom Standpunkt des kanonischen Rechts verneinte Pacelli diese Frage. Es müsse mindestens eine stillschweigende neue Zustimmung des Heiligen Stuhls vorausgesetzt werden. Diese zu geben, sei aber derzeit gefährlich. Da außerdem das Deutsche Reich in Artikel 137 der WRV jede Einmischung in die kirchliche Ämterbesetzung aufgegeben habe, sei es klug, sich erst dann zu diesem Thema öffentlich zu äußern, wenn die Verfassung wirksam in den einzelnen Teilstaaten angewendet werde.

2) Die zweite Frage betraf das Kapitelswahlrecht: Sollte dieses in Preußen (und der Oberrheinischen Kirchenprovinz) nach Ausschaltung der staatlichen Einflussnahme bestehen bleiben oder zugunsten der reinen päpstlichen Nomination gemäß Can. 329 aufgehoben werden? Zwar sei letztere Variante prinzipiell wünschenswert, jedoch gab Pacelli zu bedenken, dass die Kapitelswahlen durchaus keine schlechten Ergebnisse zeitigten, darüber hinaus schon sehr lange praktiziert würden und schließlich noch in Österreich und der Schweiz existierten. Daher plädierte Pacelli für ein schonendes Vorgehen, falls man das Wahlrecht der Domkapitel aufheben wolle. Das hieß für ihn konkret, die preußischen Bischöfe über die beste Variante dieser Reform zu befragen und des Weiteren den Kapiteln vielleicht wenigstens ein (den Heiligen Stuhl freilich nicht bindendes) Vorschlagsrecht zu belassen.

e) Auffassung II: Die Position Benedetto Ojettis – Da man sich jedoch im Staatssekretariat noch auf eine weitere Meinung stützen wollte, bat man zur selben Zeit den Kirchenrechtler und Konsultor Benedetto Ojetti SJ um ein weiteres Votum. Auch dieses Dokument, das auf den 12. August 1919 datiert, erhielten die Kardinäle als Vorbereitung auf die geplante Sessio.250 Welche Position fanden die Teilnehmer beim Jesuiten vor? Ojetti untersuchte die praktische Umsetzung der Anweisung, keine dem König minder genehme Person zum Bischof zu wählen, die Papst Pius VII. im Breve Quod de fidelium den preußischen Domkapiteln aufgegeben hatte. Dabei diagnostizierte Ojetti – ähnlich wie schon der Verfasser der vorbereitenden Ponenza – eine vehemente und übergebührliche Einflussnahme von staatlicher Seite:

„Diese den Kapiteln gegebene Empfehlung [sc. die angesprochene Anweisung des genannten Breves, R.H.] wurde Grundlage für viele Ansprüche von Seiten der bürgerlichen Autoritäten und der weltlichen und liberalen Juristen. Sie beanspruchten insbesondere, dass die Worte des Papstes nicht allein wie ein Vorschlag klängen, sondern einen ausdrücklichen Befehl enthalten würden; nicht damit zufrieden forderten sie auch, dass, um diese Verpflichtung zu erfüllen, die Kapitel gehalten seien, im Voraus [sc. vor der Wahl, R.H.] den Souverän zu befragen. Diese Forderungen sind mitnichten auf rechtliche Grundlagen gegründet, erhielten aber praktisch die Oberhand.“251

Damit meinte der Jesuit insbesondere das sich eingebürgerte Listenverfahren mit der königlichen Streichungspraxis und – „nicht nur das“252 – die Gegenwart des königlichen Kommissars im Umfeld des Wahlaktes.253 Je mehr man sich dessen Rolle anschaue, „desto mehr wird man die der Kirche auferlegte Erniedrigung sehen“254. Um diese den Kardinälen anschaulich zu machen, skizzierte Ojetti anschließend in bewusst pointierter Form die zeremoniellen Gepflogenheiten: In feierlicher, nicht etwa in privater Form, komme der Kommissar in den Wahlort, werde am Vortag des Wahldatums von den Domkanonikern in Chorkleidung und vom Stadtklerus an der Bischofskirche empfangen, Orgelmusik ertöne während der staatliche Beamte in Prozession in den Kapitelssaal geführt werde, wo dieser schließlich auf einem besonders hergerichteten und etwas erhöhten Stuhl Platz nehme, um eine Rede an das Kapitel zu richten und seine amtlichen Schreiben vorzulegen. Am Wahltag selbst wiederhole sich der Empfang. Nach der Votivmesse zum Heiligen Geist und dem Wahlakt – bei dem der Kommissar nicht zugegen war – müssten zwei Domkapitulare den wartenden Kommissar aufsuchen, um ihm den Wahlausgang zu verkünden und um die Erlaubnis zu bitten, ihn zu veröffentlichen. Daraufhin begebe sich der Beamte zum Dom, wo er wiederum feierlich vom Klerus empfangen werde, und dann in den Wahlsaal, wo er die Wähler vom königlichen Wohlgefallen unterrichte.255 Daraufhin begleite er das Kapitel zurück in den Chorraum, um der Publikation des neuen Bischofs für das anwesende Volk beizuwohnen, bevor er wiederum feierlich am Kirchenportal verabschiedet werde. Die Beurteilung dieses Prozedere durch den Jesuiten überrascht nicht:

„Und alles das, man beachte, wurde von einem Häretiker durchgeführt im Namen und in der Repräsentanz eines häretischen Königs. Nicht nur das, sondern alles basiert auf einer praktischen Anmaßung und gründet nicht auf irgendeiner Genehmigung durch die Kirche, zu deren Canones und Gebräuchen dies ausdrücklich im Gegensatz steht. Tatsächlich wurde in Preußen nichts anderes zugestanden, außer dass die Wahl der Bischöfe von den Domkapiteln geschieht, wobei man ihnen einschärfte, ohne der Regierung dafür ein Recht zu geben, keine dem König minder genehme Person zu wählen.“256

Dieser Blick auf die praktische Umsetzung mache die Verletzung der kirchlichen Rechte evident. Übereinstimmend mit dem römischen Kirchenrechtsprofessor Adolfo Giobbio erklärte Ojetti, dass angesichts von Listenverfahren und königlichem Kommissar „es noch fehlte, um es auf die Spitze zu treiben, dass der häretische König sich dazu herabließe, den Bischof zu ernennen!“257 Ein kurialer Versuch, diese praktischen Missstände zu beheben, sei – so Ojetti weiter – der Brief Kardinalstaatssekretärs Rampolla an die preußischen und oberrheinischen Bischöfe und Domkapitel im Jahr 1900 gewesen, der ihnen aufgetragen habe, sich um die freie Ausübung des Bischofswahlrechts zu sorgen. Doch sei dieser Versuch ergebnislos geblieben, der Brief habe sich als eine „lettera morta“258 erwiesen.

Die rechtliche Grundlage der Zirkumskriptionsbulle des 19. Jahrhunderts war nach Ojetti also permanent zu Lasten der kirchlichen Freiheit verletzt worden. Nun wandte er sich der Frage zu, ob diese damaligen Vereinbarungen angesichts der offensichtlichen politischen Veränderungen der jüngsten Vergangenheit überhaupt noch Geltung beanspruchen könnten. Völlig klar sei, dass, wenn man sich entschließen sollte, die alte Rechtslage weiterhin anzuerkennen, die anmaßenden staatlichen Eingriffe in die kirchliche Rechtssphäre absolut ausgemerzt werden müssten.259 Doch war für den Jesuiten diese Lösung nicht ausreichend. Nicht wenige Kanonisten würden behaupten, dass es sich bei der Bischofswahl in den entsprechenden deutschen Teilstaaten um ein Sonderrecht handelte, gemäß dem die Domkapitel ein Wahlprivileg besitzen würden. Wenn das stimmte – so Ojetti –, dann würde dieses auch nach der Promulgation des neuen CIC nach wie vor gelten.260 Doch verneinte der Jesuit diese Behauptung entschieden. Das Privileg, dass die Domkapitel den Bischof wählen durften, sei in der Bulle De salute animarum nämlich nicht den Domkapiteln selbst, sondern vielmehr der preußischen Regierung und dem König gewährt worden.261 Unterstelle man aber nun – was Ojetti selbst für offensichtlich hielt –, dass eine Umwandlung der Regierungsform per se die Aufhebung von Konkordaten (sowie von quasikonkordatären Zirkumskriptionsbullen) nach sich ziehe, sei das Wahlprivileg für die neue Regierung – das „neue Staatsoberhaupt“ – und folglich auch für die Domkapitel widerrufen. Nachdem er daraufhin verschiedene mögliche Einwände gegen seine Auffassung entkräftet zu haben glaubte,262 beschloss Ojetti sein Gutachten mit der Feststellung, „dass die bisher geltende privilegierte Art der Bischofswahl in Preußen etc. beendet ist und alle genannten Ansprüche (ragioni) unter das allgemeine Recht, ausdrücklich unter den Can. 329 § 2, gefallen sind.“263 Mit der päpstlichen Nomination war für den Jesuiten dann auch jede staatliche Ingerenz ausgeschaltet und erst recht in der bislang praktizierten Form, die er scharf monierte und als unrechtmäßig qualifizierte.

Den Kardinälen der AES wurden hier also mit den Positionen Pacellis und Ojettis zwei Ansichten präsentiert, die hinsichtlich der Besetzung der Bischofsstühle gar nicht weit auseinander lagen: Der staatlichen Einmischung in die kirchliche Bistumsbesetzung sei der Boden entzogen und das Wahlrecht der Domkapitel könne ebenfalls keine zweifellose Gültigkeit mehr beanspruchen. Doch war der Münchener Nuntius mit seinen Überlegungen erheblicher vorsichtiger als der Jesuit, der rigoros tabula rasa machen wollte ohne an politische Konsequenzen zu denken.

f) Gründe, die kirchliche Freiheit nicht einzufordern – Freilich genügten dem Relator die Verweise auf Pacelli und Ojetti noch nicht zur Vorbereitung der Teilnehmer auf die geplante Sessio. Im nächsten Abschnitt (S. 16–22) des Gutachtens lenkte er das Augenmerk auf die gegenwärtige politische Situation in Deutschland und das hieß zunächst und vor allem auf die neue Reichsverfassung. Durch ihren Artikel 137 habe die Kirche ihre Freiheiten zurückerhalten.264 Deshalb habe der Kardinalstaatssekretär die Erzbischofswahl durch das Kölner Metropolitankapitel nach dem plötzlichen Tod Hartmanns auch eingefroren und bislang nur die Wahl des Kapitelsvikars gestattet. Dies gebe dem Heiligen Stuhl die Zeit, um entscheiden zu können, wie die neuen Freiheiten geltend gemacht werden könnten. Doch einer völlig freien Einsetzung des Nachfolgers stellten sich für die Kurialen unerwartete Widerstände entgegen:

„Nach diesem Artikel [sc. 137 WRV, R.H.] hätte man erwarten können, dass die staatliche Gewalt freiwillig auf jede Teilnahme an der Besetzung der kirchlichen Ämter verzichtet hat und dass mit der Trennung des Staates von der Kirche die Konkordate indirekt aufgekündigt wurden. Aber aus einem kürzlichen Bericht …, der vom Herrn Nuntius übersandt wurde, … geht hervor, dass die Dinge ganz anders sind.“265

Damit dachte der Gutachter an einen Bericht Pacellis vom 30. Oktober 1919, in dem dieser seine oben bereits angesprochene Unterredung mit dem bayerischen Ministerpräsidenten und Kultusminister, Johannes Hoffmann, über die künftigen Beziehungen zwischen bayerischem Staat und katholischer Kirche dargestellt hatte.266 Um den Kardinälen zu verdeutlichen, weshalb die Freiheit der Kirche nun doch nicht so leicht umzusetzen war, zitierte der Relator große Teile dieser Berichterstattung. Was waren die Kernaussagen?

Hoffmann informierte Pacelli über eine Konferenz der deutschen Kultusminister in Berlin, die Mitte Oktober 1919 über das Staat-Kirche-Verhältnis im Anschluss an die WRV und insbesondere über die Schulfrage debattierte. Man kam dort zu dem Schluss, dass die Autonomie der kirchlichen Ämtervergabe, wie sie der Absatz 3 des Artikels 137 der neuen Reichsverfassung verbriefte, der rechtlichen Umsetzung in der Landesgesetzgebung bedürfe, also bislang nur den Charakter einer Richtlinie ohne juridische Potenz besitze. Wie gesehen teilte Pacelli diese Interpretation keineswegs.267 Des Weiteren konvergierten die Kultusminister in der Auffassung, dass die internationalen Verträge mit dem Heiligen Stuhl in Kraft blieben, insoweit ihre Bestimmungen nicht im Widerspruch zu jenen der neuen Reichsverfassung standen. Mit dieser Einschränkung bestünde demnach auch das bayerische Konkordat von 1817 noch. Hoffmann fragte Pacelli nach der römischen Auffassung zu diesem Thema, woraufhin der Nuntius ausweichend reagierte. Noch habe er keine Instruktionen erhalten und daher – wie er Gasparri in dem genannten Bericht vom 30. Oktober bekannte – lediglich im eigenen Namen gesprochen. Dabei habe er es nicht für angemessen gehalten, die Geltung des Konkordats für beendet zu erklären. Die drei Gründe, mit denen Pacelli diese Haltung gegenüber Gasparri rechtfertigte, gab der Relator in voller Länge wieder:

1) Der Kardinalstaatssekretär hatte Pacelli am 23. August des Jahres ein Votum Ojettis übersandt,268 welches das bayerische Konkordat nach den politischen Umwälzungen – anders als Pacelli und Hollweck das beurteilten – insgesamt für ungültig erklärte.269 Doch hatte Gasparri dem Nuntius nicht aufgetragen, der Schlussfolgerung des für diesen anonym bleibenden Konsultors zu folgen. Deshalb fühlte sich Pacelli frei, diese Auffassung nicht offiziell zu vertreten. 2) Die Behauptung, das bayerische Konkordat gelte nicht mehr, könne der bayerischen Kirche schweren Schaden zufügen. Wenn man den Fall des Vertrags erkläre, könnte man – so Pacelli – vielleicht die einzige, gewiss aber die sicherste Basis verlieren, um die Rechte der Kirche in Bayern zu retten: „Tatsächlich liegt es in der Kraft des Konkordates, dass es möglich ist, die verschiedenen Leistungen des Staates zugunsten der bischöflichen Mensen, der Kapitel, der Pfarreien, der Seminare etc. zu bewahren, … das Recht der Kirche zu behaupten, eigene Schulen für Philosophie und Theologie in den Seminaren zu haben, und so fort.“270 Auf der anderen Seite habe man in der WRV ein Argument, um die Kirche weitestgehend von der staatlichen Ernennung oder Präsentation der kirchlichen Ämter zu befreien. 3) Schließlich zeigte sich Pacelli überzeugt, dass eine Konkordatsauflösung – wenn auch zu Unrecht – von der Regierung als ein feindliches Auftreten gegenüber der neuen republikanischen Staatsform interpretiert würde. Wegen dieser drei Punkte habe er – so Pacelli – eine klare Aussage zu diesem Thema vermeiden wollen und daher dem bayerischen Kultusminister vorgeschlagen, dass es seiner Ansicht nach am besten sei, eine neue Übereinkunft abzuschließen.

Obwohl es sich bei dieser konkreten Auseinandersetzung um das bayerische Konkordat handelte, schien es dem Relator sinnvoll, die Argumentation des Nuntius den Kardinälen vorzutragen, weil sie auch für Preußen relevant sein könnte. Außerdem sei es nützlich, sich vor Augen zu halten, dass das durch die Verfassunggebende Nationalversammlung festgesetzte Prinzip der Vereinigung des deutschen Reiches in der Weimarer Republik die einzelnen Teilstaaten auf einfache Bundesländer (provincie) reduziert habe, denen auch das Gesandtschaftsrecht abgehe. Freilich begegne die Reichsregierung in der Umsetzung dieses Einheitsprinzips zahlreichen Schwierigkeiten, nicht nur von Seiten Bayerns, sondern ebenso von Seiten der rheinischen Länder, die sich von Preußen lösen und eine autonome Stellung anstreben würden. So habe der päpstliche Geheimkämmerer Freiherr Theodor von Cramer-Klett in einem Promemoria über die politische Situation in Deutschland erklärt, „dass die Regierungen der deutschen Ex-Staaten voller Furcht sind; und dass dies der günstige Moment für die Kirche ist, um ihre Freiheit wieder zu erlangen“271. Was schließlich die staatlichen finanziellen Leistungen anbelange, so sei deren Ausfall momentan schwer zu verkraften. Daher sei es unbedingt nötig, einen Weg zu finden, der auch im Falle von radikalen Veränderungen im bisherigen Modus der Bischofseinsetzungen, die Zahlungen nicht gefährde. Mit Rückgriff auf Pacellis Berichterstattung vom 15. November 1919 stellte der Gutachter klar, dass die deutschen Regierungen alles versuchen würden, um ihren Einfluss auf die Bischofeinsetzungen so lang wie möglich zu behalten.272 Auch die vom Münchener Nuntius monierte staatliche Interpretation, der Absatz 3 des 137. Artikels der Reichsverfassung bedürfe noch einer Umsetzung in der Ländergesetzgebung, „könnte“ – mit Pacellis Worten – „ein heimtückischer Versuch gewesen sein, die vollständige Beseitigung des Einflusses der bürgerlichen Autorität auf die erwähnten Besetzungen aufzuschieben oder zu verringern“273. Auf jeden Fall werde auch die preußische Regierung, zumal mit der Auffassung, dass die Zirkumskriptionsbulle samt angehängtem Breve noch vollständig in Kraft sei, bis zu einer endgültigen Regelung der Materie auf der bisherigen Besetzungspraxis mit Kapitelswahl bestehen.

g) Die Frage der Fortgeltung der Staatskirchenverträge des 19. Jahrhunderts – Angesichts dieser skizzierten kirchenpolitischen Lage in Deutschland, bat der Relator des Staatssekretariats die Kardinäle in einem letzten Abschnitt (S. 22–26), ihre Meinung zu der Frage zu äußern, wie opportun es sei, wenn Papst Benedikt XV. in einer baldigen Konsistorialallokution erkläre, dass die Vereinbarungen, die zwischen den gefallenen Staatsoberhäuptern des Deutschen Reiches und dem Heiligen Stuhl geschlossen wurden, nicht mehr fortbestünden.274 Damit schnitt der Gutachter erneut die kanonistische Frage der Konkordatstheorie an und legte seine eigene Ansicht zu diesem Thema dar:

„Wie Eurer Eminenzen bekannt ist, muss man bei den Konkordaten die Privilegien in Bezug auf Themen, die die lebenswichtigen Interessen der Kirche betreffen, unterscheiden (wie zum Beispiel die Ernennung der Bischöfe), über welche der Heilige Vater unveräußerlich eine vollkommenere Jurisdiktion behält als jene, die dem Empfänger des Privilegs zugestanden wurde …, da sie zu jener unveränderlichen Fülle an Befugnissen gehört, mit denen der Göttliche Gründer der Kirche seinen Stellvertreter bekleidet hat. Es ist offenkundig, dass diese Privilegien wahre und eigentliche apostolische Privilegien darstellen, die den Souveränen (oder ihrem Haus) persönlich gewährt wurden angesichts besonderer Verdienste für die Kirche, wegen des wirkungsvollen Schutzes der Religion und der Treue gegenüber dem Apostolischen Stuhl. Sie gehen daher (falls Veränderungen in der Regierungsform stattfinden) nicht auf das Staatsoberhaupt über, das möglicherweise nachfolgt, ohne zumindest die stillschweigende Zustimmung des Heiligen Stuhls.“275

Tatsächlich zeige sich in dem aktuellen Fall eine essentielle Änderung in der Persönlichkeit und in der Qualität des Privilegempfängers, sodass der Heilige Stuhl sich mit einer gänzlich neuen Rechtspersönlichkeit konfrontiert sehe, der er die besonderen Privilegien nicht selbstverständlich gewähren könne und mit der er niemals irgendeine Art von Verpflichtung eingegangen sei. Außerdem müssten solcherart Privilegien, die Befugnisse entgegen dem allgemeinen Recht und der Freiheit der Kirche gewährten, in einem strengen Sinne ausgelegt werden und könnten daher nicht zum Vorteil des neuen Staatsoberhauptes übertragen werden. Die Theorie des ius maiestaticum circa sacra sei eben eine verkehrte Theorie, der gemäß der Territorialherr, wer auch immer das sein mag, allein aufgrund der Tatsache, dass er die höchste politische Autorität innehat, sich auch der höchsten Verfügungsgewalt über die kirchliche Ämterbesetzung erfreut.

Diese Ansicht, dass die den Staatsoberhäuptern in Deutschland im 19. Jahrhundert konzedierten Privilegien nicht mehr gelten konnten, oblag für den Gutachter keinem Zweifel. Dagegen sei die weitere Frage, ob die Konkordate in ihrer Gesamtheit mit der Veränderung der Staatsform aufgehoben seien, umstritten. In drei Klassen teilte der Relator die Positionen ein, die man dazu in der Kanonistik vertrete:

a) Einige würden die Ansicht unterstützen, die der einige Jahre zuvor verstorbene Kirchenrechtler und zeitweilige Sekretär der AES, Felice Kardinal Cavagnis, vertreten habe. Dieser glaube, dass ein Konkordat – ein Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem jeweiligen Staat – so lange in seiner Gesamtheit fortdauere, so lange der Staat wenigstens substantiell mit seinem Gebiet existiere. Als Präzedenzfall zöge diese Gruppe – so der Gutachter – das 1801 mit Napoleon geschlossene Konkordat heran,276 das ungeachtet der anschließenden Staatsumwälzung fortbestanden habe.277

b) Ebenso werde die Gegenposition vertreten, nämlich, dass ein Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und der konkreten Staatsautorität geschlossen werde. Wenn nun die Natur oder Gestalt dieser Autorität verändert werde – beispielsweise von einer Monarchie in eine Republik –, falle das Konkordat vollständig. Für den ganzen Komplex der Konkordatsbestimmungen würden die Vertreter die schon angeführten Argumente hinsichtlich der Unübertragbarkeit von „wahren und eigentlichen apostolischen Privilegien“ anwenden. Diese Auffassung – so der Gutachter – gelte natürlich insbesondere in einem Fall, in dem ein alter Staat (wie zum Beispiel Österreich) aufhöre zu existieren und an seine Stelle eine neue internationale Persönlichkeit trete, die sich nicht als Fortsetzung der alten verstehen könne. Auch das napoleonische Konkordat sei nach Ansicht der Vertreter dieser Richtung durch die Staatsumwälzung gefallen, doch habe es eine stillschweigende Ratifikation oder eine faktische Erneuerung durch den Heiligen Stuhl gegeben.278 Was schließlich das Argument anbelange, dass es sich bei den Konkordaten um internationale Verträge handle, die auch bei einer Änderung der Regierungsform weiterhin galten, so würden die Kanonisten dieser Gruppe die Konkordate eben nicht unter die Gattung internationaler Verträge subsumieren. Zumindest dann nicht, wenn man sie nicht im allgemeinen, sondern im spezifischen Sinne verstehe als eine Vereinbarung zwischen zwei ungleichen Gewalten (Suprematie des Heiligen Stuhls). Dieser Gruppe war zweifellos Konsultor Ojetti zuzurechnen, dessen Ausführungen der Gutachter bei seiner Analyse dieser zweiten Gruppe im Auge hatte.

c) Naturgemäß gebe es – so der Relator schließlich – Autoren, die zu den beiden entgegengesetzten Positionen Zwischenlösungen verträten. Dazu würden jene gehören, die in den Konkordaten Artikel für Artikel unterschieden. In unterschiedlicher Weise würden diese auch in den konkreten Fällen argumentieren. Zur Illustration lenkte der Gutachter die Aufmerksamkeit der Kardinäle noch auf weitere Voten: darunter ein Auszug eines weiteren Pacelli-Berichts und zwei zusätzliche Exposés Ojettis.

Der Bericht des Münchener Nuntius stammte vom 3. April 1919 und beschäftigte sich mit der Frage, ob die gegenwärtige bayerische Regierung noch berechtigt sei, Kandidaten für die Pfarrstellen und Benefizien zu präsentieren, wie es im Bayerischen Konkordat von 1817 zugestanden war.279 Der bayerische Episkopat war sich in dieser Frage uneins und wusste nicht, ob man die bislang übliche Dreierliste von Kandidaten dem Kultusministerium weiterhin vorlegen sollte. Pacelli hatte zur Klärung dieser Frage wiederum ein Gutachten von Hollweck anfertigen lassen. Dieser vertrat darin die Auffassung, dass das Konkordat insgesamt weiter gelte, abgesehen von einer einzigen Bestimmung, nämlich dem Nominationsrecht des bayerischen Königs. Weil das Bischofsernennungsrecht genuin dem Souverän gewährt worden sei, sei es auch mit dem Fall der Monarchie beendet. Konsequenterweise hielt der Eichstätter Professor das staatliche Präsentationsrecht der Pfarrstellen für weiterhin gültig. Wegen der einen Einschränkung der allgemeinen Konkordatsgeltung ordnete der kuriale Gutachter Hollweck der angesprochenen Mittelposition zu. Auch Pacelli gehörte damit zu dieser Mittelgruppe, insofern dieser sich dem Urteil Hollwecks hinsichtlich der grundsätzlichen Fortgeltung des Konkordats sowie der Aufhebung des Nominationsrechts der Bischöfe anschloss. Gegen diese Auffassung wandte sich Ojetti in dem schon erwähnten Gutachten, das Gasparri dem Münchener Nuntius am 23. August zukommen ließ. Wie deutlich wurde, vertrat der Jesuit die Auffassung, dass das Bayernkonkordat von 1817 – und allgemein jedes Konkordat – mit Änderung der Staatsform nichtig wurde. Eine erneute Anerkennung des alten Vertrags von Seiten des Heiligen Stuhls, wie es seiner Ansicht nach beim napeolonischen Konkordat geschehen war, lehnte Ojetti nachdrücklich ab, weil die Regierung nicht stabil und der Kirche gegenüber feindlich eingestellt sei und außerdem eine Trennung des Staates von der Kirche anstrebe:

„Daher denke ich, und mir scheint, darin auch mit dem Herrn Nuntius übereinzustimmen, dass es für den Heiligen Stuhl würdiger und ein praktikablerer Ausweg ist, die weitere Entwicklung der Tatsachen abzuwarten, sich in der Zwischenzeit weder mit theoretischen noch mit praktischen Aufklärungen zugunsten der neuen Regierung zu kompromittieren; vielmehr als das Leitprinzip in der Praxis festzuhalten, dass ähnliche Veränderungen der Regierung den Verfall jedes Konkordats und jeder Bewilligung nach sich ziehen, die vom Heiligen Stuhl den alten Regierungen gewährt wurden. Dieses Prinzip scheint mir auf der einen Seite die Freiheit der Kirche zu schützen und sie vor beinahe sicherem Schaden zu bewahren; und auf der anderen Seite behindert sie keinen Vorteil für die Kirche.“280

Und das sei keinesfalls nur für Bayern relevant, sondern generell von Belang. Überall sei man unterwegs zu Demokratien, die christlich, nicht-christlich oder sogar antichristlich eingestellt sein könnten. Dieser Tatsache musste man nach Ojetti von kirchlicher Seite mit seinem „Leitprinzip“ begegnen, was er damit auch für Preußen in Anschlag brachte.

Direkt auf die Situation in Preußen und näherhin auf die Einmischung der Regierung in die Wiederbesetzung der im November des Vorjahres vakant gewordenen Kölner Kanonikate ging Ojetti in seinem nächsten Gutachten ein.281 Darin bekräftigte er seine Konkordatsauffassung als eines Vertrags zwischen dem Papst und dem jeweiligen Staatsoberhaupt, sodass dieser durch eine Veränderung der Regierungsform automatisch desavouiert werde. Die gegenteilige Ansicht verwarf der Jesuit vehement und zog daraus erneut als Handlungsmaxime für den Heiligen Stuhl:

„Mir scheint daher einerseits richtig und andererseits ziemlich wichtig, dass der Heilige Stuhl gegenüber diesen neuen Staaten eine Haltung einnimmt, die auf die feinfühligste und schicklichste Art und Weise möglichst klar sagt, dass er sich ihnen gegenüber nicht mehr durch Konkordate gebunden hält, die mit Staaten geschlossen wurden, die ihnen vorausgingen.“282

Das Thema der Konkordatstheorie und -fortgeltung zusammenfassend, unterschied der Relator am Ende seiner Darstellung drei Arten von Staatsumwälzungen, die übrigens Benedikt XV. zwei Jahre später in seiner Konsistorialansprache übernehmen sollte: 1. Eine Veränderung der Regierungsform (zum Beispiel der Übergang von einer Monarchie zur Republik wie Bayern oder Preußen); 2. Staaten, die durch Gebietsabtrennungen neu entstanden waren (wie zum Beispiel Böhmen) und 3. Staatsgebiete, die von bestehenden Staaten separiert und einem anderen hinzugefügt wurden (wie beispielsweise Kroatien und Slowenien vereint mit Serbien zu Jugoslawien geworden waren). Der Gutachter bemerkte, dass man im erstgenannten Fall für die Persistenz der Konkordatsbestimmungen sicherlich einen sehr glaubhaften Beweggrund haben könne und distanzierte sich damit vage von der Position Ojettis und der oben genannten Gruppe b).

Nachdem die Kardinäle der AES durch diese umfangreiche Abhandlung nunmehr umfassend informiert schienen, gab der Gutachter vier Fragen vor, die in der geplanten Sessio zu beantworten waren:

„1. Ob es angemessen ist, dem Metropolitankapitel von Köln das Recht einzuräumen, den eigenen Hirten gemäß der Bulle De salute animarum zu wählen, sowie ob und wie dasselbe Kapitel die Ermahnung, die im Breve Quod de fidelium enthalten ist [sc. keine der Staatsregierung minder genehme Person zu wählen, R.H.], berücksichtigen müsse?

2. Insofern beides negativ beantwortet wird, ob es angemessen ist, zu erklären, dass die Besetzung des Stuhles von Köln gemäß dem allgemeinen Recht (Can. 329, § 2) erfolgen muss.

3. Ob die Entscheidung, die für die Erzdiözese Köln angenommen wird, auch in den anderen Diözesen Deutschlands, besonders in jenen von Osnabrück, Hildesheim, Freiburg im Breisgau, Fulda, Limburg, Mainz und Rottenburg, angewendet werden müsse?

4. Welcher Standpunkt ist angemessen für den Heiligen Stuhl einzunehmen hinsichtlich der Fortgeltung der Vereinbarungen, die mit den ehemaligen Zentralmächten geschlossen wurden, und ob es angemessen ist, darüber in der Konsistorialallokution eine Andeutung zu machen.“283

h) Die Diskussion der Kardinäle der Kongregation für die Außerordentlichen Kirchlichen Angelegenheiten – An der Congregatio particularis vom 2. Dezember nahmen eine Reihe bedeutender Kardinäle teil, die sich dieser Aufgabe stellen mussten: neben Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri der Sekretär der Konsistorialkongregation Gaetano De Lai, der Kardinalvikar von Rom Basilio Pompilj, der Sekretär des Heiligen Offiziums Raffaele Merry del Val und der österreichische Dominikanerkardinal Andreas Frühwirth. Die Diskussion ermöglicht einen profunden Einblick, welche Positionen es bei den höchsten innerkurialen Würdenträgern hinsichtlich der Besetzung der bischöflichen Stühle in Deutschland gab und muss daher ausführlich nachgezeichnet werden.284

Den Auftakt der Besprechung machte De Lai. Ihm schien die hauptsächliche Frage zu sein, ob das Kölner Domkapitel das Bischofswahlrecht aufgrund der Bulle De salute animarum besitze oder etwa aufgrund der Tatsache, dass es ein sehr altes Recht war. Er glaubte, dass es seinen Ursprung im Wiener Konkordat von 1448 hatte285 und dass die preußische Zirkumskriptionsbulle sich genau auf dieses bezog, wenn sie feststellte, das Wahlrecht sei in den überrheinischen Gebieten „erhalten und bestätigt“286 worden. Nun sei ein Konkordat ein Vertrag, jedoch ein Vertrag von eigener Natur, welche zwar irgendwie an der Natur von internationalen Verträgen teilhabe, aber sich doch aufgrund „ihrer inneren Qualitäten“287 von dieser unterscheide. De Lai brachte vier Argumente vor, die diesen Unterschied zwischen einem konkordatären Vertrag und einem internationalen Kontrakt verdeutlichen sollten: 1) Ein Konkordat sei kein Vertrag zwischen zwei bürgerlichen Nationen, sondern zwischen dem Oberhaupt einer universalen geistigen und übergeordneten Gesellschaft – also dem Papst – und dem bürgerlichen Oberhaupt einer einzelnen Nation. In dieser Auffassung folgte der Sekretär der Konsistorialkongregation Ojettis Konkordatstheorie. 2) In einem Konkordat ginge es nicht um die materiellen, politischen und bürgerlichen Interessen beider Seiten, sondern um geistige (oder mit geistigen Angelegenheiten verbundene) Dinge. 3) Während in einem bilateralen Vertrag die beiden Staatschefs im Namen zweier verschiedener Personengruppen und für ihre jeweiligen Interessen sprächen, rede im Konkordat der Papst auch für die andere Seite, und zwar unter geistigem Gesichtspunkt. Auf beiden Seiten der Vertragspartner gab es Katholiken, die der Papst im Blick habe. 4) Außerdem – so De Lai weiter – „gibt der Papst wahrlich Gnaden und gewährt Gefälligkeiten, während die andere Seite nicht mehr gibt als zu was sie verpflichtet ist.“288 Denn während der Papst neben vielem anderen beispielsweise das Präsentationsrecht für Benefizien verleihe, garantiere die staatliche Seite nicht einmal einen sicheren Schutz der Kirche, Freiheit im Schulunterricht oder eine sichere Dotation, „alles Dinge, zu denen der Staat aufgrund göttlichen und natürlichen Rechts verpflichtet wäre: weshalb das Konkordat einem Abkommen gleicht, das mit einem Despoten (prepotente) ad redimendas vexas [d.h., um nicht weiter gequält zu werden, R.H.] geschlossen wurde“289. Angesichts der so umrissenen Natur des Konkordats sei es klar, dass man es nicht anders als streng interpretieren und es daher nicht auf andersartige Verträge und auf einen anderen Staat ausdehnen könne.

Nach diesem ersten Ergebnis über die Natur des Konkordats, hielt De Lai es außerdem für nötig, zwei Arten von Zugeständnissen innerhalb dieser Vertragsart zu differenzieren: 1) Einmal jene Konzessionen, die ein festes und fortdauerndes Fundament bilden würden, wie beispielsweise die Errichtung der Diözesen. 2) Sodann jene Genehmigungen, die willkürlich und sozusagen vorübergehend seien, wie zum Beispiel der Ernennung der Bischöfe. Für erstere ergebe sich nicht die Notwendigkeit einer strengen Auslegung. Sie bildeten schlichtweg eine Faktizität und bestünden solange, wie die legitime und höchste kirchliche Autorität sie nicht ändere. Für die zweite Gruppe – Vollmachten mit Privilegiencharakter, wobei „die Privilegien ad redimendas vexas erteilt wurden, um leichter das zu erreichen, wozu die Kirche berechtigt ist“290 – käme keine andere als eine strenge Auslegung in Frage, denn – wie De Lai prononciert beifügte –: „Odia sunt restringenda.“291 Aus diesen Überlegungen legte sich für De Lai eine eindeutige Entscheidung im Kölner Besetzungsfall nahe:

„… mir scheint, daraus schließen zu müssen, dass die Vereinbarungen oder besser die Konkordats-Bullen zwischen dem Heiligen Stuhl und den deutschen Regierungen verfallen sind und daher der Heilige Stuhl seine volle Freiheit in der Ernennung der Bischöfe wieder gewonnen hat. Daher glaube ich, dass man im Einklang mit dem Gesetz dem Kölner Kapitel das Recht, den Erzbischof zu nominieren, nicht gewähren muss.“292

Widerspruch erhielt De Lai von Kardinal Pompilj, der als nächster das Wort ergriff. Zwar sei alles wahr, was jener über die Natur der Konkordate und über ihre Interpretation gesagt habe. Doch sei es Tatsache, dass beide Vertragsparteien darin übereinkämen, sich gegenseitig etwas zu geben und daher müsse diese wechselseitige Verpflichtung bestehen bleiben. Außerdem vertrat Pompilj die Meinung, dass man im konkreten Fall nicht auf der abstrakten oder prinzipiellen Ebene stehen, sondern sich eher der praktischen Frage stellen sollte. Und diese lautete für ihn: Ist es angemessen und opportun, die Vereinbarungen beziehungsweise Zirkumskriptionsbullen für hinfällig anzusehen oder nicht? Offenkundig sei, dass die Kölner Domherren schon vor De salute animarum den Erzbischof wählten und vielleicht gehe dieses Recht ursprünglich auf das Wiener Konkordat zurück, wie De Lai vermute. Doch spiele das keine Rolle. Allerdings wusste Pompilj auch, dass bereits vor 1448 viele Domkapitel das Bischofswahlrecht besaßen. Umso mehr hielt er die Worte der Bulle zum Kapitelswahlrecht: „erhalten und bestätigt“, für klar. Im Rückgriff auf De salute animarum bemerkte der Kardinalvikar des Weiteren, dass die Bischofswahlen dem Kölner Metropolitankapitel zugestanden und bestätigt worden seien, um „auch der deutschen Nation einen Gefallen zu erweisen“293. Er nahm einen zentralen Gedanken des vorbereitenden Gutachtens auf, wenn er daraus folgerte, dass das Wahlprivileg demnach, obschon das Domkapitel betreffend, in gewisser Weise direkt dem deutschen Staat zugestanden sei. Und da dieser noch existiere, kam Pompilj zum Ergebnis, „dass das Kapitelswahlrecht noch fortbesteht, aber dass der Heilige Stuhl es zurücknehmen könnte.“294 Damit kam er auf seine Ausgangsfrage zurück: „Lohnt es sich? Ich glaube nicht.“295 Sofort warf De Lai ein, dass er sich nur auf die Rechtsfrage beschränkt habe. Er beabsichtige nicht, das Kölner Kathedralkapitel von jedweder Beteiligung an der Ernennung des neuen Erzbischofs auszuschließen. Nun mischte sich Kardinal Merry del Val in die Debatte ein und stimmte mit Pompilj darin überein, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob es angemessen sei, die Fortgeltung der alten Zirkumskriptionsbullen zu bestreiten. Seiner Ansicht nach sei De salute animarum eine Konzession, die der Heilige Stuhl eingeräumt habe. Daher könne dieser auch in besonderen Fällen diese Konzession oder vielmehr Konzessionen für nichtig erklären beziehungsweise zurückziehen. Hinsichtlich des konkreten Kölner Besetzungsfalls warf der Sekretär des Heiligen Offiziums die Frage auf, ob es angemessen sei, dem Domkapitel das Wahlprivileg zu bestätigen: „Unumwunden scheint es mir, dass dies der Moment für den Heiligen Stuhl wäre, seine Freiheit sowohl gegenüber der Regierung als auch gegenüber dem Kapitel wiederzuerlangen.“296 Mit Rekurs auf die vorbereitende Relation bemerkte Merry del Val, dass der Gutachter – eventuell Gasparri selbst – sich dort umfassend über die Unangemessenheiten verbreitet habe, die häufig im Kontext der Kapitelswahlen passiert seien, entweder aufgrund Verschulden der Domherren oder aufgrund der staatlichen Einflussnahme. Daher votierte er abschließend dafür, dass selbst in dem Fall, dass die Vereinbarungen aus dem vorigen Jahrhundert nicht hinfällig geworden sein sollten, es angemessen wäre, sie zu widerrufen. Damit stellte er sich auf die Seite De Lais und gegen den römischen Kardinalvikar.

Mit Kardinal Frühwirth griff nun jemand in die Diskussion ein, der sich als ehemaliger Nuntius für Bayern gut in den deutschen Verhältnissen auskannte. Der Dominikaner wollte die Aufmerksamkeit ausschließlich auf die anstehende Kölner Besetzung lenken und definierte als Ziel seiner Überlegung: „… lasst uns sehen, ob es möglich ist, die reine und einfache Kapitelswahl zu bewahren, indem man nicht nur jeden Missbrauch abstellt, sondern auch jeden Einfluss der bürgerlichen Gewalt.“297 Hinsichtlich der Kapitelswahl stimmte Frühwirth nicht mit Ojetti überein, der dieses Recht einzig in De salute animarum fundierte und hinzufügte, es sei eigentlich dem König konzediert worden. Die Bischofswahl der Domkapitel sei hingegen bereits Recht zur Zeit der Dekretalen gewesen – also im 12. Jahrhundert, wobei Frühwirth hier sicherlich das Wormser Konkordat von 1122 und das IV. Laterankonzil von 1215 im Auge hatte298 –, dann von Papst Nikolaus V. im Wiener Konkordat für das Deutsche Reich bestätigt und in den folgenden Jahrhunderten praktiziert worden. Die preußische Bulle habe es schließlich erhalten, bekräftigt und wiederhergestellt und das in erster Linie gegenüber der deutschen Nation, die noch immer bestehe. Außerdem kenne auch der CIC das Wahlrecht der Domkapitel.299 Dieses Recht nun zu unterdrücken, gerade wenn man es frei von jeder staatlichen Einwirkung halte, schien Frühwirth „weder richtig noch günstig“300. Außerdem wäre es nötig, dieses Recht für St. Gallen, Salzburg, etc. ebenfalls abzuschaffen, was für den Österreicher Frühwirth nicht in Frage kam. Schließlich habe auch Pacelli festgestellt, dass das Wahlsystem gute Ergebnisse erzielt habe. Wenn es nun noch gelänge, den staatlichen Einfluss auszuschalten, würden die Ergebnisse noch besser werden.

Wie sollte also im Sinne Frühwirths diese libertas ecclesiae nicht nur hinsichtlich der Missbräuche, sondern auch hinsichtlich jedweden staatlichen Einflusses erreicht werden?

„Zur rechten Zeit würde ich der Regierung sagen: Lasst uns die Tragfähigkeit und die Ausdehnung der Genehmigung klarstellen, die dem Herrscher erteilt wurde. Gemäß den Kanonisten ist diese Genehmigung ein persönliches Privileg und geht daher nicht auf die neue Regierung über. Zweitens haben Sie selbst gesagt, dass keine Staatskirche besteht [sc. in Artikel 137, Absatz 1 WRV, R.H.]. Die frühere Regierung hat seit fast einem Jahrhundert die Bulle ‚De salute animarum‘ nicht vollkommen befolgt, da sie das Grundvermögen für die Dotation der Diözesen nicht festgesetzt hat und sich zufrieden gab, finanzielle Zuwendungen zu geben.301 Wir versichern, dass die Kapitel keine ungenehme Person wählen werden: mehr können wir nicht zugestehen.“302

Frühwirth war überzeugt, dass die Regierung unter den aktuellen Bedingungen einlenken würde. Falls nicht, werde der Heilige Stuhl immer noch Zeit genug haben, zu erklären, von nun an den § 2 des 329. Canons des kirchlichen Gesetzbuches anzuwenden und damit die päpstliche Nomination der Bischöfe durchzusetzen. Dies könnte man dann auch vor Deutschland und dem Rest der Welt rechtfertigen. Falls aber der Heilige Stuhl ohne Weiteres und ohne vorangegangene Absprache mit der Regierung verkünde, von nun an die Bischöfe frei zu ernennen, ergäben sich drei gewichtige Folgen: 1) Rom könnte mit dieser Vorgehensweise Kritik ernten, auch vom rechtlichen Standpunkt aus, ein Konkordat einseitig verletzt und ein sehr altes Recht der Domkapitel abgeschafft: zu haben, welches darüber hinaus expressis verbis vom Codex anerkannt werde. 2) Ebenso könnte dieser Akt weittragende Konsequenzen in anderen religiösen Dingen haben, insbesondere nämlich 3) könnte man die finanziellen Leistungen verlieren, was im gegenwärtigen Moment den Hunger unter den Klerus bringen würde, weil die Katholiken arm und nicht in der Lage seien, für ihn zu sorgen. Mit den übrigen deutschen Diözesen – wie es der dritte Punkt der vom Gutachter für die Sessio aufgestellten Zweifelsfragen beabsichtigte – würde er sich nun nicht beschäftigen, sondern erst einmal zusehen, wie die Angelegenheit in Köln verliefe.

Abschließend kam der Dominikanerkardinal auf den letzten Punkt der im vorbereitenden Gutachten aufgestellten Themenbereiche zu sprechen, nämlich ob es angemessen sei, in der päpstlichen Konsistorialansprache den Verfall der Konkordate mit den „ehemaligen“ Zentralstaaten zu behaupten. Nach den angeführten Gründen überrascht es nicht, dass Frühwirth eine solche Äußerung für gefährlich hielt. Er riet, eher zu warten bis sich einige Umstände ergäben, für die man das Konkordat anwenden müsse. Dann könne man für den Einzelfall und die einzelnen Staaten gesondert entscheiden, wie man vorzugehen habe, damit der Heilige Stuhl seinen größten Nutzen erziele. „Warum schon jetzt unwiderrufliche Erklärungen geben?“303 Damit sekundierte der Dominikaner dem Kardinalvikar, sodass es zwischen den Positionen unentschieden stand.

Als nächster war Gasparri an der Reihe, der in einer ausführlichen Wortmeldung den gemeinsamen Entschluss der Kardinäle entscheidend vorbereitete. Der Kardinalstaatssekretär wollte sich zunächst mit der vierten der vorgegebenen Zweifelsfragen beschäftigen, weil von ihrer Antwort auch größtenteils die Klärung der übrigen abhänge. Machten also die politischen Veränderungen innerhalb einer Nation den Verfall der Konkordate notwendig? Um hierauf eine fundierte Erwiderung zu geben, sei ein Rekurs auf das sinnvoll, was das Völkerrecht zu internationalen Verträge vorgebe. Nach Gasparri lernte man hier, dass Vereinbarungen politischer Natur dann ipso facto endeten, wenn eine neue Nation mit eigener Regierung entstand, die völlig von derjenigen getrennt war, mit der die Vereinbarung getroffen wurde. Beispielhaft führte er an, dass Polen nicht verpflichtet sei, die Verpflichtungen einzuhalten, die Russland mit anderen Mächten eingegangen war. Erst recht gelte dies für den Fall, dass ein Teil eines Landes sich abspalte und mit einer anderen Nation vereinige. Denn wer würde behaupten wollen, dass die Vertragsverpflichtungen Österreich-Ungarns gegenüber anderen Nationen, beispielsweise für Jugoslawien, gälten, nur weil diesem Kroatien und Slowenien einverleibt wurden, die ehemals zur Donaumonarchie gehörten? Anders verhalte es sich bei politischen Umwälzungen, die lediglich die Regierungsform beträfen. Internationale Vereinbarungen würden durch jene nicht geändert, weil die moralische Person, welche sie abschloss – nämlich der Staat mit seiner Regierung –, noch fortbestehe. Dies gelte nicht nur für Frankreich, sondern man müsse auch für die Situation in Deutschland nach der letzten Revolution in diesem Sinne urteilen. Freilich sei das nur eine allgemeine Sicht, denn es könnten sich auch Umstände und Tatsachen einstellen, die trotzdem zur Hinfälligkeit des Vertrags führen würden.

Nun seien – so Gasparri weiter – Konkordate den internationalen Verträgen politischer Natur gleichgestellt, wie der Heilige Stuhl mehrmals betont habe. Zwar sei der Unterschied, den Ojetti zwischen beiden Größen ins Feld geführt hatte – nämlich die Suprematie der Kirche über den Staat, was einen wirklich zweiseitigen Vertrag unmöglich machte –, berechtigt. Jedoch könne diese Ansicht seiner These nicht die Kraft rauben und man könne sich mit Sicherheit nicht darauf verlassen, dass die Staatsregierungen die Superiorität der Kirche akzeptierten. Deshalb müsse man zwangsläufig die angesprochene Theorie des internationalen Rechts auf die Konkordate anwenden, die mit den deutschen Staaten (also Bayern, Preußen etc.) abgeschlossen wurden. Für diese Staaten,

„wo sich die Wechsel der reinen Regierungsform ereigneten, ohne dass wir verweilen, um die abstrakte und generelle Frage zu prüfen, ob nämlich der Wechsel der Regierungsform immer den Verfall der konkordatären Vereinbarungen mit sich bringt …, ist an das zu erinnern, was wir oben sagten, nämlich, dass der Wechsel der Regierungsform von Tatsachen und Umständen begleitet werden kann, die gewissermaßen den Verfall der internationalen Verträge politischer Natur und daher auch der Konkordate bewirken; dies ist es, was sich genau in unserem Fall ereignet.“304

Denn es habe in Deutschland ein so radikaler und umfassender Wechsel der Regierungsform stattgefunden, dass der Heilige Stuhl mit den gegenwärtigen Machthabern, auch angesichts der veränderten Zeitumstände, nicht die Konkordate schließen würde, die er mit den ehemaligen Regierungen im 19. Jahrhundert geschlossen hatte.305 Folglich habe der Heilige Stuhl allen Grund, die Vereinbarungen für hinfällig zu halten. Diese Schlussfolgerung stützte der Kardinalstaatssekretär darüber hinaus mit einem Argument, das er für völlig einsichtig hielt: Die WRV habe nämlich die Beziehung des Staates zur Kirche in einem äußerst freien Sinne neu geregelt, dem die Konkordate und Zirkumskriptionsbullen mit Sicherheit nicht entsprächen. Im Nachhinein sei dann erklärt worden – wie Pacelli berichtet hatte –, dass die internationalen Verträge, unter welche die meisten auch die Konkordate zählen würden, insoweit in Geltung blieben als ihre Bestimmungen nicht in Widerspruch zur Reichsverfassung stünden. Damit ergebe sich eine Ausdifferenzierung der einzelnen Konkordatsartikel: Jene, denen die Verfassung widerspräche, seien aufgehoben und jene, welche die Verfassung nicht tangiere, blieben in Kraft. Ein solches Vorgehen wollte Gasparri nicht akzeptieren:

„Nun liegt es nicht im Ermessen einer einzelnen Seite, einen bilateralen Vertrag zu ändern, indem sie einige Bestimmungen unterdrückt und andere in Kraft lässt; wenn eine Seite einige Bestimmungen eines bilateralen Vertrags beseitigt, hat die andere Seite das volle Recht auch jene für aufgelöst zu erklären, die man bewahren wollte, ja sogar dass der Vertrag nichtig ist. Daher hat der Heilige Stuhl Grund, die mit den verschiedenen deutschen Staaten geschlossenen Konkordate für hinfällig zu halten.“306

Und wenn der bayerische Ministerpräsident Hoffmann nach der römischen Sicht zu dieser Sache frage und danach, ob der Heilige Stuhl das bayerische Konkordat von 1817 noch für rechtskräftig ansehe, dann zeige das doch, dass zumindest die bayerische Regierung nicht anders über die Sachlage denke.

Aus diesen Gründen glaubte Gasparri in Beantwortung der vierten Zweifelsfrage, dass der Heilige Stuhl seine volle Freiheit einfordern musste. Allerdings hätten diese Argumente, die völlig mit Recht und Gesetz konform gingen, nichts Kränkendes für die neuen Regierungen an sich, zumal der Heilige Stuhl gleichzeitig seine Bereitschaft kundgebe, neue Vereinbarungen abzuschließen, die den veränderten zeitlichen und örtlichen Umständen gerecht würden. Pacelli habe schon begonnen, in diesem Sinne mit der bayerischen Regierung zu verhandeln, sodass es derzeit genüge, ihn seine Arbeit fortsetzen zu lassen.307 Bis der neue Staatskirchenvertrag abgeschlossen sei, handle man am besten, wenn man – wenigstens in Teilen – die alten Konkordate nicht beobachte. Falls es aber doch nötig sei, den vertraglichen Bestimmungen zu folgen, müsse stets ausführlich erklärt werden, dass dies kein Präjudiz für zukünftige Vereinbarungen bilden könne und keine Anerkennung der verfallenen alten Rechtslage von Seiten des Heiligen Stuhls bedeute. Was schließlich die zur Debatte stehende Andeutung in der Konsistorialansprache Benedikts XV. anbelangte, „würde ich“, so Gasparri, „sagen ja, aber in allgemeinen Worten ohne in eine Entfaltung der Gründe einzutreten“308.

Dann kam Gasparri auf den ersten der vier Punkte zu sprechen, welche die Relation den Kardinälen zur Diskussion aufgegeben hatte und der das Recht der Kapitelswahl betraf. Dieses sei von der preußischen Zirkumskriptionsbulle nicht dem Kölner Metropolitankapitel übertragen worden, wie schon das vorbereitende Gutachten konstatiert hatte. Ebenso wie die übrigen Bullen habe sie zwar die Übung dieses Privilegs regeln wollen, jedoch das Privileg nicht grundsätzlich gewährt. Und obwohl das kirchliche Gesetzbuch durch den 4. Canon das Privileg nicht aufhebe, sei doch der Heilige Stuhl in keiner Weise daran gehindert, es in einem besonderen Akt zu widerrufen. Damit stand er vor der Frage, die zuvor Kardinal Pompilj in den Mittelpunkt seiner Überlegungen gestellt und schließlich negativ beantwortet hatte: Wäre es angemessen, das Privileg der Bischofswahl durch die Domkapitel zu widerrufen?

„Ich glaube, dass es angemessen ist, es zu modifizieren, indem man klug mit demselben Kapitel verhandelt, ihm das Privileg überlässt, dem Heiligen Stuhl eine Terna zu präsentieren, ohne Verpflichtung für den Heiligen Stuhl, aus ihr den Bischof zu wählen, wie man es in den Vereinigten Staaten von Amerika309 machte und indem man, falls nötig, den Kanonikern andere Ehren- und geistliche Privilegien hinzufügt.“310

In diesem Modus, gemäß dem das Domkapitel dem Heiligen Stuhl unverbindlich eine Liste von drei Kandidaten vorlegen sollte, folgte Gasparri dem Vorschlag Hollwecks und Pacellis.

Die zweite klärungsbedürftige Angelegenheit betraf die konkrete Kölner Wiederbesetzung. Für dieses Mal, bevor nämlich eine neue Vereinbarung mit der Regierung getroffen worden war, hatte sich Gasparri ein besonderes Vorgehen überlegt: Pacelli sollte sich nach Berlin begeben und der preußischen Regierung verdeutlichen, dass der Heilige Stuhl in der Gewissheit, ihren Vorstellungen zu entsprechen, wünsche, auf den überaus wichtigen Kölner Metropolitenstuhl den Paderborner Oberhirten Schulte zu transferieren. Dass dieser ein Wunschkandidat der Regierung zu sein schien, war Gasparri mit ziemlicher Sicherheit vom preußischen Gesandten Bergen eröffnet worden. Insbesondere bei Papst Benedikt XV. stand der Paderborner Oberhirte in hohem Ansehen, sodass es nicht verwunderlich ist, wenn der Heilige Stuhl dem Wunsch der Regierung entgegenkam.311 Schulte werde – so Gasparri weiter – umgehend mit dem Kardinalat bekleidet. Sobald Pacelli sich schließlich vergewissert habe, dass die Wahl Schultes tatsächlich im staatlichen Sinne sei, müsse er das Domkapitel wissen lassen, dass es eine Kandidatenterna aufstellen könne, die jedoch den Namen Schultes enthalten müsse. Die Liste werde dann unmittelbar nach Rom gesandt, da die Regierung ihre Zustimmung zu diesem Zeitpunkt bereits gegeben habe. Sobald sie dann bei der Kurie eintreffe, transferiere der Heilige Stuhl Schulte nach Köln. Diesen von ihm favorisierten Besetzungsmodus könne man – so Gasparri abschließend zur verbliebenen dritten Frage – nicht nur bei der Wiederbesetzung des rheinischen Erzbistums, sondern generell auch in den übrigen Diözesen anwenden, wenn die Umstände mit Köln vergleichbar seien.

Infolge dieser ausführlichen Wortmeldung des Kardinalstaatssekretärs entfaltete sich eine Diskussion unter den Anwesenden. De Lai bekräftigte noch einmal, dass das Wahlprivileg des Kölner Kapitels und auch der anderen Diözesen hinfällig sei und der Heilige Stuhl seine Freiheit zurückfordern müsse. Pompilj erwiderte, dass der Heilige Stuhl zwar dieses Privileg widerrufen könne, aber verfallen sei es nicht. Merry del Val bekannte, dass ihm die von Gasparri vorgelegte Lösung gefalle, doch sei es zu viel, sich auf den Weg nach Berlin zu machen, um die Regierung mit einzubeziehen. Frühwirth warf ein, man könne der Regierung auch auf andere weniger direkte Weise Mitteilung machen. „Um“ – so fügte Merry del Val hinzu – „nicht die Ordnung zu verkehren, mache man zunächst einmal dem Kapitel die Mitteilung, ohne der Regierung mehr zu sagen als sie über die vollzogene Translation zu informieren.“312 Dem setzte Gasparri entgegen, dass es durchaus nötig sei, die Regierung anzufragen, ob sie vom politischen Standpunkt her etwas gegen Bischof Schulte einzuwenden habe. Auch im serbischen und kolumbianischen Konkordat habe man den Staaten ein solches politisches Bedenkenrecht eingeräumt.313 De Lai unterstützte die Meinung des Sekretärs des Heiligen Offiziums, man solle zuerst das Domkapitel darüber informieren, dass der Heilige Stuhl sich vorbehalte, über die Gültigkeit des Bischofswahlrechts sich noch zu äußern und für dieses Mal den Paderborner Oberhirten zum Kölner Erzbischof einsetze. Erst im Anschluss daran möge man sich der Einvernehmlichkeit mit der Regierung versichern und ihr erklären, dass man den künftigen Besetzungsmodus von neuen Konkordatsverhandlungen erwarte. Diesem Schlusswort des Sekretärs der Konsistorialkongregation stimmten – so notierte der Protokollant abschließend – alle Anwesenden zu. Nachdem sich anschließend auch der Papst mit dem geplanten Vorgehen Einverstanden erklärt hatte, schien der wesentliche Schritt zur Wiederbesetzung des Kölner Erzbischofsstuhls nach dem Tod Hartmanns getan.

Eugenio Pacelli im Spiegel der Bischofseinsetzungen in Deutschland von 1919 bis 1939

Подняться наверх