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Hier im Englischen Garten habe ich nichts zu feiern. Dafür kann ich die Zeitung lesen. Allerdings fehlt mir im Augenblick die Konzentration. Wieder einmal frage ich mich, wie weit man Erinnerungen trauen kann. Dieses Misstrauen hat einen Grund: Durch Zufall bekam ich kürzlich wieder Kontakt zu der Dame, mit der ich damals in Venedig war. Ich schickte ihr den kurzen Bericht. Sie war völlig irritiert. Ja, wir waren in Venedig.

Aber die Story mit dem Koitus im Regen und den Zwischenfall mit den Carabinieri hätte ich mir ausgedacht. Typisch Autor eben. Ich war perplex. Wie kann man so ein markantes Erlebnis vergessen? Oder hat sie es nur verdrängt und will es jetzt, nachdem fast ein halbes Jahrhundert vergangen ist, nicht mehr wahrhaben? Keine Frage, die ich beantworten kann. Ich greife wieder nach meiner Zeitung.

Als ich nach einer Weile endlich das Feuilleton aufschlagen will, spüre ich den lästigen Druck in der Blase. Er stellt sich immer dann ein, wenn es unpassend ist, so wie jetzt. Ich sehe mich um. Zu viele Leute. X liebt es, sich unter freiem Himmel zu entleeren, trotzig im Wind zu stehen und der Natur freien Lauf zu lassen. Doch nicht hier. Also mache ich mich auf den Weg zur öffentlichen Bedürfnisanstalt. Ein Wort, das man in den Abfallkübel für semantischen Sperrmüll werfen sollte.

Indes, Bedürfnisse darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen.

Wenn ich daran denke, dass es im Schloss von Herrenchiemsee nur eine Toilette gab, gleich neben dem Ankleidezimmer des Königs, überkommen mich ernste Zweifel bezüglich der hochgepriesenen Baukünste der Wittelsbacher. Mussten die Bediensteten ihr Gesäß im Schlosspark entblößen? Hat das Personal ständig zwischen den Rosen und Hecken uriniert? Zur Zeit des vierzehnten Ludwigs, den der bayerische König so verehrt hat, soll es überhaupt noch keine Toiletten gegeben haben. Deshalb hat man in den Prunkräumen von Versailles einfach auf den Boden gekackt, angeblich hinter einem Vorhang. Bei dem riesigen Hofstaat, den zahllosen Empfängen und Gelagen muss der Geruchsfaktor haarsträubend gewesen sein. Kein Wunder, dass kurz darauf das Parfüm erfunden wurde.

Auch da, wo ich jetzt stehe, riecht es penetrant. Penetrant unangenehm. Öffentliche Pissoirs verdienen den Namen, den sie haben. Neben der Tür ein Graffito. Nicht die übliche Genitalskizze, sondern eine zutiefst philosophische Überlegung:

Ficken, Fressen, Autofahren – gibt es ein Leben vor dem Tod?

Mit dieser Frage im Kopf gehe ich wieder ins Freie. Die Wolken am Himmel haben sich geöffnet, die Herbstsonne taucht die grünen Inseln des Parks in weiches Licht. Ihre Strahlen wärmen auf ganz eigne Art, lassen die Zeit anders verstreichen. Die Radfahrer auf den Kieswegen fahren langsamer als sonst, Hunde können genüsslich unter den Parkbänken schnuppern und werden nicht gleich weitergezerrt. Ein paar Rollstuhlfahrer blinzeln in der Sonne und werfen sich Papierflieger zu, die so lange in der Luft bleiben, bis die heiteren Krüppel sie mit Steinschleudern abschießen. Auch die jungen Schwarzen, die auf der Wiese Volleyball spielen, werfen den Ball in Zeitlupe über das Netz. Manchmal so hoch, bis er einfach stehen bleibt und nicht mehr auf die Erde fällt. Ist das die Antwort auf das Graffito?

Unter den Bäumen beginnt eine Conga zu trommeln, einen ruhigen monotonen Rhythmus, der mit archaischer Lebendigkeit durch den Park pulsiert. War die Trommel nicht das erste Musikinstrument der Menschen?

Sie schlägt einen binären Takt, wie mein Herz. Doch mein Verstand trommelt nicht, er belästigt mich mit düsteren Monologen. Könnte ich diese abstellen, was dann? Ohne zu denken, würde ich einfach sein. Von diesem Zustand sprechen die Weisen der Welt seit Jahrhunderten. Warum ist das so schwer zu erreichen? Das Leben leben, wie es ist. Ohne es ständig ändern zu wollen. Diese Vorstellung gefällt mir. Warum sind wir Menschen, die Himmel und Hölle in uns tragen, immer Konflikten ausgeliefert? Das mag ich, das nicht. Ja|nein, entweder|oder, gut|böse. Ein binärer Rhythmus, der nie endet.

Meine Gedanken wandern zurück, Millionen von Jahren. Wie sah es auf diesem Planeten aus, damals im Urzustand? Ich schaue hoch zum Himmel. Von der Sonne ist nichts mehr zu sehen, sie ist hinter dunklen Wolken verborgen. Doch ich weiß, sie ist da. Das weiß auch die Erde, das wusste sie schon immer.

Seit es den Planeten gibt, empfängt er von der Sonne nicht nur das Licht, sondern von Anfang an auch eine ganz spezifische Information.

Als sich später im Ozean die ersten Mikroorganismen entwickelten, bekamen diese die gleichen Impulse. Welche waren das? Die Abfolge von Tag und Nacht. Es wurde hell, dann wieder dunkel, in regelmäßiger Abfolge. Das klingt banal, ist es aber nicht, wenn man es anders formuliert: Die älteste Information auf diesem Planeten war binär. Milliarden Jahre später hat sich dann eine zweibeinige Spezies entwickelt, deren Organismus nach denselben Impulsen funktioniert: Herzschlag und Atem folgen einem binären Rhythmus. Inzwischen haben diese Wesen Technologien entwickelt, mit denen sie jede Information speichern können. Dabei benutzen sie einen Code, der so alt ist wie der Planet – das binäre System. Vielleicht ist dieser Code inhärenter Bestandteil des Universums. Auch die Bausteine der Atome, die Elektronen, aus denen mein Organismus besteht, sind positiv oder negativ geladen. Materie ist nichts anderes als Energie, die pulsiert. Ich bin nichts anderes als Energie. Doch wo ist diese geblieben?

Ich sollte öfter lachen, am besten über mich. Auch die Welt der Emotionen ist binär, das war schon immer so. Wenn positive Gefühle existieren, muss es auch negative geben. Hell oder dunkel, warm oder kalt, das ist eine angenehm, das andere nicht. So einfach ist das.

Der Rhythmus der Trommel steigert sich, der Park scheint zu vibrieren. So, als wolle mich die Musik zurück ins Leben werfen, dem ich in letzter Zeit immer mehr entkommen bin. An der Conga sitzt kein Farbiger, wie ich zuerst dachte, sondern ein junger Weißer mit Nickelbrille und einer Zigarette, die im Mundwinkel tanzt. Vielleicht ein Musikstudent. Er ist da, um zu üben, ich sitze hier, weil ich Zeit habe, zu viel Zeit. Ist das überhaupt möglich?

Ich weiß, viele würden X beneiden um das unausgeschöpfte Zeitreservoir. Doch sie kennen nicht die Qual des Zeitbesitzers, den Fluch, jede Minute des Tages aus eigener Initiative bestreiten zu müssen. Es ist die bleierne Freiheit eines leeren Terminkalenders, die mich erdrückt.

Deshalb stehe ich auf und gehe weiter. Manchmal frage ich mich, was früher anders war und warum ich diese Person, die ich gewesen bin, verlassen habe.

Odyssee eines Unvernünftigen

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