Читать книгу Odyssee eines Unvernünftigen - Ray Müller - Страница 12
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ОглавлениеEs hat nicht lange gedauert, bis X sich bei mir zu Hause gefühlt hat.
Mit ihm mutierte ich zu einem Relikt, dessen Existenz sich nicht mehr in der Wahrnehmung anderer reflektiert. Ich wurde zu einem unsichtbaren Wesen. Was war geschehen? Nichts Besonderes. Der Regisseur, der meinen Namen trägt, hatte einige Aufträge abgelehnt, hatte sich in Projekte vertieft, die ihm sinnvoll erschienen, Redakteuren jedoch nicht. Langsam war dieser Mensch ins Abseits gedriftet, ohne dies selbst wahrzunehmen. Vielleicht hatte er zu sehr auf die internationalen Preise und Auszeichnungen vertraut in dem Irrglauben, Leistung sei ein Kriterium für gute Aufträge.
Es war der Person entgangen, dass der Zeitgeist in den Medien sich geändert hatte. Dass es vor allem darum ging, sich geschickt zu verkaufen. Das war cool und gefragt. Dabei waren behauptete Qualitäten oft wichtiger als verifizierbare. In den Redaktionen saßen jetzt smarte junge Leute, die mit einem Fossil wie ihm nichts anfangen konnten und wollten, waren sie doch Teil eines Netzwerks, in dem sie anderen smarten jungen Menschen Aufträge zukommen ließen.
Bald hatte X keine Lust mehr, Manuskripte zu verschicken, die keiner lesen würde. Was er nicht geahnt hatte, war die tückische Reaktion seiner Psyche.
Finanziellen Problemen gegenüberzustehen, darauf war er vorbereitet. Doch dass in ihm schon bald die ersten Krebszellen einer schleichenden Depression wuchern würden, ahnte er nicht.
Als die Beziehung zu seiner letzten Partnerin zu Ende ging, war ihm klar geworden, dass die Einsamkeit, früher geschätzte Zuflucht, jetzt wieder zum Feind werden würde. Da dies nicht seine erste Trennung war, hegte er die Hoffnung, den Schmerz in zumutbarer Intensität hinnehmen und verarbeiten zu können. Leider hatten sich in seiner Psyche bereits erste Metastasen gebildet und produzierten Zustände in seinem Ich, die ihm unbekannt waren.
Es begann mit dem schleichenden Ende der Kommunikation. Ohne berufliche Aktivität und ohne Lebenspartner war er zunehmend dem Schweigen ausgesetzt.
Das war neu für ihn. Er spürte nicht, wie dieses Schweigen zum Nährboden für den Krebs wurde, der in seiner Seele zu wuchern begann.
X war ja keineswegs ein melancholischer Eigenbrötler. Bei Reportagen oder Dreharbeiten galt er als offener, witziger Typ, der mit unterschiedlichsten Menschen umgehen konnte, spielerisch, aber immer kongenial. Australische Büffeljäger, französische Chefköche, peruanische Kokabauern, Zenmeister oder Ziegenhirten, Künstler oder Astronauten, er fand immer den richtigen Ton.
Im Grunde war er ein Chamäleon, das sich jeder Situation an jedem Platz der Welt anpassen konnte. Die geschickte Osmose des jeweiligen Raum-Zeit-Gefüges verlieh seinen Reportagen und Filmen eine besondere Intensität. Die Menschen öffneten sich und ließen ihn an ihrem Universum teilhaben.
Er wiederum brachte ihnen ein behutsames Verständnis entgegen, das nie paternalistisch war, seine Texte waren sensibel und einfühlsam, sie zeugten von einem natürlichen Respekt gegenüber seinen Gesprächspartnern.
All dies verlieh seiner Arbeit die besondere Note, die viele geschätzt hatten.
Bei solchen Überlegungen wurde X klar, dass er vergessen hatte, seine Fähigkeit zur Osmose da zu praktizieren, wo sie den Grundstein für langfristige Beschäftigung hätte legen können: in den Redaktionsstuben. Schon immer hatte er ein getrübtes Verhältnis zu den Vertraulichkeiten, die sich in den Büros öffentlich-rechtlicher Anstalten einstellen konnten. Er misstraute der feucht-fröhlichen Atmosphäre an Geburtstagen, wo es vor Kuchen, Lachsschnitten und Prosecco gerne zu den subtilen Gesten freundschaftlicher Unterwürfigkeit kam, die manche festangestellte Redakteure so schätzen.
Um die Weihnachtszeit vermied er Besuche ganz, denn die in der Ecke gestapelten Geschenke ließen jeden schäbig aussehen, der ohne Wein oder Champagner ein dienstliches Gespräch suchte. Dabei wäre es so einfach gewesen.
Die Filme waren das meist nicht. Das Engagement für anspruchsvolle Projekte erforderte Energie und Hingabe. Einmal hat er sich sogar die Mühe gemacht, Spanisch lernen. Er wollte unbedingt mit einem Filmteam aus Peru arbeiten. Nur mit Einheimischen würde er sich Zugang zu dem geschlossenen Universum verschaffen, das er dokumentieren wollte: ein abgelegenes Dorf in den hohen Anden, in dem bis heute niemand Spanisch spricht, nur Quechua, die alte Inkasprache.
Ein zweiter Film ging über eine Zinnmine in Bolivien, hoch oben in den Anden. Naheliegend ist so ein Thema nicht.