Читать книгу Odyssee eines Unvernünftigen - Ray Müller - Страница 14
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ОглавлениеEin Ball trifft mich von hinten am Kopf. Ich drehe mich um, ein kleiner Junge starrt mich erschrocken an, läuft dann zurück zu seiner Mutter. Ich winke ihm zu und lege mir den Ball vor die Füße. Konzentriert versuche ich einen Kick. Er misslingt, wie könnte es auch anders sein.
Ich gehe weiter durch den Park. Was ich an diesem Tag nicht ahnen kann: Viele Jahre später werde ich mit zwei Arbeitern aus der Mine in Bolivien über die gleiche Wiese gehen. Ein unglaublicher Zufall. Kann es in einem Universum, in dem kausale Gesetze herrschen, Zufälle geben? Ich blicke hoch zu den Wolken. Sie ziehen gemächlich dahin, als überlege die Sonne noch, ob es sich lohnt, die Zweibeiner da unten mit ihren Strahlen zu wärmen. Um sie zu motivieren, lege ich mich ins noch feuchte Gras und falte die Zeitung auf, die ich mitgebracht habe. Das vorherrschende Thema in diesen Tagen: die Terrorattacke auf New York. Eine Sternstunde der Journalisten.
Negative Nachrichten sind immer die attraktivsten, das scheint niemanden zu stören. Mich schon, denn es ist einer der vielen Indikatoren, die mir zeigt, wie krank unsere Gesellschaft ist.
Über dreitausend Tote gab es in New York, doch um diese geht es primär nicht. Hätte es an diesem Tag in Bangladesch eine Hochwasserkatastrophe gegeben mit einer Vielzahl von Opfern oder ein Stammesgemetzel in Ruanda, die Meldungen wären nur kleine Notizen gewesen. Die Wertigkeit von Toten ist also höchst unterschiedlich, man könnte von Kursen sprechen, wie bei Aktien. Was die Kurse der 9|11-Opfer so extrem in die Höhe getrieben hat, war die Tatsache, dass die meisten Amerikaner waren und auf amerikanischem Boden starben. Seit dem Bürgerkrieg hatte es so etwas nie mehr gegeben. Dazu kam das optimale Medienkonzept der Täter. Ein nationales Symbol bricht in Zeitlupe zusammen. Wie in einer Endlosschleife haben TV-Anstalten in aller Welt diese Bilder pausenlos wiederholt. Für den Betrachter war es wie eine Szene im Kino, nur schöner|schlimmer, denn es war echt. Und jetzt fallen wieder Bomben.
Das reichste Land der Welt walzt das ärmste platt. Amerika gegen Afghanistan, ein Racheakt. Wie viele unschuldige Opfer, vor allem Frauen und Kinder, es dabei geben wird, werden wir nie erfahren. Sicher werden sie die Zahl der ursprünglichen Toten um das Zehn- oder Hundertfache übersteigen.
Ich sehe mich um und atme tief ein. Der Englische Garten ist ein Shangrila, dessen Geheimnis nicht zu entschlüsseln ist. Ruhe und Frieden sind hier physisch spürbar. Haben die Bayern das verdient?
Bekommen Menschen jemals das, was sie verdient haben?
Wenn die fanatischen Terroristen aus Russland gekommen wären, hätten die USA dann Moskau bombardiert? Nein, Afghanistan ist ein leichtes Ziel. Die Ironie des Dramas ist, dass kein einziger der Täter aus Afghanistan kam.
X faltet die Zeitung behutsam wieder zu. Er ist heute geduldig mit mir.
Neben uns lässt sich eine rothaarige Studentin ins Gras fallen. Sommersprossen, kurze Hose und ein entwaffnendes Lächeln. An ihrer Baseballmütze klemmt ein amerikanisches Fähnchen. Sie kramt einen Stoß englischsprachiger Bücher aus ihrem Rucksack, dann eine verknitterte Herald Tribune.
Ich lächle. »Amerikanerin?«
Sie nickt und blättert in ihrer Zeitung.
»Auf Urlaub oder Studentin?«
Nun hebt sie den Kopf und mustert mich.
»Was denken Sie von diesem schrecklichen Überfall auf Amerika?«
Ich habe wenig Lust auf eine tiefschürfende Diskussion.
»Wir ernten im Leben immer nur, was wir gesät haben.«
Ich sage absichtlich »wir«, um dem Satz die Schärfe zu nehmen.
Meine Gegenüber holt tief Luft und starrt mich wütend an. Dann springt sie auf und packt hastig ihre Sachen. »Okay, verstanden. Wir Juden können ja schon froh sein, wenn uns die Deutschen nicht zu Lampenschirmen verarbeiten. Da sollte man nicht auch noch Mitgefühl erwarten.«
Ihr Gesicht ist rot vor Erregung. Dann spuckt sie mir einen letzten Satz vor die Füße. »You fucking stupid intellectuals.«
Sekunden später sitzt die Erzürnte auf ihrem Fahrrad und rauscht davon.
Ich lege mich ins Gras und schließe die Augen. Wie sich Sprache unauffällig immer neue Bedeutungen zulegt, fasziniert mich schon lange. Vor hundert Jahren konnte ein Lehrer im Wirtshaus noch sagen Heute musste ich ein paar Kinder kräftig ficken. Niemand hätte den Blick vom Bierkrug gehoben. Das umstrittene Wort bedeutete früher »züchtigen«.
Auch bei der von der jungen Amerikanerin gebrauchten Vokabel hat sich die sexuelle Bedeutung längst verabschiedet. Der Begriff ist nur noch harmloses Reizwort, ein gedankenlos hingeworfenes »verdammt«.
Etwas kitzelt mich. Eine Ameise krabbelt über meine Kopfhaut. Ungestört durch lästigen Haaransatz erklimmt sie die schweißglänzende Steilwand meiner sich ständig ausbreitenden Glatze. Ich bewege mich nicht. Besser eine bayerische Waldameise als ein afrikanischer Skorpion.