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Ich gehe weiter, hoch zur Straße. Noch einmal tauchen Bilder aus der Vergangenheit in mir auf, Szenen aus der Zinnmine in Bolivien.

Nie wieder habe ich in einer Höhe von viertausend Metern gedreht, nie wieder bin ich Menschen begegnet, die unter so gnadenlosen Bedingungen um ihr Leben kämpfen müssen. In den alten Stollen stehen Vierzehnjährige zehn Stunden am Tag in kaltem Schlamm. Barfuß pressen sie riesige Schlagbohrer, die sie kaum halten können, gegen die Felsenwände. Ihre Väter arbeiten noch tiefer unter der Erde. In dunkle Löcher, zu denen sie nur hinabklettern können, indem sie ihre Ellbogen gegen die engen, nassen Wände spreizen und dann den Körper langsam nach unten schieben, Zentimeter für Zentimeter. Dort sitzen sie dann in der Hocke und schlagen das Erz aus dem Berg. Die Brocken legen sie in einen Sack, binden sich diesen um den Bauch und klettern wieder hoch.

Den ganzen Tag über kauen sie Kokablätter, um den Hunger und die Kälte nicht zu spüren. Nachts husten sie sich die Staublunge aus dem Leib. Und das alles für ein paar Pesos. Kaum einer der Leute wird älter als fünfunddreißig Jahre. Man hat den Eindruck, als quälen sie sich nicht für das Leben, sondern für den Tod. Doch das Grauenvollste ist die Perspektive dieses Lebens. Sie existiert nicht. Jeder Minero weiß, dass seine Kinder genauso enden werden wie er, dass es auch für sie keinen Ausweg gibt. Ein Leben ohne Hoffnung.

Und doch habe ich in Bolivien mit den Mineros und ihren Familien Tage verbracht, die zu den schönsten meines Lebens gehören. Nach der Arbeit, keuchend vor Erschöpfung und Kälte, wollten sie mit uns diskutieren. Über die Welt da draußen, im reichen Europa oder Amerika. Wo an der Börse der Kurs festgelegt wird für das Zinn, das sie aus dem Berg kratzen, wo der Preis für ihr Leben in Aktien und Optionsscheinen gehandelt wird.

Den Mineros war das klar, sie waren politisch erstaunlich gut informiert. Bevor sie uns erlaubten, sie bei der Arbeit zu filmen, stellten sie uns viele Fragen. Nicht nur das, einen Tag lang mussten wir sie mit der Kamera begleiten. Wahrscheinlich wollten sie sehen, wie ernst wir unsere Arbeit nahmen. Also krochen auch wir in die feuchten Löcher hinab, allerdings auch noch mit der Kameraausrüstung. Zum Glück hatte ich ein Team aus Peru, das sich mit den Leuten gut verständigen konnte. Die Frau des Kameramanns, die für den Ton zuständig war, hieß Sonja Llosa. Was ich nicht wusste, sie war eine Nichte des Nobelpreisträgers.

Um in die Löcher hinabzuklettern, hatte sich ihr Mann die Kamera um den Bauch gebunden, ich die Lampe an meinem Fuß festgeschnallt. Die Hände mussten frei bleiben, denn unsere Körper klebten an den nassen Wänden, nur durch die Ellbogen abgestützt. Eine falsche Bewegung und wir wären zwanzig Meter in die Tiefe gestürzt. Die Mineros beobachteten uns schweigend.

Am Abend teilte man uns mit, dass wir den Film drehen konnten. Doch auch dann ging die Diskussion weiter, jeden Abend. Hartnäckige Fragen, immer wieder: Was wir, die Filmemacher, an dieser Produktion verdienen? Was es uns Reichen bringt, wenn wir die Armen filmen?

Die Mineros von Bolivien haben mir geholfen, meinen Beruf besser zu verstehen. Nie zuvor wurde ich gezwungen, meine Arbeit so gnadenlos zu hinterfragen. Dafür bin ich ihnen bis heute dankbar. Nicht nur dafür. Vor Männern und Frauen, die (aus unserer Perspektive) ein aussichtsloses Leben führen, dies aber mit Stolz und Würde tun, habe ich größten Respekt. Bis heute weiß ich nicht, woher sie die Kraft dafür nehmen.

Odyssee eines Unvernünftigen

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