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Ich habe beschlossen, mich von nun an X zu nennen. Es ist ein Buchstabe, der breitbeinig im Raum steht, mir aber wegen einer anderen Eigenschaft noch besser gefällt. Mit diesem gekreuzten Symbol streicht man Dinge aus, löscht Namen, annulliert Existenzen. Meine ist damit schon im Voraus getilgt, denn das X liegt über keinem Namen mehr, der Auflösungsvorgang hat bereits stattgefunden. Das war die Voraussetzung.

Überdies verfügt X über ein ganz besonderes Flair. Es ist ein Symbol des Verbotenen, des nicht Genehmigten, einer Gefahr der besonderen Art.

Das gefällt mir. Dabei ist an mir nichts Besonderes. Ich bin nur ein Mensch, der nichts mehr zu tun hat und dennoch überleben will. Davon gibt es in der Dritten Welt Millionen, in der ersten, zu der ich aufgrund einer Laune des Schicksals gehöre, inzwischen auch eine beträchtliche Anzahl, über die man aber nicht spricht.

Auch ich spreche davon nicht, ganz besonders ungern spreche ich über mich.

Doch dieser Dialog, der nun beginnt, lässt mir keinen Ausweg. Auch wenn ich weiß, dass es eher ein Monolog ist, zu dem ich mich zwinge, immer wieder. Schreibend kämpfe ich um mein Leben, wenigstens vorläufig noch, das kann sich ändern.

Auf dem Weg vom See hoch zum Haus taucht nach einigen Schritten über den Baumkronen der nächtliche Sternenhimmel auf. Kurz darauf sind zwischen den Bäumen helle Glasfenster zu erkennen. Wie ein leuchtendes Juwel steht es im Wald, das schöne, einsame Haus, in dem ich die Einliegerwohnung gemietet habe und deshalb auch regelmäßig einliege.

Heute ist es später als sonst. Eine gewisse Menge Alkohol hat mich in das Gleichgewicht einer Gleichgültigkeit gehoben, die einen Anflug von Heiterkeit nicht entbehrt. Hinter mir liegt eine längere Diskussion mit S., der ich mich im Wirtshaus ausgeliefert habe. Wieder einer dieser Versuche, mich im Kontakt mit Menschen auch als solcher zu definieren.

Ich sperre die Tür auf und gehe ins Arbeitszimmer. Ein Tritt auf den Fußschalter fährt den Computer hoch. Das Gefühl nicht ganz befriedigter Kommunikation lässt mich zur Tastatur greifen, ich will noch ein paar Zeilen schreiben. Eine notwendige Gesprächsergänzung, um die Lücke zu füllen, die sich durch Zaudern meiner neuronalen Reflexe im schnellen Spiel der verbalen Bälle ergeben haben und die jetzt lästig im Raum steht. Dabei ging es doch nur um ein Buch, das S. geschrieben hat. Allerdings eines mit vielen heimtückischen Widerhaken. Ich tippe, ohne zu denken.

S.

Nun habe ich mich dem Buch weiter ausgesetzt. Ich zeige mich erst wieder, wenn die Wunden vernarbt sind.

Zuerst sieht es so einfach aus. Man muss nur tief durchschnaufen, wenn einem wieder dadaistische oder mit dem Sinnbürzel winkende Kalauer auflauern.

Kaum geht einem die Luft aus, springen sie einen an, die grässlichen Fratzen, die sich hinter dem listigen Grinsen verbergen.

Und dann kommen sie, die zu Tode gequälten Sätze der Hochsprache, die so verbissen ver|zerknotet werden, bis sie zu einem Schwarzen Loch mutieren, dem kein Sinn mehr entfliehen kann und das den hilflosen Leser verschlingt wie eine kosmische Vulva.

Und dann treibt man so dahin im kalten Universum, haut sich den Schädel wund an der gekrümmten Raumzeit und deinen Denkspiralen und sucht verzweifelt nach einem Wurmloch, um der Multidimensionalität der erregten Synapsen zu entfliehen.

Oder wenigstens um sich in die Gravität unseres vertrauten Planeten zurückzuflüchten, wo man zwar dauernd herumspringen muss, um den zurückrollenden Steinen von Sisyphus auszuweichen, aber wenigstens ohne die Last nicht zu Ende denkbarer Gedanken aufatmen kann und eine herbstliche Erektion wieder ihren Namen verdient.

Was du dem Leser alles antust. Als ob das Leben nicht schon genug wäre.

Genau, als ob das Leben nicht schon genug wäre. Jetzt bin ich zufrieden, fast. Nicht schlecht, dieser Text. Den Argumentationsschleifen des Gegners raffiniert angepasst, stilistische Symbiose oder doch nur syntaktische Arschkriecherei? Vielleicht hätte ich Schriftsteller werden sollen. Wäre ich dann etwas geworden – außer älter?

Ich schicke den Kommentar ab. Dann ein Tritt auf den Fußschalter und der elektronische Knecht verstummt.

Und jetzt? Ich gehe vor die Tür und blicke in fetzige Wolken, die sich dem Mond entgegenschleudern. Der Wind biegt die Bäume, das Holz ächzt vor sich hin. Auch ich spüre die Müdigkeit in den Knochen, die mich zweiundfünfzig Jahre um die Welt getragen haben. Wie lange werden Sie das noch tun?

Wieder kommt der Gedanke des Abschieds in mir hoch. Ich ahne, dass die Erregung, die man als Jugendlicher gespürt hat, wenn man Dinge zum ersten Mal tat, nun endgültig Vergangenheit geworden ist. Der Versuch sich zu erinnern: Das erste Mal das Geschlecht einer Frau erspüren, den Finger tief in das feuchte Mysterium versenken. Das erste Mal ins Ausland reisen, sich woanders zu Hause fühlen. Was noch? Das erste Auto, der erste Job, die erste eigene Wohnung?

Nein, nur die starken Emotionen bleiben. Den ersten Film drehen, das erste Mal auf dem Empire State Building den Kopf in den Wind strecken, das erste Mal den Boden Afrikas unter den Füßen spüren, das Pflaster von Rio, den Sand von Bali. Den Hauch der Fremde in sich einsaugen und spüren, wie er die Sehnsucht stillt. Die Intensität, mit dem man in diesem Augenblick die Energie des Lebens spürt, erfüllt jede einzelne Zelle.

Später dann das erste (und einzige) Stück Land kaufen, das erste Mal vor Gericht stehen. Erstaunlich, wie viele Erstversuche so ein Leben beinhaltet.

Und dann die andere, die dunkle Seite. Das erste Mal von einer Frau verlassen werden, das erste Begräbnis eines geliebten Menschen, der erste Unfall.

Mit dem Surfboard aufs offene Meer hinaustreiben und dem Tod ins Auge sehen. Noch schlimmer: Einem Menschen gegenüberstehen, der töten will.

Und auch das gab es: Das erste und einzige Mal in Peru auf dem Altar der Inkas stehen, mit ausgestreckten Armen den Himmel berühren und sich unsterblich fühlen. Und nun zunehmend der Gedanke an die zur Neige gehenden Zeit.

Wie wird er sein, der Abschied von diesem Planeten?

Der letzte Blick auf das Meer, auf die Berge, auf einen Baum im Herbst?

Wie tief dringen diese Bilder in die Seele ein?

Das letzte Aufbäumen in der Vulva einer nachsichtigen Frau, das letzte Glas Wein, der letzte Sonnenaufgang, der letzte Händedruck?

Wird das Schicksal milde sein und mir das Wissen um die Einmaligkeit der letzten Wahrnehmung ersparen?

Ich drehe mich um und gehe zurück ins Haus. Eines Tages werde ich auch das zum letzten Mal tun, vielleicht schon bald, wenn ich die Miete nicht mehr bezahlen kann. Mit diesem Gedanken und der Hoffnung auf einen gnädigen Schlaf lasse ich mich ins Bett fallen. Schon bald kippt mein Gehirn ins Nichts.

Odyssee eines Unvernünftigen

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