Читать книгу Odyssee eines Unvernünftigen - Ray Müller - Страница 20
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ОглавлениеLangsam gehe ich die Straße entlang und überlege, was ich jetzt tun könnte. Es ist die Zeit der Zwischenräume. Für abendliche Aktivitäten ist es zu früh, die Kinos haben schon angefangen, ins Fitnessstudio will ich heute nicht. Um mich dem Zoo der Eitelkeiten auszusetzen, ist ein Minimum an Energie erforderlich.
Mein Bauch gehört heute mir, ich will ihn nicht den Blicken gestylter Nymphen darbieten, die sich mit dem unvermeidlichen Knopf im Ohr stählerne Geschmeidigkeit antrainieren. Diese Modellfrauen sehen immer direkt durch X hindurch, ich frage mich dann, ob ich überhaupt anwesend bin oder ob ein Irrtum vorliegt.
Wohin könnte ich jetzt gehen? Vielleicht in einen Buchladen, eine Oase der Ruhe, in die ich mich gerne flüchte. Dort kann man Zeit verbringen, ohne das Gefühl zu haben, sie zu vergeuden, Man gibt sich der Illusion hin, sich den anspruchsvolleren Dingen des Lebens zu widmen: Mein Körper ist, was er isst, mein Geist, was er denkt und liest. Ein Kompromiss ist der erotische Roman. Leider gibt es nur wenige, die den Namen verdienen und die kenne ich schon.
Ohne dieses Ziel bewusst angesteuert zu haben, gehe ich auf die Buchhandlung Lehmkuhl zu. Soll ich hineingehen? Was würde mir X raten?
Er geht vor allem aus Neugierde in Buchhandlungen. Nicht immer der Bücher wegen. Es könnte ja sein, dass interessante Frauen in diesem Augenblick ebenfalls Zeiträume überbrücken wollen. Doch was ist das, eine interessante Frau? Das Klischee ist bekannt: eine geheimnisvolle Schönheit, die ihren animalischen Sexualtrieb hinter souveränem Intellekt verbirgt, der aber gleichwohl ein unkompliziertes, humorvolles Wesen ahnen lässt.
Zugegeben, es ist unwahrscheinlich, dass dieser Engel meiner Fantasie gerade jetzt zwischen den Regalen eines Buchladens seine Flügel ausbreitet. Soll ich ihn dennoch betreten?
Dann könnte ich mich über Neuerscheinungen informieren, Entdeckungen machen oder bei einem Text einfach verweilen. Man vergisst die Zeit und verschwindet in den Gedankengängen eines unbekannten Autors. Nun liest in einem Buchladen natürlich niemand wirklich. Man schlürft den Klappentext, überfliegt Passagen, durchblättert die Illustrationen, greift schließlich zu den teuren Bildbänden. Landhäuser in der Toskana, historische Pissoirs in Paris, Kolonialarchitektur in Indien. Ideal um Zeiträume zu überbrücken und das Gehirn anzuregen. Deshalb fühle ich mich in Buchläden so wohl, man kann die erotische Sehnsucht in höhere Gefilde verlagern. Hier kann X mit Plato in der Schule der Philosophen wandeln oder sich in die Lieblingsthemen der Bildungsbürger vertiefen, die gerne im Feuilleton diskutiert werden.
Doch so sehr ich Buchläden liebe, so sehr frustrieren sie mich. Das Überangebot erschlägt mich, die Selektion wird zur Qual. Unglaublich, was alles veröffentlicht wird. Kein Thema, zu dem sich nicht irgendeine Person schon irgendwelche Gedanken gemacht hat. Das gilt insbesondere für die sogenannten Probleme unserer Wohlstandsgesellschaft, die darin bestehen, dass viele Menschen von allem zu viel haben. Darunter leiden sie, auch körperlich. Deshalb liegen Bücher über Diät, Ernährung und Fitness immer ganz vorne.
Die Leute brauchen offensichtlich ständig Ratgeber, die ihnen sagen, was man wann warum essen sollte oder nicht. Wie man sich überflüssige Pfunde weghungern könnte, welche exklusiven Wellnessoasen man dafür aufsuchen könnte. Menschen aus der Dritten Welt, die sich abmühen, überhaupt etwas Essen zu bekommen, würden darüber nur den Kopf schütteln.
Mein Blick fällt auf einen Weinführer. Da ich Rotweine schätze und mir auch ein bescheidenes Know-how angetrunken habe, blättere ich in solchen Bänden manchmal ganz gerne. Die Geschmacksfantasien der Autoren amüsieren mich. Meist versuchen sie, dem Leser ihre Aromasensibilität mit einer Wortakrobatik nahezubringen, die in blumige Höhen enteilt. Die Verkostung einer vollendet vinifizierten Traubensorte wird in subtilsten Nuancen geschildert. Alle verfügbaren Rezeptionssensoren des Autors dürfen sich feinfühlig einbringen, bis der kulminierende Reigen der Adjektive in ein grandioses Finale mündet. Weinpoesie, die sich zwar oft stilistisch verirrt, aber dennoch die liebevolle Huldigung an ein auch von mir geschätztes Getränk ausdrückt.
Es wurde in Georgien vor achttausend Jahren zum ersten Mal gekeltert und erfreut uns bis heute. Ein Weltkulturerbe. Doch es gibt Augenblicke, in denen ich den Genuss von edlen Weinen nicht genießen kann. Vor allem dann, wenn man den kleinen Gesichtskreis verlässt, in dem man sich normalerweise bewegt und eine globalere Sichtweise einnimmt. In solchen Momenten wird einem schnell bewusst, mit welchen Problemen Menschen in anderen Orten oder Ländern zu kämpfen haben. Dort geht es ums Überleben. Aus dieser Perspektive bekommen elitäre Genüsse einen schalen Beigeschmack.
Also flüchtet man sich schnell wieder zurück in die vertraute Umgebung. Was kann ein Einzelner schon tun angesichts des Elends auf der Welt? Meistens nichts. Doch es gibt Ausnahmen.
Was haben eine Flasche edler Rotwein und weiße Würste im Schnee gemeinsam? Die Geschichte einer erstaunlichen Solidarität.