Читать книгу Odyssee eines Unvernünftigen - Ray Müller - Страница 16

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Ich stehe auf. Im Gras entdecke ich eine kleine US-Flagge, die Studentin muss sie bei ihrem überstürzten Aufbruch verloren haben. Ich hebe sie auf und stecke sie ein. Was ich ihr gegenüber nicht erwähnt habe, ist eine Frage, die sich nach der 9|11-Attacke in Amerika niemand gestellt hat: Warum hassen sie uns so? Das wäre naheliegend gewesen. Obwohl ich oft in die USA gereist bin und dort großartige Menschen getroffen habe, ist mir dieses Land in seinen Widersprüchen immer noch unergründlich.

Die offizielle Ideologie ging mir ohnedies nie in den Kopf. Bis vor Kurzem galt der Kommunismus als das Böse an sich, als wäre er ein Konzept des Satans.

Doch im Grunde ist es nur die Ideologie einer Gesellschaftsform, also ein Denkmodell, auch wenn dieses brutal missbraucht wurde. Doch war es in Amerika schon immer ratsam, sich eher als Serienkiller zu bekennen als dem Kommunismus nahe zu stehen. Der Sexualität gegenüber ist die Haltung der Amerikaner ähnlich schizophren. Jeden Tag sehen amerikanische Kinder im Fernsehen alle nur denkbaren Formen von Grausamkeit und Mord, doch Menschen, die sich körperlich lieben, sehen sie nie. Das gilt als unanständig und ist verboten. Wenn im Stadtpark ein Mensch einen anderen zu Tode prügelt, ist das zwar verwerflich, aber nichts Besonderes. Wenn sich zwei Menschen dort erotisch verwöhnen, also etwas tun, was Freude bereitet und niemandem schadet, ist das eine obszöne Straftat. Wie krank ist diese Gesellschaft eigentlich?

Darüber hätte ich mit der Amerikanerin gerne gesprochen. Doch nun ist sie weg, tief gekränkt.

Während ich über die grünen Wiesen gehe, denke ich noch einmal an die Schreckensbilder aus New York. Ich frage mich, warum es so schwer ist, gewisse Dinge zu begreifen. Tatsachen, die so einfach sind, dass sie ein kleines Kind verstehen könnte. Wir alle, sämtliche Bewohner dieses Planeten, wohnen in einem Haus. Oben im fünften Stock wird über alle Maßen gefressen und geprasst, unten wird gehungert.

Ständig lassen wir vor den Augen der anderen in den Aufzügen alle nur denkbaren Luxusgüter zu uns hochfahren, den Überfluss werfen wir aus dem Fenster oder kotzen ihn hinaus. In den restlichen vier Stockwerken des Hauses vegetieren die Menschen vor sich hin, täglich verhungern und verdursten einige. Wie lange kann das gut gehen? Wen kann es wundern, wenn die Verachteten hochkommen und bei uns an die Tür klopfen? Sie werden nicht nur klopfen, sondern diese Tür eines Tages auch eintreten.

Odyssee eines Unvernünftigen

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