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Dann ein neuer Tag, er lauert mir auf. X steht vor dem Spiegel. Es ist zehn Uhr und er hat sich erfolgreich zum Aufstehen überlistet. X sieht mich an, gnadenlos, er war immer gnadenlos.

Früher, als ich noch ein geachteter, auch im Ausland nicht unbekannter Filmautor war, konnte ich nicht umhin, eine gewisse Identität mein Eigen zu nennen. Schlecht war das Leben damals nicht. Ich drehte Filme, verbunden mit ausgedehnten Reisen in ferne Länder, ein dynamisches Leben mit aufregenden Frauen, ich konnte nicht klagen. Klagen konnten höchstens die Frauen, die von mir viel, aber nicht alles bekamen. Eines Tages gingen sie dann. Dann spielte das Schicksal von neuem Roulette, wieder war ich die Kugel, die irgendwo landen würde. Jedenfalls bildete ich mir das ein.

Doch seit X auf der Bildfläche erschienen ist, klemmt etwas im Getriebe der Zeit. Außenwelt und Innenwelt haben sich zu einer unsichtbaren Mauer vereint, an der ich mir täglich den Schädel einrenne. Vor lauter Beulen sehe ich aus wie ein genmutierter Klon.

Immer noch stehe ich im Badezimmer und starre auf mein Spiegelbild. Ich kann die Frauen ja verstehen. Würde ich jeden Morgen in dieses Gesicht blicken wollen? Von vorne ist es noch erträglich, von der Seite schon weniger. Zugegeben, die große Nase war schon immer profilprägend. Am schlimmsten hat sich die Ansicht von hinten entwickelt, vor allem aus erhöhter Perspektive: Eine banale Glatze, garniert mit einem Kranz dünner Haare. Der Blick auf dieses Arrangement löst in mir immer tiefe Melancholie aus. Im Grunde müsste ich mich von Frauen nur noch rückwärtsgehend verabschieden, wie früher ein Lakai am Hof des chinesischen Kaisers.

Ich klappe den Toilettendeckel hoch und erleichtere meine Blase. Der Druck erzeugt einen geräuschvollen Strahl, dessen Penetranz mir bei anderen auf die Nerven geht. Vor allem nachts, in Hotelzimmern der unteren Preisklasse. In Frankreich waren solche Räume früher besonders hellhörig. Das Geräusch kam dann aus dem Nachbarzimmer, meist gegen vier Uhr früh, nachdem ich bis dahin hinter der dünnen Wand die ungeschminkte Akustik gallischen Paarungsverhaltens ertragen musste. Erstaunlich, was ein Mann und eine Frau mit ihren Körpern anstellen können, nur Zentimeter von meinem Kopf entfernt. Der Unbekannte »wohnt ihr bei« und das so gründlich wie ausdauernd.

Man könnte auch von penetranter Penetration sprechen.

Ob es in den Zeiten der Bibel auch so geräuschvoll zuging?

Wie laut schrien die Frauen unter Moses oder Nebukadnezar, welche Symphonie des Gurgelns und Ächzens erzwang das stramme Glied eines Hiob oder Hesekiel?

Ich verlasse das Badezimmer und erklimme die Stufen der Treppe hoch ins Wohnzimmer. Die wenig dynamische Gangart offenbart meine Angst vor der Gegenwart, diese Konfrontation möchte ich hinausschieben, mich am liebsten ganz vor ihr drücken und damit dem Jetzt eins auswischen.

Doch es geht nicht, es ging gestern nicht und wird auch morgen nicht funktionieren. Ein neuer Tag hat begonnen, wieder bin ich ihm machtlos ausgeliefert.

Vorsichtig nähere ich mich dem Faxgerät, das hinter der Ledercouch lauert. Wie immer ist es bereit, mir trügerische Hoffnungen oder die üblichen Absagen ins Gesicht zu spucken. Das Gerät grinst mich an.

Es weiß, dass ich mich wieder einmal angeschlichen habe, zwar zögernd, aber doch von einer noch nicht ganz gestillten Erwartung getrieben.

Vielleicht ist ja doch über Nacht eine Anfrage zu einem Projekt, eine hauchzarte Andeutung eines Auftrags durch die elektronische Leitung geflossen, hat sich zu Buchstaben verdichtet und beschlossen, mich einmal mehr zu narren. Doch nichts dergleichen, nicht mal als Narr tauge ich noch.

Der morgendliche Gang ins Arbeitszimmer ist Ausdruck einer Routine, die auch Eingekerkerte am Leben erhält. Ich schalte den Computer an. Knisternd baut sich das Bild auf. Zuerst bahne ich mir den Weg zum elektronischen Briefkasten. Die Oberfläche von AOL konfrontiert mich mit den aktuellen Banalitäten des Tages, bei einer bleibe ich hängen: Sexy Single der Woche: Heike aus Flensburg | 19h live: Knuddelchat nach Feierabend.

Aus purer Neugierde schieb ich den Cursor auf das dämliche Gesicht von Heike und erfahre Hobbys und Leidenschaften der jungen Blonden:

Inline-Skaten, Chatten, Raven und alles, was Spaß macht.

Dazu erlaube ich mir keine Gedankenspiele und klicke den Cursor durch die virtuelle Welt, hin zu meiner Mailbox. Leer ist diese selten, höchstens von Inhalten: Börsentipps aus nicht abstellbaren Rundbriefen, schrille Jackpot-Verlockungen und der Hinweis einer gewissen Samantha, dass ich jetzt ihre tabulosen Fotos herunterladen könnte.

Zum Schluss noch die Mail eines Freundes aus Australien, die ich aber jetzt nicht beantworten will. Immerhin ein Beweis, dass es mich noch gibt.

Ganz so schlecht fängt der Tag also nicht an.

Diese Einsicht motiviert mich zu einer Aktion. Ich beschließe, nach München zu fahren. Dort werde ich die Rolle des unsichtbaren Flaneurs spielen und mich in ein Café setzen. Unter Leuten zu sein, verleiht mir die Illusion, noch am Leben teilzunehmen. In den Monaten der anhaltenden Arbeitslosigkeit mutierte X zu einem gläsernen Golem, der so durchsichtig ist, dass er nicht mehr wahrgenommen wird. Deshalb die Fahrt in die Stadt, der Sprung in die nichts ahnende Bevölkerung, der ich mich aussetze wie ein Gladiator dem schwülen Dunst der Arena. Ob es heute Löwen gibt?

Als ich an der Tür stehe, klingelt das Telefon. Es ist mein Freund Alex, ein passionierter Golfspieler und Fernsehjournalist. Einer der Erfolgreichen also, doch das nehme ich ihm nicht übel. »Wie geht’s?« Eine Frage, der ich nichts entgegenzusetzen habe. Ein Mensch hängt lose, wie die letzte, verfaulte Birne am Baum seiner Existenz und soll das auch noch in Worte fassen.

Ich rette mich in die Wahrheit. »Den Umständen entsprechend.«

Alex ist schlau, deshalb fragt er nicht nach. »Kommst du heute Abend? Es gibt Ente.« Ich zweifle, ob es mir guttut, mich Menschen auszusetzen, deren Leben rundherum in Ordnung ist. Provozierend elegant gelöst und so mühelos, als ob es selbstverständlich wäre.

Meine Antwort ist diplomatisch: »Ich muss nach München. Wenn ich rechtzeitig zurück bin, melde ich mich.«

Eine Notlüge, sie hält mir die Möglichkeit zum Rückzug offen.

Odyssee eines Unvernünftigen

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