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Ich fahre los. Im Auto fühle ich mich besser. Der Ortswechsel suggeriert Beschäftigung, eine Täuschung, der ich mich gerne hingebe. Länder und Orte zu wechseln war bis vor Kurzem mein Lebenselixier. Das Fremde hat mich immer fasziniert, trotz aller Unwägbarkeiten. Schon früh war ich fasziniert vom Mythos fremder Namen: Singapur, Timbuktu, Surabaya, Mombasa, Shanghai. Diese geheimnisvollen Orte wollte ich kennenlernen und ihre Magie ergründen. Das habe ich auch getan. Warum mich dabei die dunkle Seite manchmal besonders fasziniert hat? Wer aus dem wohlgeordneten Leben deutscher Gründlichkeit kommt, verspürt eine Sehnsucht nach dem Ungeordneten, nach dem Charme des Chaotischen. Zu sehen, dass es auch anders geht, hat mich inspiriert, zumal mir das Gefühl der Angst fremd war. Freiheit war schon immer mein Lebensthema. Raus aus dem schwierigen Elternhaus, einfach weg. So weit weg wie möglich. Ich wollte leben und meiner Neugierde keine Grenzen setzen. Vernünftig war das nicht immer.

Aber Menschen sind das selten, auch nicht auf der Autobahn. Obwohl ich fast hundertfünfzig fahre, überholen mich ständig die Geschosse der dunklen Edelmarken. Jetzt schiebt sich ein riesiger SUV an mir vorbei. Eine dieser Egoprothesen, mit denen Fahrer ihre Wichtigkeit demonstrieren. Vor allem auf dem letzten Teil der Autobahn, wo der Zubringer von Starnberg einmündet, rasen diese Führungskräfte wie ferngesteuert auf ihre Büros zu. An der ersten Ampel begegne ich dann vielen wieder. Die üblichen Anzuggesichter, glatt, ernst, wichtig. So sehen sie alle aus, die ihre Lebenszeit gegen Geld verkauft haben. Da sind mir die kleinen Leute schon lieber, die das zwar auch tun, aber nur weil ihnen nichts anderes übrig bleibt. Ihnen gelingt es mühelos, ohne dreihundert PS auszukommen. Es sind Menschen, von denen niemand spricht, die aber unsere Gesellschaft am Leben erhalten: der U-Bahn-Fahrer, die Kassiererin im Supermarkt, der Schuster an der Ecke, die Krankenschwester.

Wie lächerlich sie doch manchmal sind, die Bürowichte der oberen Hierarchien. In den seltenen Fällen, in denen ich auf Flügen in der Business Class sitze, warte ich immer mit Spannung auf den Moment, in dem sie endlich loslegen dürfen. Ein gedämpfter Piepston und das Anschnallzeichen über den Sitzreihen erlischt. Wie auf Kommando greifen alle zum Aktenkoffer, schälen einen gewichtigen Laptop hervor und stapeln Unterlagen neben sich.

Ich versuche mich dann als Industriespion und werfe verstohlene Blicke in die Dokumente: Deal Memo, Evaluation Sheet, contingency control, support analyst report. Manche studieren die Agenda des nächsten Meetings (Bereichsleitersitzung – Vertrieb Südosteuropa), andere arbeiten an einer Präsentation (Milchtütendesign mit anschließender Marketingkampagne) oder starren auf die grafisch bunt gefächerten Balken, die so nett anzuschauen sind: Verkaufszahlen von Lebkuchen in Korea oder Staubsaugern in Portugal.

Nicht dass mir das banal vorkäme. Die Entscheidungsträger der Wirtschaft, die mit Höchstgeschwindigkeit durch ihr Leben eilen, nicht nur auf der Autobahn, sichern Arbeitsplätze. Meist genügt ihnen auf der Straße kein Auto, sie brauchen als Egoprothese einen übermotorisierten Salon, weil sie sonst die Kälte spüren würden, die auf der Welt herrscht. Oder den knorrigen Sound eines teuren Zweisitzers, der Sportlichkeit suggeriert. Doch mich täuschen sie nicht mit ihrer selbst ernannten Wichtigkeit.

Auch Nieten in Nadelstreifen gehören zum Alltag der Geschäftswelt. Wenn diese überbezahlten Vordenker falsch denken, werden sie nicht bestraft, sondern belohnt. Kommt ein Konzern ins Schleudern, wird eisern gespart, Arbeiter und Angestellte werden entlassen. Der harte Sanierungskurs beeindruckt die Analysten, die Aktie steigt, der Vorstand, der die Misere verursacht hat, verdient kräftig dazu. Im schlimmsten Fall muss er weichen, dann wird sein Trennungsschmerz mit Abfindungen in Millionenhöhe vergoldet.

Wofür? Weil er unsinnige Entscheidungen getroffen hat?

Ich bin überzeugt, unter jeder Berufsgruppe gibt es den gleichen Prozentsatz von Idioten. Ob Arzt, Politiker oder Metzger spielt dabei keine Rolle. Leider scheinen manche, wenn sie einmal oben sind, unantastbar zu sein. Gerade die Versager unter ihnen nehmen sich besonders wichtig, aus Angst, dass man ihre Unfähigkeit eines Tages bemerkt. Bis dahin wollen sie das falsche Spiel mit Vollgas genießen.

Deshalb sind Menschen, die sich für wichtig halten, auch immer in Eile. Obwohl uns allen dieselbe Zeit zur Verfügung steht, nämlich vierundzwanzig Stunden am Tag, haben wichtige Menschen davon immer zu wenig. Auch im Flugzeug.

Gedankenlos kauen sie an den hastig servierten Käsesemmeln, wenn Brösel auf die Tastatur fallen, werden sie mit grimmiger Miene abgeschüttelt.

Niemand lächelt, niemand spricht. Nur vorne links diktiert ein graumelierter CEO gedämpfte Befehle in sein Diktiergerät. Die ganz Entspannten, die mit den fetten Abfindungsgarantien, blättern in der Financial Times und hüsteln ein bisschen. In solchen Momenten spült mir meine Liebe zur Anarchie gerne Szenen subtiler Provokation ins Gehirn. Sollte ich inmitten dieser wirtschaftlichen Elite die Castingunterlagen zu einem pornografischen Film studieren, so ernst wie die neben mir Sitzenden ihre Statistiken?

Nicht dass mich Großaufnahmen aus dem Genitalbereich interessieren oder besonders erregen würden. Ich würde nur vorgeben, Entscheidungsträger einer anderen Branche zu sein und würde entsprechende Notizen machen: »Sandra mit Ballettsex, dann japanisches Bondage, nach dem Mittagessen Julia mit triple penetration.« So wäre ich in der Business Class ein echter Business Man. Immerhin setzt die Pornoindustrie in Deutschland fast eine halbe Milliarde im Jahr um. Ein deprimierender Gedanke.

Nach dem Stau am Ende der Autobahn biege ich auf den Mittleren Ring ein und schließe das Schiebedach. Die Schlange an Lastwagen, die bei jeder Ampel dunkle Dieselwolken auskeuchen, ist endlos. Plötzlich wird es laut. Im offenen BMW-Cabrio, das neben mir auftaucht, durchbricht eine unsichtbare Rockband die Schallmauer.

Am Steuer sitzt eine junge Frau, ihre Hände trommeln den Takt am Lenkrad, ihre blonden Haare werden von einer Baseballmütze diszipliniert. Sie sieht cool aus, doch die schrille Sonnenbrille verleiht ihr den arroganten Touch, den ich nicht mag. Jetzt dreht sie das Radio noch lauter, ihre Hände hämmern noch heftiger auf das Lenkrad. Ist sie erregt? Oder genervt? Sie würdigt mich keines Blickes und das ist gut so.

Hinter der Universität finde ich ausnahmsweise einen Parkplatz. Ich gehe hinunter zum Englischen Garten und kaufe unterwegs die Süddeutsche Zeitung. Am Himmel ballen sich einige Wolken, der Wind ist frisch, aber nicht unangenehm. Nahe am Eisbach setze mich auf eine Anlagebank. Ein älterer Herr mit Stock nimmt auf der Bank neben mir Platz. Er hustet lange und zückt dann die Bildzeitung. Eine Studentin im T-Shirt, unter dem die Brüste anmutig schwingen, bremst ihr Fahrrad ab und kommt vor der Bank zum Stehen. Ich rutsche zur Seite. In diesem Augenblick räuspert sich mein Nachbar. Aus den tiefsten Nischen seines Körpers dringen gepresste Laute. Es klingt, als würde er gleich seine Raucherlunge in die hohle Hand spucken und sie den Umstehenden zur Begutachtung darbieten. Die junge Dame fährt weiter. Kein Wunder.

Mein Blick wandert über die Wiese. Sie ist noch nass vom Regen. Beim Anblick des feuchten Grases spüre ich, wie sich längst Vergessenes in mein Gehirn vortastet. Erinnerungen kommen und gehen, mitunter verschwinden sie für immer. Die Bilder, die mein Blick auf die nasse Wiese und das im Licht glänzende Gras in mir hervorruft, hatten sich Jahrzehnte versteckt. Warum sind sie gerade in diesem Moment lebendig geworden?

Odyssee eines Unvernünftigen

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