Читать книгу Odyssee eines Unvernünftigen - Ray Müller - Страница 22
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ОглавлениеImmer noch stehe ich vor der Buchhandlung in der Leopoldstraße. Immer noch überlege ich, ob ich hineingehen soll. Der Kontakt mit Frauen ist unter Büchern weniger kompliziert als in Bars, problemlos allerdings auch nicht. Immerhin kann man das Objekt der Begierde danach ausmustern, in welchen Titeln es blättert. Die Versuchung auf zwei Beinen ertappt man selten bei Sloterdijk, de Lillo oder Llosa, eher bei Donna Leon oder Paulo Coelho. Vielleicht noch bei den Wegweisern zum Glück. Bei esoterischen Themen natürlich auch.
Kein Wunder, im Grenzgebiet der Vernunft sind uns die Frauen weit voraus.
Sie haben eine Seele und sie stehen dazu. Sie wollen sich nicht abfinden mit der kalten Welt männlicher Egomanen, in der für viele Profit der einzige Maßstab für Lebensqualität ist. Auch deshalb bewundere ich die Frauen, wegen ihrer stillen Anarchie, ihrer Suche nach Sinn und möglichen Alternativen zum desolaten Zustand der Welt.
Natürlich gibt es im Regal der Ratgeber die bizarrsten Blüten, doch besser Dornen, als gar keine Rosen. Zum Glück gibt es in letzter Zeit zunehmend Bücher, die die Rolle der Frau in der Männergesellschaft kritisch hinterfragen.
Das kann ich nachvollziehen. Männer sind einfach eine Zumutung. Ihr selbst ernannter Stellenwert an der Spitze sozialer und privater Hierarchien ist nicht länger legitim, er war es noch nie. Da die Primaten aber nicht weichen wollen, ist die Wut über dieses Dilemma ein dankbares Thema. X steht in dieser Angelegenheit ganz auf der Seite der Frauen. Über Jahrtausende waren Männer an der Macht und man braucht diesen Planeten nur anzusehen, um zu wissen, was uns das gebracht hat.
Mein Blick wandert über das Schaufenster mit den vielen Titelbildern, doch langsam bahnt sich eine Entscheidung an. Mein Körper bewegt sich. Ich gehe die Stufen hoch und will die Tür öffnen. Eine Studentin kommt mir entgegen. Schlank und elastisch, Walkman im Ohr, lange schwarze Haare, rotes T-Shirt, darüber eine Tuareg-Kette mit Amulett. Eine Sekunde begegnen sich unsere Blicke. Was sehen ihre Augen?
Eine Gestalt mit kurzem, sich langsam weiß färbenden Bart und einem schon etwas zerfalteten Gesicht, gezeichnet von gelebten Träumen. Vielleicht sieht sie aber auch etwas anderes: Einen in seinen Illusionen abgefederten Alt-Achtundsechziger, der die Entwicklung verschlafen hat und mit Altersgruppen kokettiert, die in ihm die Karikatur sehen, die er nicht sein möchte.
Eine lange Sekunde möchte ich mich in diese blitzenden Augen versenken und ein Graffito in den Raum ihrer Seele sprühen: »Bedenke, auch du wirst deine in der Jugend nicht begangenen Sünden im Alter bereuen.«
Der Bann zerbricht. Die unbekannte Nymphe würdigt mich keines Blicks mehr, sondern spricht angeregt in ihr Mobiltelefon. Gut so, ich betrete die Buchhandlung. Endlich.
Schon im Erdgeschoss wird mir klar – Fehlanzeige. Kein Engel der Sinnlichkeit, nur zwei Rentner, eine Schülerin, zwei Hausfrauen um die fünfundvierzig, mit Einkaufskorb. Ich studiere die Neuerscheinungen im Regal Belletristik. Wie immer viele US-Autoren. Doch auch Chinesen melden sich jetzt zu Wort, vor allem Frauen. Aber kaum Afrikaner. Vielleicht verkaufen sich schwarze Autoren nicht, aufgrund von Vorurteilen. Neger sterben an AIDS, schlagen sich gegenseitig tot oder verhungern vorher. Oder noch schlimmer, sie mogeln sich in unser Land und lungern düster herum.
Wenn schon Afrika, dann durch den Blick der Weißen gesehen. Romantisiert und behaglich. Oder am besten nur die Tiere. Da wir bei uns alles zubetoniert und die einheimischen Tiere fast ausgerottet haben, lieben wir sie woanders umso mehr. In hochwertigen TV-Reportagen, in teuren Bildbänden oder vor Ort. Nur wegen der Tiere bucht der Tourist den Flug nach Afrika. Oder kennen Sie jemanden, der wegen der Menschen dorthin fährt? Vielleicht ein paar Frauen, aber die kommen nicht zum Lesen.
Ähnlich gesinnte Männer noch weniger. Kaum habe ich mich von diesem Gedanken gelöst, betritt ein Schwarzer (Amerikaner|Afrikaner?) den Laden. Groß, schlank, selbstbewusst. Randlose Brille, dunkler Anzug, weißes Poloshirt. Der Prototyp souveräner Männlichkeit. Die beiden Damen herbstlichen Jahrgangs unterbrechen ihr Gespräch und riskieren einen Blick. Der schöne Schwarze nimmt sie nicht zur Kenntnis, mich auch nicht. Gut so. Zu sehen, um welche Perfektion die Natur sich bei anderen Menschen bemüht, frustriert mich nachhaltig. Zielstrebig geht die elegante Gestalt zum Regal der Klassiker.
Ich verschwinde in den hinteren Räumen, um eine Bestellung abzuholen.
Als ich zurück zur Kasse komme, wartet dort die übliche Schlange. Wieder fällt mein Blick auf den eleganten Schwarzen. Er studiert einen Bildband über Architektur. Neben ihm, bereits zum Kauf ausgewählt, liegen Gedichte von Goethe. Der hätte sich bestimmt gefreut über den neuen Leser, denn von Afrika, dem damals noch dunklen, fast unbekannten Kontinent, wusste er wenig. Dafür aber viel vom Orient und den Frauen. Nicht verwunderlich, im Fernen Osten gab es eine Kultur der Erotik, bei uns die katholische Kirche.
Früher war das anders, im Athen der Antike oder bei wohlhabenden Römern. Dieses kulturelle Erbe hat die Kirche gründlich ausgerottet. Das müssen die Männer bis heute büßen. Die Frauen allerdings auch und das ist nur gerecht.
In den letzten Jahren hat die Evolution der Spezies auf diesem Gebiet allerdings deutliche Fortschritte erzielt. Dafür muss man ihr dankbar sein.
Beim Verlassen des Buchladens werfe ich einen letzten Blick auf die Auslage. Neben Bildbänden von Helmut Newton und Araki liegt auch einer über Sibirien.
Aus Filmen weiß ich, es ist ein kaltes, weites Land, für Touristen keine Option.
Auch die Ortsnamen, die man sich weder merken noch aussprechen kann, verfügen nicht über den Charme der bei Partygesprächen so geschätzten Exotik.
Wer soll dieses Buch kaufen? Über Russland, eine Nation, die von Presse und Politik auch nach der Auflösung der Sowjetunion immer wieder dämonisiert wird, wissen wir fast nichts. Ich gehe weiter. In Gedanken bin ich wieder in dem Russland, das ich damals erfahren habe.