Читать книгу Odyssee eines Unvernünftigen - Ray Müller - Страница 25
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ОглавлениеDen langen Flug nach Australien, wo ich damals zwei Filme drehen sollte, konnte ich mit einem Stopover unterbrechen. Ich wählte Singapur.
Es war meine erste Nacht in Asien. Schon im Flugzeug hatten mich betörende Stewardessen in hoch geschlitzten Kimonos verwöhnt, jetzt konnte ich meiner Fantasie freien Lauf lassen. Im Alter von zweiunddreißig Jahren war diese nicht nur sehr lebendig, sondern durch einschlägige Informationen über das Nachtleben in asiatischen Großstädten entsprechend programmiert. Der Traum von sinnlichen Genüssen mit asiatischer Raffinesse wartete auf Erfüllung. Was ich nicht wusste: Singapur ist die einzige Stadt Asiens, in der Erotik so gründlich versteckt ist, dass sie auch ein ausgehungertes Trüffelschwein nicht orten könnte.
In Unkenntnis der Sachlage steigt X nach dem Einchecken im Hotel in ein Taxi. Er will sich ein Bild machen von den prickelnden Abgründen fernöstlicher Städte. Es ist schon spät, aber die Umstände sind, wie sie sind, also nicht zu ändern.
»Where you go?«
Der Taxifahrer, ein jüngerer Asiate mit randloser Brille, sieht ihn ernst an.
»Where the beautiful girls are.«
Keine Reaktion. X versucht seine Absicht, die er vor sich selbst als journalistische Neugierde tarnt (was nicht immer falsch ist), mit diskretem Nachdruck zu vermitteln. Der Mann hört regungslos zu. Dann fährt er los.
Nachdem die Zahl auf dem Taxameter ein beachtliches Volumen erreicht hat, wiederholt der Fahrer seine Frage nach dem Ziel. Wieder macht X einen Kommunikationsversuch, wieder vergeblich.
Der Fahrer schüttelt den Kopf und bleibt stehen.
X steigt aus und wechselt das Taxi. Inzwischen ist er darauf vorbereitet, seinen Wunsch so anschaulich wie möglich zu schildern. Der nächste Chauffeur ist ein bärtiger Inder, gelbes Seidenhemd, rote Krawatte. X wiederholt sein Ansinnen, wortreich und suggestiv. Doch auch dieser Mann wirft ihm eigenartige Blicke zu. Immerhin fährt er los, er scheint zu wissen, wohin.
In einem unscheinbaren Villenviertel bleibt der Wagen stehen. Der Fahrer zeigt auf ein Gebäude ohne Eigenschaften. Zögernd steigt sein Fahrgast aus. Es ist keine Bar, kein Restaurant, sondern ein beliebiges Haus im Dunkeln einer unbekannten Stadt. Während X noch überlegt, ob nicht doch wieder ein Irrtum vorliegt, verschwindet das Taxi.
Jetzt ist es still. Und dunkel, die nächste Straßenlampe ist weit entfernt. Er tritt näher und sieht sich das Haus genauer an. Kein Türschild, kein Name.
X klingelt. Nichts rührt sich. Er klopft. Nach einigen Sekunden geht die Tür auf. Auf der Schwelle erscheint ein Asiate im Unterhemd, er wirkt unrasiert und verschlafen.
»Yes, Mister?« X gibt ihm zu verstehen, dass er wegen der Frauen hier sei.
Ein unergründlicher Blick mustert den Gast. »Only look?«
X nickt. »First, only look« – ganz unverbindlich natürlich.
Der Mann tritt zurück und öffnet die Tür. X zögert, eine dürre Hand packt ihn am Ärmel und zieht ihn nach innen. Das Portal fällt zu. Die gleiche Hand zieht ihn weiter. Am Ende des dunklen Gangs öffnet sich eine andere Tür. Die Hand schiebt X in ein nur schwach erhelltes Zimmer. Der Raum ist kahl und leer, bis auf den Stuhl neben der Tür. An der Wand gegenüber ein zweiter Stuhl.
Die Atmosphäre erinnert an eine Garage im Winter. Die Tür fällt zu, X ist allein. Und jetzt? Eine Weile sitzt er da und überlegt, was hier gespielt wird. Von erotischem Verlangen kann längst keine Rede mehr sein. Es war ohnehin nie real gewesen, sondern geschürt durch Fantasien, die längst verblasst sind.
X steht auf und stößt den Stuhl beiseite. Das kalte, unangenehme Geräusch, das die brüske Bewegung im Raum hervorruft, wird durch die Betonwände verstärkt. Langsam hat er das Gefühl, hier gefangen zu sein.
Er läuft zur Tür, doch in diesem Moment öffnet sich diese kurz, eine Person wird in den Raum gestoßen. Es ist eine junge Frau. Sie wirkt verängstigt und schüchtern. Mit gesenktem Kopf geht sie langsam zu dem Stuhl an der Wand und setzt sich. Ein unmerkliches Nicken, dann starrt sie wieder zu Boden.
Die Entfernung zwischen ihrem Stuhl und dem des Besuchers beträgt etwa sechs Meter. Und jetzt? X, dem die zierliche Frau leidtut, versucht, ein Gespräch in Gang zu bringen. Sie antwortet so leise, dass er ihre Worte nur mit Mühe versteht. »I am a secretary.« Dann ein längeres Schweigen. Jetzt geht ihm die absurde Situation endgültig auf die Nerven.
Er läuft zur Tür und stößt sie auf. Vor ihm stehen drei Asiaten, die ihn mürrisch anstarren. X macht deutlich, dass er hier raus will. Die Männer beginnen, auf ihn einzureden, immer lauter, immer energischer. Wenn ihm das Mädchen nicht gefalle, könne man ein anderes besorgen. Er will die Asiaten wegdrücken, doch sie versperren ihm den Weg, hartnäckig. X wird unfreundlich.
Er mag es nicht, wenn man seine Entscheidung ignoriert. Plötzlich geht das Licht aus. Hände halten ihn fest, verschwitzte Körper pressen sich an ihn, für einen Augenblick liegt Gefahr in der Luft. »Good girl, many good girls here.«
Von allen Seiten zischen Stimmen in sein Ohr: Mit einem Schrei reißt er sich los. »Stop it.« Sekunden später ist er beim Portal und wirft sich dagegen. Es ist nicht verschlossen.
Als er wieder im Freien steht, umarmt ihn wieder die laue Luft asiatischer Nächte. Er atmet tief durch. Die erotischen Paradiese des Fernen Ostens hatte er sich anders vorgestellt.
Während ich dies schreibe, wundere ich mich, wie schnell meine Unvernunft ins Lächerliche abdriften kann. Die Fantasie spült uns Träume ins Gehirn und wir glauben, wir könnten sie in Realität verwandeln. Selbst wenn wir das als Irrtum erkennen, schützt es uns nicht davor, bei der nächsten Gelegenheit neuen Illusionen zu verfallen. Mitunter sogar den gleichen.
Zwei Stunden später sitze ich an der Bar des Hilton und nippe an einem Singapur Sling. Das Missgeschick lässt mir keine Ruhe. Immer wieder überlege ich, was ich falsch gemacht habe. Journalistische Gewissenhaftigkeit besteht darin, nicht dem ersten Eindruck zu vertrauen, sondern Information aus verschiedenen Quellen zu recherchieren. Crosschecken nennt man das. Ich gönne mir einen weiteren Drink und beschließe, die Tempel erotischer Kultur in dieser Stadt einer weiteren Prüfung zu unterziehen.
Wieder rufe ich ein Taxi, diesmal mit präzise vorgetragenen Wünschen.
Mein Fahrer ist diesmal ein alter, unrasierter Chinese mit Goldzähnen, einer Baseballkappe und einem Budweiser-T-Shirt. Der Mann lacht, ohne zu zögern fährt er los. Ich nehme an, dass wir in einem belebten Vergnügungsviertel landen werden, mit Neonlichtern und lärmender Musik. Ein Irrtum.
Schon bald verlässt das Taxi die hell erleuchteten Einkaufsstraßen und nähert sich einem öden Viertel mit grauen Hochhäusern. Dann ein weiteres Viertel, noch dunkler. Wieder wird es eine lange Fahrt. Der Verdacht, dass sich erneut Kommunikationsprobleme eingeschlichen haben, verdichtet sich. Die Englischkenntnisse des alten Chinesen sind minimal. Doch wenn ich die Fahrt abbreche und in der düsteren Gegend aussteige, wie und wo bekomme ich dann ein anderes Taxi? Auf der Straße ist kaum noch Verkehr, Fußgänger sehe ich keine.
Vor einem anonymen Wohnquader bleibt der Wagen schließlich stehen. Der Fahrer öffnet die Tür, ich bleibe sitzen. Das erneute Missverständnis frustriert mich. Es ist spät geworden, inzwischen bin ich todmüde. Die Lust auf lustvolle Recherchen ist mir gründlich vergangen.
Doch der alte Chinese weigert sich, zurückzufahren. Erst möchte er seinem Gast etwas zeigen, hier, in diesem Haus. Die Situation ist so kurios, dass meine Neugierde leise wiedererwacht. Ich steige aus. Zielsicher geht der Fahrer auf eine Glastür zu und starrt auf eine Messingtafel mit Klingelknöpfen. Unter etwa fünfzig Namen wählt er einen aus. Ein Summer öffnet die Tür. Die Eingangshalle ist menschenleer, an der Decke flackert kaltes Neonlicht. Das Echo unserer Schritte verliert sich in der Anonymität der Betonwände.
Die Tür des Aufzugs steht offen. Wir fahren los. Der rote Lichtpunkt auf dem Display wandert nach oben, ein leises Rauschen begleitet uns. Die Goldzähne des Chinesen schenken mir ein siegessicheres Lächeln.
Sekunden später sind wir im achtundzwanzigsten Stock. Wieder ein langer Gang, wieder Sichtbeton, wieder verhallen die Schritte im Nichts. Nachdem wir an einer langen Reihe identischer Türen vorbeigegangen sind, stehen wir vor der letzten, sie ist angelehnt.
Ein älterer Asiate im Pyjama erwartet uns. Er begrüßt den Fahrer und bittet die Besucher nach innen. Langsam wird mir die Sache peinlich, es ist fast Mitternacht. Wir gehen ins Wohnzimmer. Vor dem Fernseher sitzt die restliche Familie, eine Frau und drei Mädchen im Alter von etwa achtzehn bis fünfundzwanzig Jahren. Der ausländische Gast wird als ausländischer Gast vorgestellt, muss sich setzen und bekommt ein Bier.
Mein Fahrer redet länger auf die Familie ein. Ich weiß nicht, was er so lange über mich erzählt. Der Vater nickt bedächtig, alle sehen mich freundlich an.
Dann schlägt mir der Chinese leutselig auf die Schulter. »It’s okay.«
Was ist okay? Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was hier vorgeht.
»You take girl you like, we go.« Habe ich richtig gehört? Ich soll mir eines der Mädchen aussuchen und mitnehmen? Vor den Augen der ganzen Familie?
Eine absurde Situation, absolut lächerlich. Doch mir ist nicht zum Lachen.
X verflucht seine Neugier. Warum hat er nicht auf seine innere Stimme gehört? Warum liegt er nach dem langen Flug jetzt nicht im Hotel und genießt den wohlverdienten Schlaf? Alle blicken ihn gespannt an.
Er muss dem Unsinn ein Ende machen, sofort. Am besten, indem er tut, was man von ihm verlangt. Dann wird sich das Missverständnis schnell klären. Forsch deutet er mit dem Finger auf die Tochter mittleren Alters. Sie ist die Attraktivste, obwohl dies jetzt keine Rolle spielt.
Das Mädchen steht auf, nimmt seine Handtasche von der Kommode und stellt sich in die Mitte des Raums, eine Statue, die zur Versteigerung freigegeben wird. Der Fahrer strahlt: »This Rosi.« Die Familie lächelt, X nicht.
Er will nur noch weg von hier, sofort. Dieser Wunsch wird von allen verstanden. Die Familienmitglieder erheben sich und geleiten die Besucher zum Ausgang. X verabschiedet sich und läuft den Gang entlang, vor zum Lift. Rosi tippelt ihm nach, der Chinese folgt. Die Wohnungstür fällt zu. Also kein Missverständnis.
Schweigend warten wir, bis die Kabine kommt. Lange, quälende Sekunden. Rosi blickt zu Boden, X studiert den Lichtschalter. Dann betrachtet er sein Gesicht im Spiegel der Glastür. Es gefällt ihm nicht.
Endlich ist der Lift da. In der Kabine wirft ihm das Mädchen einen ersten, scheuen Blick zu, dann drückt es sich wieder ins Eck. Der alte Chinese zeigt strahlend seine Goldzähne und klopft ihm auf die Schulter. »Good girl.«
X weiß, er ist ein Idiot. Dieser Idiot steht stumm da, unschlüssig, wohin er seinen Blick richten soll. Rosi trägt rote Socken und weiße Turnschuhe, die verrunzelten Füße des Chinesen stecken in Sandalen. Der Lichtpunkt am Aufzug wandert nach unten. Immer noch grinsen mich die Goldzähne an.
Mit einem Ruck bleibt der Lift stehen. Wir gehen ins Freie. Der Fahrer hält die Hintertür des Taxis auf. Ich steige ein, Rosi setzt sich neben mich. Als der Wagen losfährt, rutscht sie zur Seite, so weit weg wie möglich.
Der Chinese macht das Radio an. Unter den Trompetenklängen von Louis Armstrong gleitet das Taxi durch die Nacht. Ich muss gähnen, Rosi lächelt. Immerhin. Wieder verfluche ich meine Neugierde. Warum habe ich es so weit kommen lassen?
Der Motor surrt leise vor sich hin, niemand spricht. Nur die Trompete hat noch etwas zu sagen, aber das betrifft uns nicht. Die Zeit dehnt sich, peinlich lange.
Endlich rollt das Taxi in die Hotelauffahrt. Ein livrierter Boy öffnet die Tür.
Wir steigen aus. Und jetzt? Soll ich das Mädchen zurückschicken? Noch steht der Wagen da. Doch in dem Augenblick, als ich mich dazu entschließe, braust er davon. Ein letztes Hupen ertönt, als wolle mir der Fahrer Glück wünschen. Ich blicke mich um, kein Glück zu sehen, nur Rosi. Da mir nichts Besseres einfällt, will ich hoch ins Zimmer fahren. Rosi nickt und senkt den Kopf.
Langsam wird mir das lästig. Dieses Mädchen ist attraktiv, aber ich sehe immer nur ihre Haare. Nach einer weiteren Minute einsamen Schweigens im Lift schließe ich die Tür zu meinem Apartment auf. Das Bett füllt fast den ganzen Raum, die Decken sind aufgeschlagen. Ein etwas zweideutiger Anblick.
Ich schalte das Radio an. Chinesische Popmusik säuselt, süß und penetrant. Resigniert schalte ich wieder ab und öffne die Tür zur Minibar. »You want?« Rosi nimmt eine Cola. Und jetzt?
Sie setzt sich auf den Stuhl, zieht den Rock über die Knie und blickt züchtig zu Boden. Mir fällt nichts mehr ein. Inzwischen liegt mir die Müdigkeit wie Blei in den Gliedern. Es ist nach Mitternacht, neben mir sitzt eine hübsche Asiatin, aber was soll das alles? Von erotischer Spannung kann keine Rede sein. Das delikate Vorhaben, das für Sekunden wie ein unsichtbarer Schleier in der Luft lag, hat sich längst verflüchtigt. Ich entscheide mich für einen Gang ins Bad. Vielleicht würde das Rosi die Gelegenheit bieten, etwas aufzutauen. Oder zu verschwinden.
Als X zurück ins Zimmer kommt, liegt sein asiatischer Traum auf dem Bett. Das Mädchen ist immer noch angezogen, ihre Arme sind auf der Brust verschränkt. Es sieht aus, als würde sie beten. Oder wenigstens hoffen, schnell erlöst zu werden von diesem merkwürdigen Fremden im Bademantel. X zieht ihr die Sandalen von den Füßen und setzt sich neben sie. Vorsichtig streichelt er ihre Stirn. Sie lächelt. Unsicher, ängstlich. Als seine Fingerspitzen kurz über ihre Brüste wandern, die sich unter der Seidenbluse abzeichnen, zuckt Rosi zusammen und schließt die Augen. In diesem Augenblick rast ein glasklarer Gedanke in seinen Kopf, der erste in dieser Nacht: Wenn er dem Wahnsinn jetzt kein Ende bereitet, wird er das bitter bereuen.
Ich springe auf, Sekunden später bin ich angezogen. Rosi lächelt erleichtert.
Kurz darauf sitzen wir an der Hotelbar. Das Mädchen ist jetzt ganz entspannt, kokett spielen ihre Lippen mit dem Strohhalm des Cocktails.
Leider ist ihr Englisch so schlecht, dass wir über rudimentären Small Talk nicht hinauskommen. Nach einigen Minuten drücke ich ihr einen Schein in die Hand und verabschiede mich. »I am very tired.« Das ist nach achtzehn Stunden Flug wirklich nicht gelogen. Sekunden später ist sie verschwunden.
Wieder warte ich am Lift. Ein chinesischer Geschäftsmann, den eine junge Asiatin begleitet, wartet ebenfalls. Kaum sind wir in der Kabine, schmiegt sich das Mädchen an ihren Kunden, lässt ihre Hand über seine Oberschenkel wandern. Ich wende mich ab. Diesem Typen gönne ich seine Beute nicht. Der Chinese, klein und fett, sieht aus wie ein gemästeter Kampfhund.
Das Leben ist eben unberechenbar. Ich bin es leider auch. Mit einem nachsichtigen Lächeln über meine Unvernunft sinke in den Schlaf.