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5. Beweiserhebung

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Sämtliche Tatsachen, deren Kenntnis für die Entscheidung über die Zulässigkeit und Begründetheit der Beschwerde notwendig ist, müssen durch den Gerichtshof festgestellt werden. Der EGMR befasst sich also nicht lediglich mit der Überprüfung von Rechtsfragen sondern nimmt eine eigene Tatsachenfeststellung vor. Obwohl er den auf nationaler Ebene festgestellten Sachverhalt grundsätzlich nicht überprüft, muss er die der Beschwerde zugrunde liegenden Tatsachen grundsätzlich selbst ermitteln. Im Wesentlichen stützt sich der EGMR dabei auf die Ausführungen der Parteien, ist an diese jedoch – selbst wenn sie übereinstimmend sind – in keiner Weise gebunden. Bereits auf nationaler Ebene erfolgte behördliche Ermittlungen oder gerichtliche Beweiserhebungen fließen in die Untersuchung ebenfalls mit ein, sind aber für die Entscheidung über das Vorliegen eines Konventionsverstoßes nicht ausschlaggebend.

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Lediglich ergänzend erfolgt eine unmittelbare Beweisaufnahme vor dem Gerichtshof, wobei die Parteien die Einvernahme von Zeugen, Sachverständigen oder anderen Personen beantragen können (zur Kostenfrage siehe Rule A5 Abs. 6).[104] Eine unmittelbare Einvernahme von Zeugen geschieht in der Praxis aber eher selten. Sie kommt vor allem dort in Betracht, wo die Sachverhaltsermittlung auf nationaler Ebene hinsichtlich eines für die Einhaltung der Konvention maßgeblichen Umstandes unzureichend gewesen ist.

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Hinweis

Allein ein Aufklärungsmangel hat häufig einen eigenständigen Konventionsverstoß zur Folge.[105] Keinesfalls kann und darf eine Aufhellung des Sachverhalts durch den Gerichtshof eine gründliche Aufklärung auf nationaler Ebene ersetzen. Die Beweiserhebung und -verwertung ist und bleibt vorrangig eine Angelegenheit der nationalen Instanzen.

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Die (in der Praxis ohnehin seltene) Erhebung von Beweisen findet meist in der mündlichen Verhandlung im Gerichtsgebäude in Straßburg statt, kann aber auch durch Delegationen, d.h. beauftragte Mitglieder der Kammer oder andere Richter des Gerichtshofs erfolgen (Rules A1-A8).[106] Der Gerichtshof kann solche Untersuchungen oder andere Beweiserhebungen in jedem Verfahrensstadium an jedem beliebigen Ort durch eines oder mehrere seiner Mitglieder durchführen (Rule 19 Abs. 2). Das gilt insbesondere für die Kammer, die über die Begründetheit der Beschwerde entscheidet.

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Die Kammer kann auf Antrag einer Partei, eines Dritten sowie von Amts wegen alle Beweise erheben, die sie für geeignet hält, den Sachverhalt aufzuklären, ohne dabei an bestimmte Beweismittel oder gar an Vorschriften und Grundsätze des jeweiligen nationalen Strafprozessrechts gebunden zu sein (Rule A1 Abs. 1). Die Parteien haben die Kammer – bzw. die beauftragte Delegation – bei der Feststellung des der Beschwerde zugrunde liegenden Sachverhaltes zu unterstützen (Art. 38 Hs. 2 EMRK; Rule A2).

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Recht häufig werden die Parteien aufgefordert, Urkunden oder sonstige schriftliche Beweise für ihr Vorbringen vorzulegen. Dass angeforderte Unterlagen nach nationalem Recht „Verschlusssache“ sind, kann nicht eingewandt werden.[107] Jede Person, deren Angaben oder Erklärungen für die Aufklärung des behaupteten Konventionsverstoßes nützlich erscheinen, kann als Zeuge, Sachverständiger oder in anderer Eigenschaft gehört werden (Rule A1 Abs. 1), was in der Praxis jedoch recht selten geschieht. Gleiches gilt für Ortsbesichtigungen oder Inaugenscheinnahmen. Außerdem kann die Kammer Personen oder Institutionen ersuchen, zu einer bestimmten Frage Auskünfte einzuholen, eine Stellungnahme abzugeben oder der Kammer Bericht zu erstatten (Rule A1 Abs. 2).[108]

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Zeugen, Sachverständige und andere Personen, die vor dem Gerichtshof auftreten, dürfen sich ihrer eigenen Sprache bedienen, wenn sie keine der beiden Amtssprachen hinreichend beherrschen. Der Kanzler trifft die notwendigen Vorkehrungen für die mündliche und schriftliche Übersetzung (Rule 34 Abs. 6).

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Die Parteien können die Vernehmung eines bestimmten Zeugen oder Sachverständigen nur unter engen Voraussetzungen ablehnen (z.B. wegen Befangenheit). Über den Antrag entscheidet die Kammer. Sie kann eine Person, die nicht als Zeuge oder Sachverständiger vernommen werden kann, gleichwohl zu Informationszwecken anhören (Rule A7 Abs. 5).

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Insbesondere zur Überprüfung von Haftbedingungen wird die Kammer erwägen, eines oder mehrere ihrer Mitglieder oder andere Richter des Gerichtshofs zu beauftragen, eine Untersuchung, eine Ortsbesichtigung, eine sonstige Inaugenscheinnahme oder eine andere Maßnahme zur Beweiserhebung durchzuführen.[109] Zur Unterstützung der Tätigkeit einer solchen Delegation – die grundsätzlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit erfolgt (Rule A1 Abs. 5)[110] – können unabhängige externe Sachverständige bestellt werden (Rule A1 Abs. 3).

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Der Gerichtshof ist nicht an bestimmte (nationale) Beweis- oder Beweislastregeln gebunden, sondern entscheidet über das Vorliegen eines Konventionsverstoßes aufgrund freier richterlicher Beweiswürdigung. Obwohl er keine prozessuale Beweislast im engeren Sinne trägt, muss der Bf. grundsätzlich den behaupteten Konventionsverstoß substantiiert darlegen und die entsprechenden tatsächlichen Umstände überzeugend nachweisen. In Fällen, in denen die Tötung eines Menschen, die Anwendung physischer Gewalt gegenüber inhaftierten Personen oder deren Unauffindbarkeit behauptet wird, besteht für den betroffenen Konventionsstaat allerdings eine qualifizierte Darlegungslast,[111] deren Umfang je nach Einzelfall bis zu einer echten Beweislastumkehr und entsprechender Exkulpationspflicht reichen kann (plausible/satisfactory and convincing explanation)[112].[113] Lässt sich in einem solchen Fall der vom Bf. behauptete Sachverhalt nicht zuverlässig aufklären, so unterstellt der Gerichtshof das entsprechende Vorbringen, wenn der Vertragsstaat gegen seine aus Art. 2, 3 EMRK bzw. Art. 5 EMRK abzuleitende Organisations- oder Dokumentationspflicht verstoßen hat.[114]

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Beweiserhebungen (vor einer Delegation), die der betroffene Vertragsstaat beantragt, muss dieser grundsätzlich selbst bezahlen. Das gilt jedoch nicht für den Bf., dem die Kosten einer von ihm beantragten Beweiserhebung nur höchst selten auferlegt werden. Meist werden diese Kosten vom Europarat getragen. Die Höhe der Kosten bestimmt der Kammerpräsident (Rule A5 Abs. 6).

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