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1. Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)[20]
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Ein in den letzten Jahren kontinuierlich stärker werdender Einfluss internationalen Rechts auf das deutsche Strafverfahrensrecht ergibt sich durch die Anwendung der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) und die Möglichkeit, die durch sie gewährten Rechte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg durchzusetzen[21]. Bei der EMRK handelt es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag, der am 4.11.1950 auf der Ebene des Europarats geschlossen und in Deutschland mittels eines Transformationsgesetzes[22] umgesetzt wurde. Formal genießt die EMRK den Rang eines einfachen Bundesgesetzes (Art. 59 II GG). Probleme entstehen, wenn die grundrechtlichen Garantien nach Maßgabe des GG anders bewertet werden als auf Grundlage der EMRK. In solchen Fällen ist zur Vermeidung von Kollisionen eine völkerrechtskonforme Interpretation der Grundrechte im Einklang mit der EMRK und mit der Rechtsprechung des EGMR geboten. Diese Methode der konventionskonformen Auslegung[23] führt zu einem faktischen Vorrang der EMRK vor deutschem Recht[24], der jedoch nach der Rspr des BVerfG ausnahmsweise nicht besteht, wenn andernfalls gegen „tragende Grundsätze der Verfassung“ verstoßen würde[25].
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Die EMRK eröffnet dem Einzelnen die Möglichkeit, ua folgende Rechte geltend zu machen[26]:
– | Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung (Art. 3 EMRK[27]); |
– | Recht auf Freiheit und Sicherheit, insbes. Recht auf unverzügliche Vorführung des Festgenommenen zur richterlichen Überprüfung der Freiheitsentziehung (Art. 5 III EMRK[28]) und Recht auf spätere richterliche Haftkontrolle (Art. 5 IV EMRK[29]); |
– | Recht auf ein faires Verfahren (Fair-trial-Grundsatz, Art. 6 I EMRK), das insbes. das Beschleunigungsgebot (s.u. Rn 56) enthält (weitere Beispiele s.u. Rn 59); |
– | Recht der unverzüglichen Unterrichtung über die Art (dh den Straftatbestand) und den Grund (dh den Lebenssachverhalt) der Anklage in einer dem Angeklagten verständlichen Sprache (Art. 6 IIIa EMRK[30]); |
– | Recht auf Verteidigerbeistand (Art. 6 IIIc EMRK[31]); |
– | Recht, Fragen an den Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen (Art. 6 IIId EMRK[32]; s. auch u. Rn 190); |
– | Recht auf unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers (Art. 6 IIIe EMRK[33]); |
– | Nulla poena sine lege (Art. 7 I EMRK[34]); |
– | Abschaffung der Todesstrafe (6. Protokoll und 13. Protokoll zur EMRK, beide von der BRD ratifiziert); |
– | Recht auf Achtung der Privatsphäre/Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 8 EMRK[35]). |
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Zentrale Norm für das Strafverfahrensrecht ist Art. 6 EMRK, der zahlreiche Rechte der an einem Gerichtsverfahren, insbesondere einem Strafverfahren, beteiligten Personen zusammenfasst. Exakt aufgeführt enthält Art. 6 I sieben Justizgrundrechte, Art. 6 II die Unschuldsvermutung und Art. 6 III weitere acht Grundrechte. Allerdings sieht der EGMR das in Art. 6 I enthaltene Recht auf ein faires Verfahren als übergreifend und die Einzelrechte als dessen Ausfluss an. Die Beurteilung des Verfahrens in seiner Gesamtheit wird daher allgemein als wesentliches Kriterium der Anwendung des fair-trial-Grundsatzes durch den EGMR angesehen[36].
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Stellt der EGMR einen Verstoß gegen die von der EMRK gewährten Grundrechte fest, so ist er nicht in der Lage, Urteile der nationalen Gerichte aufzuheben. Er kann dem Verletzten aber nach Art. 41 EMRK für nicht wiedergutzumachende Verletzungen eine „gerechte Entschädigung“ zusprechen. Zudem kann der Verletzte in Deutsch land gem. § 359 Nr 6 StPO auf die Feststellung der Konventionswidrigkeit durch den EGMR ein Wiederaufnahmeverfahren stützen, sofern das gerügte nationale Urteil auf der Konventionsverletzung beruht[37]. Daneben ordnet Art. 46 EMRK an, dass die Mitgliedstaaten in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das Urteil des EGMR zu befolgen haben (s. aber zur Rangfrage der EMRK Rn 14). Grundsätzlich gilt dies in den jeweiligen personellen, sachlichen und zeitlichen Grenzen des Streitgegenstandes, idR also nur für den beklagten Staat. Allerdings können Urteile, die gegen andere Mitgliedstaaten ergehen, dennoch von Bedeutung sein, da sie insofern eine übergreifende praktische Wirkung entfalten, als sich jeder Mitgliedstaat bei vergleichbarer Fallkonstellation einer Korrektur des EGMR gewärtig sein muss, wenn seine Rechtsregeln nicht mit den vom Gerichtshof verlangten übereinstimmen[38]. Ständige Rechtsprechung des EGMR soll sogar eine normative Leitfunktion entfalten, an der sich die Staaten orientieren müssen[39].
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Dem EGMR gehört grundsätzlich für jeden der derzeit 47 Mitgliedstaaten ein Richter an (für Deutschland derzeit: Anja Seibert-Fohr), die sich auf verschiedene Sektionen und Kammern verteilen. Der Gerichtshof kann entweder von einem Mitgliedstaat (Staatenbeschwerde nach Art. 33 EMRK) oder von einzelnen natürlichen oder juristischen Personen wegen einer behaupteten Grundrechtsverletzung durch einen Mitgliedstaat angerufen werden (Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK[40]). Nach Art. 35 I EMRK ist eine solche Beschwerde nur innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung und nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges zulässig. Hierzu zählt auch die Verfassungsbeschwerde zum BVerfG[41]. Verfahren vor dem EGMR sind öffentlich und erfolgen nach dem adversatorischen Verfahrensablauf in einer der Amtssprachen Englisch oder Französisch.
Eine Beschwerde hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn die gerügte Handlung oder Unterlassung dem beklagten Staat zuzurechnen ist. Grundsätzlich haftet jeder Vertragsstaat lediglich für eigene Konventionsverletzungen (vgl Art. 1 EMRK), denn die Regelungen der EMRK etablieren kein einheitliches, unabhängig von den einzelnen nationalen Verfahrensordnungen bestehendes Verfahrensrecht[42]. In einem Piloturteil können strukturelle und systembedingte Konventionsverletzungen durch die Staaten festgestellt werden, mit dem Auftrag an die Staaten, das strukturelle Problem zu beseitigen und einen wirksamen Rechtsbehelf zu schaffen, der allen Opfern im staatlichen Recht Entschädigung verschafft[43].
Das im August 2018 in Kraft getretene 16. Zusatzprotokoll zur EMRK eröffnet den höchsten Gerichten der teilnehmenden Staaten die Möglichkeit, sich in einem Dialogverfahren an den EGMR zu wenden, wenn sie eine Rechtssache zu entscheiden haben, bei der Zweifel über die Auslegung oder Anwendung der EMRK bestehen. Sind die Vorlagevoraussetzungen erfüllt, gibt der EGMR eine beratende Stellungnahme („advisory opinion“) ab. Diese Stellungnahme ist allerdings nicht bindend. Da Deutschland das 16. Zusatzprotokoll zur EMRK bisher nicht ratifiziert hat, können deutsche Gerichte dieses Dialogverfahren derzeit nicht nutzen. Die vom EGMR veröffentlichten gutachterlichen Stellungnahmen sind aber dennoch von deutschen Gerichten zu beachten. Ihnen kommt, vergleichbar mit Urteilen des EGMR, eine faktische Orientierungswirkung bei der Anwendung der EMRK zu[44].
§ 1 Einführung in das Strafprozessrecht, Ziele des Strafverfahrens › VI. Internationale Bezüge › 2. Recht der Europäischen Union