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2. Recht der Europäischen Union[45]

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Die fortschreitende europäische Integration, ua durch die Verwirklichung des Binnenmarktes mit den europäischen Grundfreiheiten, die Wirtschafts- und Währungsunion und die Öffnung der Grenzen zwischen den nunmehr 28 Mitgliedstaaten auf EU-Ebene, aber auch die allgemeinen Globalisierungstendenzen mit weitreichendem technischen Fortschritt und einer wachsenden Mobilität der Menschen haben für international agierende Straftäter neue Betätigungsfelder geschaffen und eine Entwicklung in Richtung schwerer organisierter und transnationaler Kriminalität ermöglicht. Gleichzeitig ist das Strafrecht traditionell wie kaum ein anderes Rechtsgebiet in der nationalen Kultur verwurzelt und verharrte deshalb lange Zeit als „Inbegriff nationaler Souveränität“[46] weitgehend unbeeinflusst vom Europäischen Recht. Mit dem verstärkten Einsetzen der „Europäisierung der Kriminalität“[47] hat aber auf europäischer Ebene eine Bewegung eingesetzt, die die Bekämpfung dieser Strukturen durch die Schaffung eines europäischen Strafrechts (Erlass europäischer Straftatbestände und Errichtung europäischer Strafverfolgungsbehörden) und bzw oder die Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Strafrechtsordnungen anstrebt.

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Der vorerst letzte große Schritt des europäischen Integrationsprozesses ist der am 1.12.2009 in Kraft getretene Vertrag von Lissabon[48]. Er enthält – anders als der gescheiterte „Vertrag über eine Verfassung für Europa“[49] aus dem Jahre 2004 – kein Verfassungskonzept, dh er hebt die bestehenden Verträge nicht auf, um sie durch einen einheitlichen „Verfassungsvertrag“ zu ersetzen, sondern baut auf der Struktur der früheren Verträge EUV und EGV auf. Seit 1.12.2009 trägt der EGV nun die Bezeichnung „Vertrag über die Arbeitsweise der Union“ (AEUV). Die EU tritt an die Stelle der EG, deren Rechtsnachfolgerin sie ist. Sie hat eigene Rechtspersönlichkeit (Art. 1 EUV). Als solche verpflichtet der Lissabonner Vertrag die EU, der EMRK beizutreten (Art. 6 II EUV). In näherer Zukunft dürfte mit diesem Beitritt allerdings noch nicht zu rechnen sein[50], da der EuGH überraschend hiergegen in einem Gutachten im Dezember 2014 erhebliche Bedenken geäußert hat[51]. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) von 2001 ist zusammen mit dem EUV und dem AEUV am 1.12.2009 in Kraft getreten und gilt über den Verweis in Art. 6 I EUV als rechtsverbindliches Primärrecht[52].

Seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon verfügt die EU im Bereich besonders schwerer grenzüberschreitender Kriminalität und als Annexkompetenz zu sonstigen Harmonisierungsmaßnahmen über Kompetenzen für den Erlass von Richtlinien zur Angleichung des materiellen Strafrechts in den Mitgliedstaaten, vgl Art. 83 I, II AEUV. Im Bereich des Strafverfahrens verleiht Art. 82 I, II AEUV der EU Befugnisse zur Festlegung von Mindestvorschriften per Richtlinienerlass. Diese Befugnisse werden allerdings durch die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 I, III, IV EUV) begrenzt. Ein großes Problem bei diesen europarechtlichen Sekundärrechtsakten ist, den Rechtsakt in seiner jeweils gültigen Fassung im Internet aufzufinden[53].

Art. 82 III bzw Art. 83 III AEUV sehen außerdem sog. „Notbrems-Mechanismen“ vor, über die ein Mitgliedstaat, der durch die geplante Harmonisierung „grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung“ berührt sieht, das Gesetzgebungsverfahren blockieren und sich einer Rechtsangleichung entziehen kann[54]. Gemäß den Vorgaben des BVerfG darf der Notbremsmechanismus hierzulande nur mit Zustimmung des deutschen Gesetzgebers betätigt werden (Einzelheiten bei Wessels/Beulke/Satzger, AT, Rn 120).

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Der Ratifizierungsprozess für den Vertrag von Lissabon fand in Deutschland am 25.9.2009 seinen Abschluss. Das BVerfG erweiterte im Lissabon-Urteil[55] allerdings seine Kontrollvorbehalte gegenüber dem EU-Recht durch Verweis auf das in Art. 38 I GG begründete Gebot demokratischer Legitimation von (Straf-)Gesetzgebung sowie der Forderung nach Erhalt der nationalen Souveränität und nach Erhalt des durch die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 III GG gesicherten Normenbestands, aus dem sich der Kern verfassungsrechtlicher Identität zusammensetzt. Der EU dürfe weder eine Kompetenz-Kompetenz zuwachsen noch dürfe sie die Verfassungsidentität des Grundgesetzes verletzen[56]. In zentralen Lebensbereichen, zu denen auch die Strafrechtspflege zähle, müsse die Letztentscheidungsgewalt den nationalen Parlamenten vorbehalten bleiben. Aus dem hiermit aufgegriffenen „strafrechtsspezifischen Schonungsgrundsatz“[57] entwickelte das BVerfG ein Gebot der restriktiven Auslegung von straf- und strafverfahrensrechtlichen Harmonisierungskompetenzen der EU. Ihre Nutzung bedarf „besonderer Rechtfertigung“. Die Harmonisierung von Straftatbeständen soll möglichst nur einzelne Tatbestandsvarianten, nicht vollständige Deliktsbereiche erfassen. Auf strafrechtliche Annexkompetenzen soll die EU überhaupt nur dann zurückgreifen, wenn nachweisbar feststeht, dass ein gravierendes Vollzugsdefizit tatsächlich besteht und nur durch Strafdrohung beseitigt werden kann.

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Der EU standen schon vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zwei Handlungsformen zur Verfügung, um eine Harmonisierung herbeizuführen: Zum einen konnte sie auf supranationaler, gemeinschaftsrechtlicher Ebene Rechtsakte erlassen, soweit ihr der EGV nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung eine Kompetenz zuwies; zum anderen bestand die Möglichkeit, im Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit des EUV auf der intergouvernementalen Ebene tätig zu werden. Diese unterschiedlichen Möglichkeiten ergaben sich aus dem damaligen strukturellen Aufbau der EU, der mit dem so genannten Tempel- oder Säulen-Modell beschrieben wurde. Danach bildete die EU einen Tempel, dessen Dach die vorangestellten Artikel 1–7 des EUV aF und dessen Fundament seine Schlussbestimmungen waren. Dieser Tempel stand auf drei Säulen, wobei sich die erste Säule aus den früher drei, später nur noch zwei supranationalen Europäischen Gemeinschaften (EG und EAG; bis zum 23.7.2002 gab es noch die EGKS) zusammensetzte, die zweite Säule aus der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) bestand und schließlich die dritte Säule von der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) gebildet wurde. Letzteren beiden Säulen war gemein, dass es sich bei ihnen nur um intergouvernementale Zusammenarbeit handelte, dh, dass sich das in diesem Rahmen geschaffene Recht, das sog. Unionssekundärrecht, grundsätzlich in seinen völkerrechtlichen, also zwischenstaatlichen Bindungswirkungen erschöpfte[58]. Diese Säulenstruktur wurde durch den Vertrag von Lissabon zugunsten des oben beschriebenen, verstärkt supranationalen Konzepts geändert. Die 3. Säule der PJZS wurde in Art. 67–89 AEUV „vergemeinschaftet“ und neue Beschlussverfahren eingeführt, womit nunmehr auch Mehrheitsentscheidungen im Rat ermöglicht werden. Neben den beiden supranationalen Bereichen EG und JI (Justiz und Inneres) bleibt aber ein nicht-supranationaler Bereich bestehen, die GASP[59].

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Auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene (erste Säule) stand der EG vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon (s.o. Rn 20) nach hM keine allgemeine Rechtssetzungsbefugnis für das Straf- oder Strafverfahrensrecht zu[60]. Dies galt auch im Hinblick auf die Betrugsbekämpfung zum Schutz der finanziellen Interessen der EG, da Art. 280 IV EGV als in Frage kommende Rechtsgrundlage in S. 2 einen umfassenden Strafrechtsvorbehalt zugunsten der Mitgliedstaaten enthielt[61]. Da im neuen Art. 325 IV AEUV eine solche Einschränkung fehlt, können seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon im Bereich der Betrugsbekämpfung zum Schutz der finanziellen Interessen der EU neben einer Strafrechtsharmonisierung durch Richtlinien auch supranationale Kriminalstraftatbestände[62] durch europäische Verordnung erlassen werden[63].

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Das Gemeinschaftsrecht ist schon immer für das nationale Strafrecht von Bedeutung gewesen, vor allem durch den allgemeinen Grundsatz des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts, der von nationalen Behörden und Gerichten verlangt, nationales Recht, das Unionsrecht entgegensteht, unangewendet zu lassen[64]. Den nationalen Organen kommt infolgedessen eine Verwerfungskompetenz für entgegenstehendes nationales Recht zu. Die Bedeutung des Unionsrechts unterstreicht auch der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung[65], der die Gerichte der Mitgliedstaaten verpflichtet, nationale Normen im Lichte des Unionsrechts auszulegen und anzuwenden. Zur Gewährleistung der Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts konnten die Mitgliedstaaten ferner schon früher im Rahmen der Anweisungskompetenz der EG allgemein, dh ohne Bestimmung von Art und Maß, zur Sanktionierung von Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht verpflichtet werden. Ebenfalls über Annexkompetenzen strebte die EG schon früher eine Harmonisierung des Strafverfahrensrechts an[66]. Wirkungsvoll für das nationale Recht war auch das aus der Loyalitätspflicht (heute Art. 4 III EUV sowie – für die Finanzinteressen – Art. 325 II AEUV) abgeleitete Assimilierungsprinzip. In Fortsetzung der Rechtsprechung des EuGH[67] verlangt es, dass die Mitgliedstaaten die unionsrechtlichen Schutzgüter mit den gleichen – wirksamen, verhältnismäßigen und abschreckenden – Maßnahmen schützen wie nationale Rechtsgüter.

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Auf Ebene der ehemals dritten Säule der EU, der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit, wurden in der Vergangenheit zahlreiche Rechtsakte (Unionssekundärrecht) iSv Art. 34 II EUV aF erlassen, die jedenfalls noch so lange für das Straf- und Strafverfahrensrecht von Bedeutung sind, bis der vor dem 1.12.2009 beschlossene Rechtsbestand in die neuen Rechtsformen unter dem Vertrag von Lissabon überführt worden ist. Von den früher unter Art. 34 II EUV aF zur Verfügung stehenden Handlungsformen wurden zumeist der Rahmenbeschluss (Art. 34 II 2 lit. b EUV aF) oder das Übereinkommen[68] (Art. 34 II 2 lit. d EUV aF) gewählt[69]. Bedeutsam sind von diesen Übereinkommen nach Art. 32, 34 EUV aF heute noch va der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl[70] und das Recht der Nacheile über Ländergrenzen hinweg gem Art. 41-43 SDÜ[71].

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Hat ein nationales Gericht bei Erlass einer Entscheidung Zweifel über den Einfluss des Unionsrechts auf das nationale Recht, kommt eine Anrufung des EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV bzw Art. 19 III lit. b EUV in Betracht[72]. Derartige Zweifel sind nur dann denkbar, wenn nicht der Anwendungsvorrang des Unionsrechts eingreift (s.o. Rn 24). Nationale Gerichte können dem EuGH lediglich entscheidungserhebliche Fragen nach der Auslegung von Unionsrecht oder der Gültigkeit von Sekundärrechtsakten, für die primäres Unionsrecht Prüfungsmaßstab ist, stellen, wenn sie nicht sicher sind, wie das Unionsrecht auszulegen ist. Es geht also nicht um Fragen nach der Auslegung nationalen Rechts sowie dessen Vereinbarkeit mit Unionsrecht, sondern in einer Vorlage ist abstrakt zu fragen, ob eine Entscheidung auf der Basis eines nationalen Gesetzes eine vom Unionsrecht verbotene Maßnahme ist.

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Beim Vorabentscheidungsverfahren ist zwischen der Möglichkeit und der Pflicht zur Vorlage zu unterscheiden. Sofern es sich nicht um letztinstanzliche Gerichte handelt, besteht die Möglichkeit der Vorlage (Art. 267 II AEUV bzw Art. 19 III lit. b EUV). Handelt es sich hingegen um ein erkennendes Gericht, dessen Entscheidung nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden kann, so besteht eine Vorlagepflicht (Art. 267 III AEUV). Da uU bei unteren Gerichten eine Rechtsmittelmöglichkeit fehlt, können auch diese vorlagepflichtig sein[73]. Dem BGH kommt somit kein Vorlagemonopol zu. Eine Ausnahme von der Vorlagepflicht erkennt der EuGH nur an, wenn die Rechtsfrage bereits geklärt ist, oder aber die richtige Antwort derart offenkundig ist, dass „keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel bleibt“[74]. Die Anwendung dieser sog. „acte-clair-Dokrin“ des EuGH im Strafrecht erscheint unter dessen erhöhten Anforderungen an die Rechtssicherheit jedoch fraglich[75].

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Nimmt ein nationales Gericht einen Verstoß eines Unionsrechtsaktes gegen höherrangiges Unionsrecht an, kommt ihm diesbezüglich, anders als im Rahmen des Anwendungsvorrangs von Unionsrecht gegenüber nationalem Recht (s.o. Rn 24), keine Verwerfungskompetenz zu. Dann muss der EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens angerufen werden, weil ihm im Interesse der Einheitlichkeit des Unionsrechts ein Verwerfungsmonopol für das Unionsrecht zukommt[76].

Vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon bestand im Bereich der ehemals dritten Säule der EU, also der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit, allenfalls ein defizitärer Individualrechtsschutz durch den EuGH. Nunmehr unterliegen auch Rechtsakte auf diesem Gebiet dem allgemeinen Rechtsschutzsystem[77]. Insbesondere eröffnet Art. 263 I 2, IV AEUV eine Klagemöglichkeit für Personen, die durch Handlungen einer Einrichtung oder einer sonstigen Stelle der Union unmittelbar und individuell betroffen sind (Nichtigkeitsklage). Nach wie vor besitzt der EuGH jedoch keine Zuständigkeit für die Überprüfung der Gültigkeit oder Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen der Polizei oder anderer Strafverfolgungsorgane eines Mitgliedsstaats oder der Wahrnehmung der mitgliedsstaatlichen Zuständigkeiten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit (sog. „materieller Vorbehalt“, Art. 72 AEUV).

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Gravierende Veränderungen im deutschen Strafrecht hat der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen gebracht, der aus den Schlussfolgerungen des EU-Sondergipfels von Tampere vom 15./16.10.1999 entwickelt wurde[78]. Seit dem Vertrag von Lissabon (dazu Rn 20) ist die Idee eines „Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ in Art. 67 I AEUV geregelt und das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in Art. 67 III AEUV. Dieses Prinzip entstammt ursprünglich dem Binnenmarktrecht der EG und bedeutet im strafrechtlichen Zusammenhang, dass eine in einem Mitgliedstaat rechtmäßig ergangene justizielle Entscheidung in jedem anderen Mitgliedstaat als solche anerkannt werden muss[79]. Voraussetzung dafür ist, dass „ein gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweiligen Strafjustizsysteme besteht und dass jeder Mitgliedstaat die Anwendung des in den anderen Mitgliedstaaten geltenden Strafrechts akzeptiert, auch wenn die Anwendung seines eigenen nationalen Rechts zu einem anderen Ergebnis führen würde“[80]. Um dieses Vertrauen zu fördern, verleiht Art. 82 II AEUV Rat und Europäischem Parlament die Befugnis, nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Richtlinien Mindestvorschriften zur Angleichung des Strafverfahrensrechts, insbes. im Bereich der Zulässigkeit von Beweismitteln zwischen den Mitgliedstaaten sowie der Beschuldigten- und Opferrechte zu erlassen (dazu Rn 31).

Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung spiegelt sich insbes. im Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl[81] wider. Im Falle des Ausstellens eines europäischen Haftbefehls durch die Justizbehörde eines Mitgliedstaates muss ein anderer Mitgliedstaat einer Übergabe der gesuchten Person grundsätzlich ohne weitere Prüfung zustimmen, sofern die Straftat, wegen derer die Person gesucht wird, unter einen – sehr weiten und zT sehr unbestimmt formulierten – Katalog von 32 Straftaten fällt (zB Cyberkriminalität, Sabotage etc[82]) und keiner der wenigen Ausnahmetatbestände (zB rechtskräftige Verurteilung im ersuchten Staat wegen derselben Tat[83]) eingreift. Nach einem anfänglichem Fehlstart in der Umsetzung des Europäischen Haftbefehls in Deutschland mit dem ersten EuHbG[84], das vom BVerfG ua aufgrund unverhältnismäßigen Eingriffs in die von Art. 16 II 2 GG geschützte Auslieferungsfreiheit sowie in die von Art. 19 IV GG geschützte Rechtsweggarantie für nichtig erklärt wurde, gelang im Jahr 2006 eine an verfassungsgerichtlichen Vorgaben[85] orientierte Umsetzung des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl mit dem zweiten EuHbG[86] in Form der §§ 78 ff IRG.

In der Praxis gibt der Europäische Haftbefehl immer wieder Anlass, das System der gegenseitigen Anerkennung kritisch zu beobachten. Anlässlich eines auf einem Europäischen Haftbefehl basierenden Auslieferungsersuchens hat der Zweite Senat des BVerfG am 15.12.2015 eine Entscheidung mit besonderer Sprengkraft getroffen[87]. In der Sache ging es um die Auslieferung eines US-Amerikaners an Italien, der dort in seiner Abwesenheit rechtskräftig zu 30 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden war (ohne Berufungsmöglichkeit). Das BVerfG deutete eine Korrektur seiner bisherigen „Solange“-Rechtsprechung an: Parallel zur „Solange II“-Entscheidung[88] behielt sich der Zweite Senat nun vor, bei der Prüfung von Europäischen Haftbefehlen eine Identitätskontrolle durchzuführen, um im Einzelfall sicherzustellen, dass der integrationsfeste Kern der Verfassung gewahrt wird. Die Verfassungsidentität wird insbes. verkörpert durch das Gebot der Achtung der Menschenwürde nach Art. 1 I GG. Dieses zählt gem. Art. 79 III GG zum ewigen, unveränderlichen Bestand der Verfassung, und Änderungskompetenzen, die der deutsche Gesetzgeber nicht hat, können auch nicht über Art. 23 I 3 GG an die EU übertragen werden[89]. Das BVerfG reagierte damit auf die Auffassung des EuGH, dass Grundrechte der Nationalstaaten wie auch Grundrechte der EMRK unter dem Primat des restlichen EU-Rechts inklusive der Europäischen Grundrechtecharta (GRC) stünden[90]. Der EuGH vertrat mit Hinweis auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung zwischen den Mitgliedstaaten insbes. die Auffassung, dass der vollstreckende Staat bei einem Europäischen Haftbefehl grundsätzlich zur Überstellung des Betroffenen verpflichtet ist, wenn nicht einer der abschließend aufgezählten Ablehnungsgründe in Art. 3, 4 oder 4a des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl greift[91]. Dagegen behielt sich das BVerfG für die Zukunft die Möglichkeit einer Identitätskontrolle vor[92]. In späteren Urteilen korrigierte der EuGH seine Rechtsprechung und ließ es bei Vorliegen „außergewöhnlicher Umstände“ zu, eine Auslieferung unter Verweis auf Grundrechte der Charta jedenfalls aufschiebend bedingt oder bis zur Abgabe einer Zusicherung des Ausstellerstaates[93] zu verweigern, zB wenn der Häftling im ausstellenden Staat unmenschlich oder erniedrigend im Sinne des Art. 4 GRC behandelt würde[94]. In einem Beschluss vom 6.9.2016 hat das BVerfG zu einem Europäischen Haftbefehl eine Identitätskontrolle über Art. 23 I 3 in Verbindung mit Art. 79 III GG durchgeführt, eine Verletzung von Art. 1 I GG aber verneint[95]. In einem Beschluss vom 19.12.2017 hat das BVerfG dem EuGH implizit wieder einen Vertrauensvorschuss eingeräumt. Ausgangspunkt war erneut ein Auslieferungsersuchen im Rahmen eines Europäischen Haftbefehls. Bei diesem hatte das zuständige OLG Hamburg trotz Unklarheiten über den konkreten Gewährleistungsgehalt von Art. 4 GRC (betreffend Mindeststandards bei der Haftunterbringung) entschieden, dass die menschenrechtlichen Standards der Charta im ersuchenden Staat eingehalten würden. Das BVerfG stellte dagegen fest, dass die Rspr des EuGH hinsichtlich Art. 4 GRC und der Bewertung von Haftbedingungen noch unvollständig sei, insbesondere mit Blick auf die Rechtssachen Aranyosi und Cãldãraru, und dass das OLG Hamburg zur Klärung dieser Fragen dem EuGH hätte vorlegen müssen (Art. 267 III AEUV). Weil das OLG Hamburg das nicht getan hatte, stellte das BVerfG eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter gem. Art. 101 I 2 GG fest[96].

Mit den Entscheidungen „Recht auf Vergessen I“[97] und „Recht auf Vergessen II“[98] hat das BVerfG ferner seine Prüfungskompetenzen hinsichtlich der Europäischen Grundrechtecharta (GRC) erweitert: Wenn der zu prüfende Sachverhalt durch unionsrechtliche Vorgaben vollständig vereinheitlicht ist, prüft das BVerfG nationale Maßnahmen nun allein am Maßstab der GRC, wobei die letztverbindliche Auslegung der Charta aus Kompetenzgründen weiterhin dem EuGH vorbehalten bleiben muss[99]. Durch die erweiterten Prüfungskompetenzen wird das BVerfG bei Anwendung der GRC zum letztinstanzlichen und damit vorlagepflichtigen Gericht im Sinne des Art. 267 III AEUV[100]. Gleichzeitig lässt sich in diesen Fällen eine Verletzung der GRC nun auch im Wege einer Verfassungsbeschwerde rügen[101]. Diese Prüfung beschränkt sich nun nicht mehr nur darauf, ob eine willkürliche Verletzung der fachgerichtlichen Vorlagepflicht zum EuGH nach Art. 101 I 2 GG vorlag, sondern beinhaltet auch die Frage nach der richtigen Anwendung der materiellen Grundrechtsgarantien der GRC.

Für Sachverhalte, in denen nationale Gestaltungsspielräume bestehen, die also nicht vollständig europarechtlich determiniert sind, bleibt es dagegen grundsätzlich bei einer Prüfung nationaler Maßnahmen am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, durch deren Anwendung – so die vom BVerfG geprägte Grundsatzvermutung – das Schutzniveau der Charta in der Regel mitgewährleistet sei und deren Schutzgehalt bei der Prüfung nationaler Grundrechte berücksichtigt werden muss[102]. Der Vorrang der nationalen Grundrechtsordnung in europarechtlich nicht vollständig determinierten Bereichen ergebe sich daraus, dass der Anwendungsbereich der GRC durch Art. 51 I GRC entsprechend begrenzt werde.

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Im deutschsprachigen Schrifttum wird das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Rahmen des Strafrechts generell wegen einer befürchteten Gleichsetzung mit dem „Prinzip der maximalen Punitivität“[103] bzw einer Angleichung der europäischen Strafverfahrensrechte auf niedrigstem Niveau[104] kritisiert. Problematisch ist vor allem, dass der EuGH im Zusammenhang mit dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung keinen generellen europäischen ordre-public-Vorbehalt, also keinen Mindestgrundrechtsschutzstandard gegenüber den Anerkennungs- und Vollstreckungspflichten, entwickelt hat. Ein solches Verkennen des objektiven Gewichts der Grundrechte ist methodisch aber eine Abwägungsfehleinschätzung[105].

Hervorzuheben ist die seit Mai 2014 geltende Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung[106]. Sie ersetzt den inzwischen aufgehobenen Rahmenbeschluss über die Europäische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafverfahren[107]. Die Richtlinie schafft durch die Zusammenführung der beweisrechtlichen Instrumentarien der EU erstmals einen einheitlichen Rechtsrahmen nicht nur für den schon vom Rahmenbeschluss über die Europäische Beweisanordnung betroffenen Transfer, sondern auch für die Erhebung von Beweismitteln[108]. Der deutsche Gesetzgeber hat die Richtlinie in den neuen §§ 91a ff IRG umgesetzt[109]. Die neuen Regelungen gelten gem. § 98c IRG für Rechtshilfeersuchen, die ab dem 22.5.2017 bei der für die Bewilligung zuständigen Stelle eingegangen sind.

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Initiativen zur Harmonisierung des nationalen Strafverfahrensrechts wurden von der Europäischen Kommission früher in sog. Grün- und Weißbüchern veröffentlicht, zB im Grünbuch über Verfahrensgarantien in Strafverfahren innerhalb der EU[110], über Kompetenzkonflikte und den Grundsatz ne bis in idem in Strafverfahren[111] oder über die Anwendung der EU-Strafrechtsvorschriften im Bereich des Freiheitsentzugs[112]. Mittlerweile werden derartige Initiativen aber vorra ngig in 5-Jahres-Programmen[113] diskutiert, etwa im Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union aus dem Jahre 2004[114]. Zu dessen wesentlichen Inhalten gehört der Grundsatz der Verfügbarkeit, wonach Daten, die den Strafverfolgungsbehörden eines Mitgliedsstaates bekannt sind, ohne größere Hindernisse auch in anderen Mitgliedsstaaten für polizeiliche und strafrechtliche Zwecke zur Verfügung stehen sollen[115]. Einen wichtigen Beitrag hierzu leistet das Europäische Strafregisterinformationssystem (ECRIS)[116]. Das Stockholmer Programm, das vom Europäischen Rat im Dezember 2009 angenommen wurde[117], enthält einen sechsstufigen „Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten in Strafverfahren“, der vorsieht, dass nach und nach bestimmte Maßnahmen zum Schutz des Beschuldigten umgesetzt werden[118]. Erlassen wurden inzwischen mehrere Richtlinien, so zB zu den Themenbereichen Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen[119], Recht auf Belehrung[120], Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand[121], Prozesskostenhilfe[122], Verfahrensgarantien für verdächtige und beschuldigte Kinder[123], sowie Stärkung der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren[124]. Im Rahmen des sog. „Budapest-Fahrplans“ zur Stärkung der Rechte und des Schutzes von Opfern[125] wurde ferner eine Richtlinie zur Etablierung von Mindeststandards bei Opferrechten erlassen[126]. Alle Normen, die der Umsetzung der Richtlinien dienen oder von ihr betroffen sind, müssen nunmehr richtlinienkonform ausgelegt werden[127].

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Eines der wichtigsten Justizgrundrechte ist in Art. 50 GRC sowie in Art. 54 Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) normiert, nämlich das (transnationale) Verbot der Doppelbestrafung (ne-bis-in-idem; dazu Rn 434)[128]. Nach Art. 54 SDÜ darf eine Person durch einen Vertragsstaat nicht mehr verfolgt werden, wenn sie in einem anderen Vertragsstaat (i) rechtskräftig abgeurteilt worden ist, es sich (ii) um dieselbe Tat handelt und (iii) die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann[129]. Ob eine justizielle Erledigungsentscheidung eine die erneute Strafverfolgung durch einen anderen Staat ausschließende „rechtskräftige Aburteilung“ im Sinne des Art. 54 SDÜ darstellt, prüft der EuGH in zwei Stufen: Erstens muss die Entscheidung dazu führen, dass das Verfahren nach dem Recht des Erstverfolgerstaats nicht ohne Beibringung neuer Beweise wiederaufgenommen werden kann; zweitens muss diese Entscheidung aufgrund einer „Prüfung in der Sache“ erfolgt sein[130]. Nach Rspr des EuGH gilt der Strafklageverbrauch zB im Falle der Einstellung gem. § 153a I StPO, weil dies ein endgültiges Verfahrenshindernis für eine Strafverfolgung wegen derselben Tat darstellt, auch wenn es keine richterliche Beteiligung hieran gab[131]. Den Charakter einer Sanktion müssen solche Einstellungsentscheidungen nicht aufweisen, um Art. 54 SDÜ zu unterfallen[132]. Als dieselbe Tat iSv Art. 54 SDÜ und nunmehr auch iSv Art. 50 GRC wird ein Komplex konkreter, in zeitlicher und räumlicher Hinsicht sowie nach ihrem Zweck unlösbar miteinander verbundener Umstände verstanden, die unabhängig von ihrer rechtlichen Qualifizierung im nationalen Recht und dem rechtlich geschützten Interesse als ein zusammenhängender Lebenssachverhalt angesehen werden müssen[133] (zum prozessualen Tatbegriff nach deutschem Recht s. Rn 785 ff). Zuletzt verlangt das Vollstreckungselement, dass die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann. Diese Einschränkung aus Art. 54 SDÜ gilt nach umstrittener Auffassung auch für Art. 50 GRC, denn Art. 54 SDÜ soll eine nach Art. 52 I GRC zulässige Einschränkung des Art. 50 GRC sein[134]. Die Rechtsprechung schraubt so den grundsätzlich weiterreichenden Schutz von Art. 50 GRC zurück. Offengelassen hat der EuGH bisher die Frage, ob auch Vorbehalte der Schengen-Vertragsparteien (Art. 55 I lit. a SDÜ) gegen die Regelung nach Art. 54 SDÜ zulässige Einschränkungen von Art. 50 GRC im Sinne des Art. 52 I GRC sein können[135]. Zu beachten ist ferner, dass Art. 50 GRC auch für strafähnliche Ordnungswidrigkeits- und Disziplinarsanktionen gilt[136].

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In institutioneller Hinsicht wurden bereits in der Vergangenheit – im Rahmen der dritten Säule der EU – eine Reihe von Einrichtungen im Bereich der Strafrechtspflege geschaffen. So ist seit 1.7.1999 das Europäische Polizeiamt („Europol“) mit Sitz in Den Haag autonom tätig[137]. Europol ist vor allem zuständig für die Analyse, Informationsgewinnung und Koordination der nationalen Ermittlungsbehörden hinsichtlich mittlerweile nahezu aller Formen der organisierten sowie der schweren, grenzüberschreitenden Kriminalität (vgl Art. 88 I AEUV). Eine selbstständige Ermittlungszuständigkeit mit spezifischen Exekutivbefugnissen fehlt jedoch derzeit noch (vgl Art. 88 III AEUV)[138]. Als justizielles Pendant zu Europol fungiert seit dem Jahre 2002 Eurojust[139]. Primärrechtlich ist Eurojust seit dem Vertrag von Lissabon in Art. 85 AEUV verankert. Eine auf diese Norm gestützte Verordnung für Eurojust hat den ursprünglichen Ratsbeschluss als Rechtsgrundlage mittlerweile abgelöst[140]. Es handelt sich seither nicht mehr um eine zentrale, ständige Auskunfts-, Dokumentations- und Clearingstelle, durch welche die Kooperation der nationalen Staatsanwaltschaften sichergestellt werden soll, sondern die Stelle hat auch eigene operative Befugnisse zur Kooperation mit EuStA, Europol und nationalen Verfolgungsbehörden erhalten. Die im ursprünglich vorgeschlagenen Maßnahmepaket angestrebte Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EuStA), die gem. Art. 86 I 1 AEUV ausgehend von Eurojust eingesetzt werden sollte[141], ist nunmehr auf eine separat erlassene Verordnung gestützt[142]. Im Kern soll der EuStA die Aufgabe zukommen, Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union[143] zu bekämpfen (s. Art. 86 I UA 1, II AEUV). Längerfristig kann die Behörde überdies zu einer zentralen Strafverfolgungsbehörde im Kampf gegen die grenzüberschreitende Schwerkriminalität ausgebaut werden (Art. 86 IV AEUV). Die EuStA besteht aus einer zentralen (europäischen) Ebene und einer dezentralen (mitgliedstaatlichen) Ebene, letztere in Gestalt der Delegierten Europäischen Staatsanwälte, die Ermittlungen nach nationalem Strafprozessrecht durchführen und dabei der Aufsicht und Weisung der zentralen Ebene der EuStA unterliegen (dazu Rn 137). An der EuStA partizipieren nur diejenigen Mitgliedstaaten, die sich für eine Verstärkte Zusammenarbeit iSv Art. 86 I UA 3, 326 ff AEUV ausgesprochen haben. Die EuStA ist als eigenständige Institution angelegt und soll eng mit Eurojust zusammenarbeiten, wie auch Beziehungen zu weiteren europäischen Einrichtungen unterhalten, insbesondere zu OLAF (dazu sogleich) und Europol[144]. Die EuStA wird ihre Arbeit frühestens zum Ende des Jahres 2020 aufnehmen[145].

Das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung OLAF (Office Européen de Lutte Anti-Fraude) dient dem Schutz der finanziellen Interessen der EU[146]. OLAF hat den Auftrag, Betrug, Korruption und alle anderen rechtswidrigen Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU zu bekämpfen. In Erfüllung dieser Aufgaben führt OLAF in voller Unabhängigkeit interne und externe Untersuchungen in enger Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten durch und vermag durch Weitergabe von Informationen an diese Strafverfolgungsmaßnahmen auf mitgliedstaatlicher Ebene einzuleiten.

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Die Pflicht der nationalen Verfolgungsbehörden, die finanziellen Interessen der EU durch nationale Strafverfolgung zu schützen, besteht natürlich weiter, und dies sogar unter der Verpflichtung zur effektiven Zielerreichung, ggf unter Aushebelung von nationalen Verjährungsvorschriften. Diese behandelt der EuGH selbst dann, wenn sie im nationalen Recht als materiellrechtliche Regelungen eingeordnet werden, als prozessuales Institut[147]. In einer Folgeentscheidung zum Urteil Taricco ordnete der EuGH zur Lösung des Konflikts zwischen nationalen Verfassungsvorgaben und europäischen Wirksamkeitsanforderungen an, dass die italienischen Verjährungsregelungen, die in Italien als materiellrechtliche Strafnormen dem in der Verfassung verankerten Legalitätsprinzip und Rückwirkungsverbot unterlagen, vorläufig weitere Gültigkeit haben könnten, dass sie aber nach Umsetzung der PIF-Richtlinie, in der die Verjährungsregelungen als prozessuale Institute vorgesehen sind, als Prozessnormen behandelt werden müssten, die keinem Rückwirkungsverbot unterliegen und daher auch im Einzelfall unangewendet gelassen werden könnten, wenn sie europäischen Finanzinteressen entgegenstehen[148]. Damit hätte der EuGH aber nur eine Lösung für die materiellrechtlichen Probleme von Legalitätsgebot und Rückwirkungsverbot gefunden, jedoch die weiteren Probleme für die Fairness des Verfahrens verkannt. Denn es muss dem Beschuldigten auch prozessual vorhersehbar sein, wann diese Sonderlösung gilt, wann also die europäischen Regelungen nationales Recht verdrängen[149].

Weil über Art. 54 SDÜ und Art. 50 GRC nationale Verfahrenseinstellungen wegen Verjährung vor anderen nationalen Gerichte berücksichtigt werden müssen, stellt sich vor diesen Gerichten dann die Folgefrage, ob eine unter Verstoß gegen Art. 325 AEUV als verjährt betrachtete Straftat nun auch in anderen Mitgliedstaaten nicht mehr verfolgt werden darf oder ob nicht ausnahmsweise doch entgegen Art. 54 SDÜ und Art. 50 GRC erneut abgeurteilt werden sollte, um den effektiven Schutz der finanziellen Interessen der EU gem. Art. 325 AEUV sicherzustellen[150].

§ 1 Einführung in das Strafprozessrecht, Ziele des Strafverfahrens › VI. Internationale Bezüge › 3. Völkerrecht

Strafprozessrecht

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