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IX. Das Beschleunigungsgebot, Art. 20 III GG, Art. 6 I EMRK

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1. Das Gebot der beschleunigten Durchführung von Strafverfahren ergibt sich aus Art. 2 II 2 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 III GG[18]. Das Rechtsstaatsgebot fordert, dass der Beschuldigte innerhalb angemessener Frist über den Strafvorwurf Klarheit erhält. Der Angeklagte muss daher „innerhalb einer angemessenen Frist“ vom Gericht, das über die Sache zu entscheiden hat, gehört werden (Art. 6 I 1 EMRK). Die Frist beginnt, wenn der Beschuldigte von den Ermittlungen offiziell in Kenntnis gesetzt wird und endet mit rechtskräftigem Verfahrensabschluss[19]. Im Rahmen der Angemessenheit sind Schwere und Art des Tatvorwurfes, Umfang und Schwierigkeit des Verfahrens, Art und Weise der Ermittlungen sowie das Ausmaß der mit dem Andauern des Verfahrens verbundenen Belastungen des Beschuldigten zu berücksichtigen[20]. Vor allem im Falle der Anordnung von Untersuchungshaft verlangt der Beschleunigungssatz die schnelle Herbeiführung einer gerichtlichen Entscheidung (s.a. Rn 342)[21]. Verzögerungen, die nicht durch staatliche Behörden[22], sondern durch Dritte, insbesondere durch den Verteidiger, oder den Beschuldigten selbst verursacht worden sind, begründen keine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung[23]. Solche Verzögerungen auf Seiten des Beschuldigten werden allerdings nach neuerer (problematischer) Rspr vermehrt zum Anlass genommen, die Ausübung einzelner Verfahrensrechte im Lichte des Beschleunigungsgrundsatzes wegen missbräuchlicher Handhabung zu begrenzen[24] (vgl dazu Rn 194, 227, 694).

2. Nach herrschender Rspr bewirkt eine überlange Dauer des Strafverfahrens grundsätzlich kein Verfahrenshindernis. Ein unangemessen lang dauerndes Strafverfahren ist daher nicht ohne Weiteres nach § 260 III StPO einzustellen. Früher handhabten die Gerichte eine überlange Verfahrensdauer vielmehr als einen Umstand, der im Rahmen der Strafzumessung mildernd zu berücksichtigen war[25]. Seit BGHSt 52, 124 (GrS)[26] vertritt die Rspr jedoch die sog. Vollstreckungslösung, wonach die Verfahrensverzögerung zwar im Rahmen der Strafzumessung weiterhin nach allgemeinen Grundsätzen zu berücksichtigen ist[27], die eigentliche Kompensation des staatlichen Fehlverhaltens aber erst – ähnlich wie im Fall der Untersuchungshaft gem. § 51 I 1, IV 2 StGB – im Rahmen der Strafvollstreckung durch Anrechnung auf die zu vollstreckende Strafe erfolgt. Es handelt sich damit um einen eigenständigen Prüfungsvorgang, der Unrecht, Schuld- und Strafhöhe unberührt lässt, weil er nur Ausgleich für die rechtsstaatswidrige Verursachung der Verfahrensverzögerung sein soll[28]. Bei Bemessung des Strafteils, der als bereits vollstreckt gelten soll, sind der Verzögerungsumfang, das Gewicht etwaiger verzögernder Verfahrensfehler sowie die Auswirkungen auf den Angeklagten zu berücksichtigen. Nichtsdestotrotz vertritt die Rspr schon immer die Ansicht, dass es Extremfälle geben kann, in denen wegen des besonders schwerwiegenden Ausmaßes der Verfahrensverzögerung und den damit verbundenen Belastungen des Beschuldigten das Rechtsstaatsgebot ein anerkennenswertes Interesse an der Strafverfolgung entfallen lasse und eine Fortsetzung des Strafverfahrens rechtsstaatlich nicht mehr hinnehmbar, mithin also ein Verfahrenshindernis anzuerkennen sei[29]. In krassen Fällen kommt auch eine Einstellung gem. § 153 II StPO[30] oder gem. § 153a II StPO[31] oder gem. § 206a I StPO[32] in Betracht. Indessen soll bei minder schweren Verstößen gegen den Beschleunigungsgrundsatz bereits die ausdrückliche Feststellung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung in den Urteilsgründen zu dessen Kompensation genügen[33].

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Für den Fall eines Freispruchs fehlte in Deutschland früher eine hinreichende gesetzliche Regelung zur Kompensation des immateriellen Schadens bei überlanger Verfahrensdauer. Der EGMR erkannte deshalb auf einen Anspruch auf Entschädigung in Geld gem. Art. 41 EMRK[34]. Außerdem mahnte der Gerichtshof im Hinblick auf Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) mehrfach die Schaffung eines Rechtsbehelfs mit präventiver bzw zumindest kompensatorischer Wirkung bei überlanger Verfahrensdauer an[35].

Dieser Aufforderung ist der Gesetzgeber im Jahre 2011 in Form des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren[36] nachgekommen. § 198 I, II GVG normiert als Kern der Neuregelung einen staatshaftungsrechtlichen Anspruch sui generis auf Ausgleich materieller (zB: erhöhte Verteidigerkosten, entgangener Gewinn) und immaterieller Nachteile, die infolge einer überlangen Verfahrensdauer entstehen. Gem. § 199 I, II GVG erstreckt sich der Anwendungsbereich dieses Gesetzes auch auf das strafrechtliche Ermittlungs- und Hauptverfahren. Für immaterielle Schäden, die laut Gesetz bei überlanger Verfahrensdauer widerlegbar vermutet werden, sieht § 198 I, II 3 GVG im Regelfall eine Entschädigung i.H.v. 1200 € für jedes Jahr der Verzögerung vor. Ein Abweichen von dieser Pauschale ist dem Entschädigungsgericht im Einzelfall möglich, § 198 II 4 GVG. Den Entschädigungsanspruch kann der Beschuldigte allerdings gem. § 198 II 2 GVG nur geltend machen, soweit ihm nicht Wiedergutmachung auf andere Weise zuteil wurde. Eine solche Wiedergutmachung in anderer Weise stellt insbesondere die von den Strafgerichten bereits praktizierte Vollstreckungslösung dar, § 199 III GVG. Im Strafverfahren erlangt der Anspruch auf immaterielle Entschädigung daher praktisch nur im Fall eines Freispruchs oder einer Einstellung des Verfahrens aus anderen Gründen als einer Verfahrensverzögerung Bedeutung.

Zur Anspruchsbegründung setzt § 198 I, II GVG kein Verschulden der StA oder des Gerichts hinsichtlich der unangemessenen Verfahrensdauer voraus. Strukturelle Probleme wie chronische Überlastung der Justiz gehen daher nicht zu Lasten des Anspruchsinhabers: Es kommt allein darauf an, ob die Ursachen für die eingetretene Verzögerung in der Sphäre der Justiz liegen. Zwingende Voraussetzung der Entstehung eines Entschädigungsanspruchs ist allerdings eine sog. Verzögerungsrüge (§ 198 III GVG) beim Gericht des Ausgangsverfahrens bzw der zuständigen StA im Ermittlungsverfahren. Anders als die Kompensation im Rahmen der Vollstreckungslösung wird eine finanzielle Entschädigung also nicht von Amts wegen gewährt. Indes darf aus der Neuregelung nicht geschlossen werden, dass künftig auch die Kompensation im Sinne der Vollstreckungslösung nur noch auf Verzögerungsrüge hin vom Ausgangsgericht durchgeführt wird[37]. Die Verzögerungsrüge stellt keinen neuen Rechtsbehelf dar, sondern ist allein als Obliegenheit des Beschuldigten konzipiert[38]. Dementsprechend leitet sie weder ein eigenständiges Verfahren ein, noch begründet sie eine Pflicht des Ausgangsgerichts zur förmlichen Entscheidung. Ob die rügeweise Geltendmachung einer Verfahrensverzögerung dem Ausgangsgericht in der Praxis wirklich Anlass zur Prüfung etwaiger Abhilfemöglichkeiten geben wird (sog. „Warnfunktion“), ist angesichts der Unverbindlichkeit der Rüge mehr als fraglich[39]. Die getrennt vom Ausgangsverfahren zu betreibende Entschädigungsklage ist gegen das Land oder den Bund als Rechtsträger des im Ausgangsverfahren tätigen Gerichts bzw der Ermittlungsbehörde zu richten (vgl § 200 GVG).

3. In der Hauptverhandlung gewinnt der Beschleunigungsgrundsatz ua in Form der Konzentrationsmaxime an Bedeutung. Die gesamte Hauptverhandlung stellt eine Einheit dar. Entsprechend eingeschränkt sind auch die Unterbrechungsmöglichkeiten (§§ 228 I 1 Alt. 2, 229 I StPO); bei längeren Verzögerungen wird eine Aussetzung des Verfahrens notwendig (§§ 228 I 1 Alt. 1, 229 IV StPO). Im letzteren Falle ist die Hauptverhandlung in vollem Umfang neu durchzuführen (Rn 581).

4. Das Vollstreckungsmodell wird durch die besonderen konventionsrechtlichen Anforderungen legitimiert, die sich angesichts der Vorgaben von EMRK und EGMR bei überlanger Verfahrensdauer stellen. Eine Übertragung der Vollstreckungslösung auf weitere Verfahrensverstöße (zB Verstöße gegen Belehrungspflichten) muss im Hinblick auf diese Spezialfunktion unterbleiben[40] (s.a. Rn 719).

§ 2 Die Prozessmaximen › X. Der Grundsatz der Öffentlichkeit, § 169 S. 1 GVG, Art. 6 I 1, 2 EMRK

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