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3. Völkerrecht[151]

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Die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH, ICC)[152] im Jahre 2002 stellt einen Meilenstein in der völkerstrafrechtlichen Entwicklung dar und beeinflusst auch das nationale Straf(prozess)recht. Der IStGH ist das Ergebnis einer langjährigen Entwicklung im Bestreben, schwerste Menschenrechtsverletzungen auf internationaler Ebene zu ächten und zu bestrafen. Ausgangspunkt dieses Prozesses waren die Internationalen Militärgerichtshöfe in Nürnberg und Tokio. Nach jahrzehntelangem Stillstand setzte er sich fort mit den Ad-hoc-Tribunalen[153] in Den Haag und Arusha zur Ahndung der Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen in Ex-Jugoslawien (JStGH/ICTY[154]) und Ruanda (RStGH/ICTR[155]). Im Gegensatz zu diesen Tribunalen, die mittels Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen als friedenssichernde Maßnahmen geschaffen wurden, handelt es sich beim IStGH um ein eigenständiges, von den Vereinten Nationen unabhängiges Völkerrechtssubjekt, das seine Grundlage in einem völkerrechtlichen Vertrag hat, dem Römischen Statut, welches am 1.7.2002 in Kraft trat[156]. Dieses haben aktuell (im August 2020) 123 Staaten ratifiziert. Der IStGH, der nicht mit dem Internationalen Gerichtshof (IGH), welcher als zentrales Rechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen fungiert, verwechselt werden darf, ist ein ständiges Gericht mit Zuständigkeit für die im Römischen Statut aufgeführten Verbrechen, dh Völkermord (Art. 6)[157], Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 7)[158], Kriegsverbrechen (Art. 8) und das Verbrechen der Aggression (Art. 8bis)[159], allerdings beschränkt auf Taten von Angehörigen der Vertragsstaaten oder auf solche, die auf dem Gebiet eines Vertragsstaates begangen werden (Art. 12 Römisches Statut), wenn nicht eine Sicherheitsratsüberweisung vorliegt (Art. 13 lit. b Römisches Statut). Das Statut enthält erstmalig einen Allgemeinen Teil des materiellen Völkerstrafrechts und für das Verfahren vor dem IStGH eine „kleine Völkerstrafprozessordnung“[160], die zur Harmonisierung und Fortbildung des internationalen Strafprozessrechts wesentlich beiträgt[161]. Für die Kooperation mit dem IStGH gilt: Aus dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG iVm mit der Bindung der Rspr an Gesetz und Recht (Art. 20 III GG iVm 59 II GG) sowie auf der Grundlage des Art. 16 II 2 GG ergibt sich die verfassungsrechtliche Pflicht zur Berücksichtigung der Entscheidungen der zuständigen internationalen Gerichte und Tribunale auch bei der Auslegung der Grundrechte des deutschen Verfassungsrechts[162]. Hinsichtlich der Zuständigkeitsverteilung zwischen dem IStGH und den Vertragsstaaten gilt der Grundsatz der Komplementarität (Art. 17 Römisches Statut), wonach eine Zuständigkeit des IStGH nur dann besteht, wenn ein Vertragsstaat nicht willens oder nicht in der Lage ist, die fragliche Straftat selbst zu verfolgen. Dieser Grundsatz stellt einen der wenigen materiellen Unterschiede zwischen dem Römischen Statut und den Statuten der Ad-hoc-Tribunale dar, die ein Vorrangprinzip („primacy“; Art. 9 JStGH; Art. 8 RStGH) enthielten, sodass diese Tribunale ein national betriebenes Verfahren an sich ziehen konnten[163]. Das Strafverfahren vor dem IStGH ist eine Mischung aus Elementen von common-law-Strafverfahren und kontinentaleuropäischen Strafverfahrensmodellen[164].

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Am IStGH sind 18 Richter vereidigt, darunter der deutsche Jurist und ehemalige Richter am BGH Bertram Schmitt. In der Anfangsphase war der IStGH ausschließlich mit Situationen auf dem afrikanischen Kontinent befasst[165] (zB Demokratische Republik Kongo, Mali, Sudan, Uganda, Zentralafrikanische Republik), einige der daraus entstandenen Strafverfahren wurden bereits mit Urteilen abgeschlossen[166]. Mittlerweile stehen auch Situationen aus Staaten auf anderen Kontinenten im Fokus der Anklagebehörde des IStGH, namentlich in Asien (zB Afghanistan, Philippinen) und in Südamerika (zB Venezuela), aber auch in Europa/Eurasien (Ukraine, Georgien)[167].

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Deutschland hat parallel zum In-Kraft-Treten des Römischen Statuts ein nationales Völkerstrafgesetzbuch (VStGB[168]) erlassen, das als Rechtsgrundlage für Strafverfahren wegen Völkerrechtsverbrechen in Deutschland gilt. Entsprechend dem Grundsatz der Komplementarität (Art. 17 Römisches Statut) hat die nationale Strafverfolgung auf der Grundlage des VStGB Vorrang vor einer Strafverfolgung durch den IStGH. § 1 VStGB statuiert den Weltrechtsgrundsatz[169]. Dieser gilt nach § 1 S. 1 VStGB für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen in seiner weiten Fassung, dh das Gesetz verzichtet auf einen legitimierenden Anknüpfungspunkt zum Inland. Im Fall eines Aggressionsdelikts gilt der § 13 VStGB jedoch nach § 1 S. 2 VStGB unabhängig vom Recht des Tatorts nur, wenn der Täter Deutscher ist oder die Tat sich gegen die Bundesrepublik Deutschland richtet. Diese extrem weite Verfolgungspflicht der deutschen Strafverfolgungsbehörden wird durch § 153f StPO auf prozessualer Ebene einschränkt. Die Vorschrift gewährt der StA relativ großzügige Einstellungsmöglichkeiten uU bei gleichzeitiger Überweisung an den IStGH, insbes. wenn Völkerrechtsverbrechen ohne Inlandsbezug vorliegen (gestufte Zuständigkeitspriorität)[170]. Dieses Einstellungsermessen wird vor dem Hintergrund des Prinzips der antizipierten Rechtshilfe aber wiederum beschränkt: Selbst wenn es wegen vorrangiger Zuständigkeit eines ausländischen Staats oder des IStGH nicht wahrscheinlich erscheint, dass ein Völkerrechtsverbrechen am Ende vor deutschen Gerichten abgeurteilt wird, so sind die inländischen Behörden grundsätzlich dennoch zu eigenen Ermittlungen und damit insbes. zur Beweissicherung verpflichtet, wenn es möglich erscheint, dass in Zukunft ein entsprechendes Rechtshilfeersuchen gestellt wird. Deutsche Strafverfolgungsbehörden können ein Ermittlungsverfahren wegen eines Völkerrechtsverbrechens also nicht ausschließlich mit Verweis darauf ablehnen, dass dieses Verbrechen keinen Anknüpfungspunkt zu Deutschland aufweist und dass noch kein Rechtshilfeersuchen vorliegt. Notwendig ist eine solche antizipierte Rechtshilfe wegen der vor allem bei Völkerrechtsverbrechen komplizierten Beweislage und der typischerweise jahrelangen Zeitspanne, bis überhaupt ein Strafverfahren im Tatortstaat oder durch den IStGH eingeleitet werden kann. Das macht eine frühzeitige Sicherung von Beweisen erforderlich, da diese später bei Einleitung eines Verfahrens durch die vorrangig zuständige Stelle womöglich nicht mehr aufzutreiben wären[171]. Durch eine Änderung des Grundgesetzes (Art. 16 II 2 GG) wurde zudem eine Überstellung deutscher Staatsangehöriger an den IStGH ermöglicht.

Die erste Verurteilung wegen Taten nach dem VStGB erfolgte am 28.9.2015 gegen einen ruandischen Staatsangehörigen unter anderem wegen Beihilfe zu Kriegsverbrechen (§§ 8 f VStGB), begangen durch die Forces Démocratiques de Libération du Rwanda (FDLR) in Ruanda[172]. Inländische Strafverfahren auf Grundlage des VStGB betreffen in neuerer Zeit aber vor allem Verbrechen im Zusammenhang mit Kampfhandlungen in Syrien und im Irak sowie Verbrechen von Mitgliedern des sog. „Islamischen Staates“. Es gab bereits erste Verurteilungen wegen Kriegsverbrechen nach § 8 VStGB[173]. Neben weiteren Verfahren gegen Einzelpersonen führt der Generalbundesanwalt auch sog. Strukturverfahren mit Bezug zu Syrien und dem Irak. Sie dienen der Beweissicherung für zukünftige Ermittlungsverfahren in Deutschland und auch – im Wege der antizipierten Rechtshilfe – für zukünftige Verfahren ausländischer Justizbehörden oder eines internationalen Strafgerichts. Insgesamt ist mit einem Zuwachs von Verfahren auf Grundlage des VStGB zu rechnen[174].

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Hinzuweisen ist noch auf den Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) von 1966, der zB das ausdrückliche Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung enthält, Art. 14 III g[175] (dazu Rn 191).

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Lösung Fall 1 (Rn 1): Wenn der Beschuldigte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Abschluss des Verfahrens nicht mehr erleben wird, könnte man der Ansicht sein, der Zweck des Verfahrens, den im Einzelfall entstandenen staatlichen Strafanspruch festzustellen und durchzusetzen, sei hier nicht mehr erreichbar. Da das Strafverfahren nicht zum Selbstzweck werden dürfe, gebe es für seine weitere Durchführung keinen rechtfertigenden Grund (so BerlVerfGH NJW 1993, 515, 517; 1994, 436, 440). Damit stuft man jedoch das Feststellungsinteresse der Gemeinschaft (uU auch das des Angeklagten) als zu gering ein. Zur Wahrheitsfindung gehört zunächst die Aufklärung des Geschehens. Aus großen NS-Verfahren ist bekannt, welche Bedeutung gerade diesem Prozessziel zukommt. Die Notwendigkeit der Aufklärung schwerer Straftaten als zentrale Aufgabe eines rechtsstaatlichen Gemeinwesens (BVerfGE 77, 65, 77) besteht unabhängig von der mutmaßlichen Lebensdauer des Angeklagten zumindest bis zu dessen Tod. Solange H lebt, steht angesichts der ihm zur Last gelegten schweren Straftaten der Sinn und Zweck des Strafverfahrens einer Fortsetzung des Verfahrens nicht entgegen. Der entgegengesetzten Entscheidung des BerlVerfGH ist – jenseits der verfassungsrechtlichen Problematik (s. nur Rozek, AöR 119 [1994], 450) – nicht zu folgen (zutreffend Fahl, ZJS 2011, 229, 233; Kindhäuser/Schumann, § 14 Rn 22; Meurer, JR 1993, 89; Schoreit, NJW 1993, 881; abw. SK-StPO-Paeffgen, Anhang § 206a Rn 10; Prittwitz, StV 2010, 648, 654; Murmann, GA 2004, 77). Davon ganz unabhängig ist die Frage, ob Zwangsmittel (wie zB Untersuchungshaft) zulässig gewesen wären (dazu u. Rn 318 ff) und ob das Verfahren hätte fortgesetzt werden dürfen, wenn H sogar verhandlungsunfähig gewesen wäre (dazu u. Rn 431), oder wenn gerade die Durchführung des Verfahrens das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des Beschuldigten gefährden würde (ablehnend für diese Fallgruppe BVerfG NJW 2002, 51; BVerfG EuGRZ 2009, 645; vert. zum Ganzen: Beck, HRRS 2010, 156). Einzelheiten s.o. Rn 7 ff.

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Lösung Fall 2 (Rn 2): Es liegt kein Fall der notwendigen Verteidigung vor, sodass P nicht verpflichtet war, die Bestellung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen einzuleiten (§ 141 StPO). In Verbindung mit der Belehrungspflicht über das Recht der Verteidigerkonsultation (§ 136 I 2 Var. 2 StPO) konstituiert § 136 I 3 und 4 StPO jedoch auch ausdrücklich die Pflicht zur Ermöglichung eines Erstkontaktes. Dagegen hat P verstoßen. In Sonderfällen wie hier gehört dazu nicht nur das bloße Zurverfügungstellen eines Branchenverzeichnisses, sondern darüber hinaus auch die „erste Hilfe“ bei der Bewerkstelligung des Kontaktes. Das gilt umso mehr, wenn der Beschuldigte bei den Versuchen, einen Verteidiger zu kontaktieren, einen unbeholfenen Eindruck macht. Da S es hier nicht geschafft hat, einen Anwalt aus dem Branchenverzeichnis auszuwählen, hätte P zusätzlich auf den anwaltlichen Notdienst hinweisen müssen. Dieser Fall zeigt den Zwiespalt zwischen dem Grundsatz der Effektivität der Strafrechtspflege und dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit bei der Realisierung des staatlichen Strafanspruchs. Eine allein auf Effektivität ausgerichtete Strafrechtspflege müsste das Geständnis im Strafverfahren verwerten. Es darf jedoch im Strafverfahren keine Wahrheitsfindung um jeden Preis geben. Deshalb folgt aus der hier gegebenen Verletzung des § 136 I 3 und 4 StPO ein Verwertungsverbot. Einzelheiten sind aber sehr umstritten und bei schwereren Delikten ergibt sich möglicherweise auch aufgrund der Besonderheiten des Rechts der Pflichtverteidigung nach §§ 141 ff StPO ein ganz anderes Ergebnis. Zu Fairnessgedanken s.o. Rn 10 und zu den Rechten des Beschuldigten später Rn 179, 224, 279, 704 ff.

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Lösung Fall 3 (Rn 3): Nach dem Recht des Tatzeitpunktes sind im Jahre 1990 die Straftaten bereits verjährt, nach dem Recht zur Zeit der Anklageerhebung liegt hingegen keine Verjährung iSv § 78 StGB vor. Eine Mindermeinung sieht in der Verjährung einen materiellen Strafaufhebungsgrund mit der Folge, dass es dann gem. Art. 103 II GG, §§ 1, 2 StGB auf das Gesetz ankommen muss, das zur Tatzeit galt. A könnte dementsprechend nicht mehr bestraft werden, dh es dürfte auch keine Anklage mehr erhoben werden.

Nach ganz herrschender und zutreffender Ansicht handelt es sich bei der Verjährung jedoch nur um eine formell-rechtliche Frage (eingetretene Verjährung als Prozesshindernis), und es gilt das Recht des Aburteilungszeitpunktes. Da 1990 die 1945 begangenen Morde nach der neueren gesetzlichen Regelung nicht verjährt sind (die Prozessvoraussetzung nicht eingetretener Verjährung also erfüllt ist), kann Anklage erhoben werden. Einzelheiten s.o. Rn 13.

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