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II. Besteuerungs- und Steuerstrafverfahren

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Besteuerungs- und Steuerstrafverfahren[1] stehen unabhängig und gleichrangig nebeneinander.[2] Die Rechte und Pflichten der Steuerpflichtigen und der Finanzbehörden im Besteuerungsverfahren und im Steuerstrafverfahren richten sich gemäß § 393 Abs. 1 AO nach den für das jeweilige Verfahren geltenden Vorschriften.

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Nach den Besteuerungsgrundsätzen der Abgabenordnung sind die Finanzbehörden einerseits zuständig für die Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen im Besteuerungsverfahren §§ 88 ff., 193 ff. AO, andererseits ermittelt die Finanzbehörde zugleich bei Verdacht einer Steuerstraftat den Sachverhalt im Strafverfolgungsinteresse, § 386Abs.1AO.[3] Die steuerstrafrechtlichen Ermittlungen werden von den Straf- und Bußgeldsachen- oder Steuerfahndungsstellen als Spezialdienststellen durchgeführt.[4] Die Veranlagungs- und Betriebsprüfungsbeamten sollen demgegenüber gerade nicht zur steuerstrafrechtlichen Ermittlung tätig werden. Diese innerbehördliche Kompetenzverteilung ändert aber nichts daran, dass wegen der Zuständigkeit der Finanzbehörden (Hauptzollamt, Finanzamt, Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) und Familienkasse) zur Verfolgung von Steuerstraftaten grundsätzlich jeder im Besteuerungsverfahren Handelnde zugleich die Aufgabe hat, Steuerstraftaten zu erforschen, § 386 Abs. 1 S. 1 u. 2 AO, und sogar die Befugnis zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens besitzt, § 397 Abs. 1 AO.[5] Die in der Strafverfolgungspraxis bei Steuerstraftaten mit den weitgehendsten Rechten ausgestattete Steuerfahndung hat mit steuerstrafrechtlichen, § 208 Abs. 1 Nr. 1 AO, sowie steuerrechtlichen, § 208 Abs. 1 Nr. 2, 3 AO, Befugnissen eine Doppelfunktion.[6]

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Das Nebeneinander von Besteuerungs- und Strafverfahren bringt den Steuerpflichtigen in eine Konfliktsituation zwischen dem weit gespannten Fächer von steuerlichen Erklärungs-, Auskunfts- und Einsichtsgewährungspflichten (§§ 90 Abs. 1-3, 93 Abs.1, 97 Abs.1, 100 Abs.1, 200 Abs.1–3 AO) und seinen aufgrund der strafrechtlichen Interessenlage strafprozessual verbrieften Rechten, zum Tatvorwurf zu schweigen und sich nicht selbst wegen einer Steuerstraftat belasten zu müssen (nemo tenetur se ipsum accusare; §§ 136 Abs. 1 S. 2, 163a Abs. 4 S. 2, 243 Abs. 5 S.1 StPO).[7]

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Diesem Zwiespalt versucht der Gesetzgeber in § 393 Abs. 1 S. 2 AO Rechnung zu tragen.[8] Auch wenn der Steuerpflichtige im Besteuerungsverfahren kein Aussageverweigerungsrecht besitzt, darf nach geltendem Recht die Finanzbehörde von den ihr im Besteuerungsverfahren zustehenden Zwangsmitteln, §§ 328 ff. AO,[9] insoweit keinen Gebrauch machen, als sich der Betroffene damit eines steuerstrafrechtlichen Verhaltens selbst bezichtigen würde. § 393 Abs. 1 S. 3 AO regelt das Zwangsmittelverbot nach Einleitung des Strafverfahrens. Ist das Steuerstrafverfahren eingeleitet, entfällt ausnahmslos („stets“) die Erzwingbarkeit von Auskünften und Mitwirkungspflichten im Steuerverfahren, wenn sich der Beschuldigte dadurch in die Gefahr der strafrechtlichen Selbstbelastung begibt. Von diesem Zeitpunkt an wird unwiderleglich vermutet, dass der Einsatz von Zwangsmitteln den Steuerpflichtigen in die Gefahr der Selbstbelastung bringen würde, ungeachtet einer konkreten Selbstbelastungsgefahr.[10] In § 393 Abs. 1 S. 4 AO schließt sich eine gesetzliche Belehrungspflicht über die aus § 393 Abs. 1 AO sich ergebende Rechtslage an. Der Steuerpflichtige ist dabei auf

die Selbstständigkeit beider Verfahren und die sich aus ihnen ergebenden Mitwirkungspflichten im Besteuerungsverfahren,
das Verbot der Anwendung von Zwangsmitteln im Besteuerungsverfahren (S. 2) und im Strafverfahren (S. 3) hinzuweisen.[11]

Üblicherweise argumentiert die Steuerverwaltung allerdings, der Steuerpflichtige, der sich einer Steuerhinterziehung strafbar gemacht habe, wisse selbst sehr genau, wann er sich durch eigene Aussagen gegenüber der Finanzverwaltung belaste und müsse daher nicht extra belehrt werden.

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Sehr schnell wird ersichtlich, dass die gesetzliche Regelung in § 393 Abs. 1 AO eher eine Problembeschreibung darstellt, als dem Steuerpflichtigen bei der Wahrnehmung seiner strafprozessualen Rechte in der Praxis des steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahrens eine wesentliche Hilfe an die Hand zu geben. Die für den beschuldigten Steuerpflichtigen neuralgischen Fragen der faktischenDruckausübung“ des Finanzamtes auf vielfältige Weise sind vom Gesetzgeber mit der Begrenzung der Zwangsmittel letztlich auf das Zwangsgeld (§ 329 AO) dem Wortlaut nach nicht geregelt. Unmittelbare Drucksituationen[12] mit Selbstgefährdungspotenzial ergeben sich für den Steuerpflichten etwa aus folgenden Situationen:

Androhung und Erlass von rechtmäßigen Schätzungsbescheiden,
rechtswidrige Strafschätzungen,
die Pflicht zur Abgabe von Steuererklärungen für Folgejahre trotz Strafverfahren,
Ausschlussfristen nach § 364b AO bei Einspruch gegen Schätzungsbescheide,
Ladung zur eidesstattlichen Versicherung, § 284 Abs. 6 AO

Hinzu kommt eine mittelbare Drucksituation[13] für den Steuerpflichtigen, wenn das Finanzamt im Rahmen seiner steuerrechtlichen Sachverhaltsermittlungsbefugnisse auf mit dem Steuerpflichtigen in Verbindung stehende Dritte zugeht.

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Um trotz dieser ebenso unklaren (Auslegbarkeit des Begriffs „Zwangsmittel“) wie auch lückenhaften (Rechtsfolgen bei Verstoß gegen § 393 Abs. 1 AO) Vorschrift die Rechtsposition des Steuerpflichtigen entsprechend dem Verfassungsrang des Selbstbelastungsverbots bestmöglich zu wahren, kann der Verteidiger auf zwei grundlegende Ansätze zurückgreifen:

verfassungskonforme Auslegung des Begriffs „ Zwangsmittel“ in § 393 Abs. 1 S. 2 AO,
Verwertungsverbot bei Verstoß gegen Selbstbelastungsverbot und Belehrungsgebot § 393 Abs. 1 S. 2–4 AO.

In Rechtsprechung und Literatur gibt es hierzu eine fast unübersehbare Meinungsvielfalt.[14] Klarheit dürfte darüber bestehen, dass ohne Verwertungsverbot als anerkannte Sanktion sowohl „Selbstbelastungsverbot“ als auch „Belehrungsrecht“ nur auf dem Papier stehen. Trotz der vielfältigen Bemühungen in der Literatur werden „zählbare“ Erfolge im Kampf um die Rechtsposition des Mandanten u.E. nur über Gerichtsentscheidungen eher im Bereich der strafrechtlichen als der steuerlichen Verwertungsverbote zu erzielen sein.[15] Die wortlautgetreue Begrenzung des Zwangsmittelverbots auf die in § 328 AO genannten Zwangsmittel ist wegen einer Reihe von praktischen Zwangsmaßnahmen im Besteuerungsverfahren, die in ihrer die Selbstbelastungsfreiheit beschränkenden Wirkung den gesetzlich genannten Zwangsmaßnahmen gleichkommt, zwar unbefriedigend, gleichwohl wird man eine entsprechend Anwendung des Zwangsmittelverbots mangels Gesetzeslücke nicht vornehmen können.[16] Mangels einer auch von den Gerichten anerkannten verfassungskonformen Auslegung des Zwangsmittelbegriffs in § 393 Abs. 1 S. 2 AO wird sich die Rechtsposition des Steuerpflichtigen realistisch nur de lege ferenda erreichen lassen.[17]

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Nach derzeitiger Praxis ist festzuhalten, dass der Steuerpflichtige im Ergebnis bei eingeleitetem Steuerstrafverfahren weiterhin an die Erfüllung seiner wesentlichen steuerlichen Offenbarungspflichten gebunden bleibt. Typisches Beispiel ist die vom BGH entschiedene Verpflichtung des Steuerpflichtigen bei eingeleiteten Ermittlungsverfahren für die Folgejahre richtige (auch belastende) Steuererklärungen abzugeben.[18] Ein weiterer „Brennpunkt“ ist in der Praxis der Bereich der Schätzungen. Verletzt der Steuerpflichtige seine Mitwirkungspflichten im Besteuerungsverfahren, können die Besteuerungsgrundlagen allerdings geschätzt werden, § 162 AO.[19] Besteuerungsgrundlagen sind nach der Rechtsprechung des BFH auch dann zu schätzen, wenn gegen den Steuerpflichtigen ein Strafverfahren wegen einer Steuerstraftat eingeleitet worden ist.[20] Das Ziel jeder Schätzung, gleichgültig ob sie durch eine Verletzung der Mitwirkungspflichten im Besteuerungsverfahren ausgelöst wird oder auf anderen Umständen beruht, muss der Ansatz derjenigen Besteuerungsgrundlagen sein, welche die größere Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit für sich haben.[21]

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Auch bei Steuerpflichtigen, die ihre Mitwirkungspflicht verletzen, darf die Finanzbehörde nicht bewusst zu hoch schätzen. So genannte Strafschätzungen sind unzulässig.[22] Der Begriff einer Strafschätzung wird nach dem Schutzzweck des „Zwangsverbots“ in § 393 Abs. 1 S. 2 AO zugunsten des Steuerpflichtigen als Beschuldigtem u.E. weitest denkbar auszulegen sein.[23] Da sich bei der Frage der „Schätzungsqualität“ in der Praxis regelmäßig ein Nachweisproblem stellen wird, darf der „Maßstab“ für die Glaubhaftmachung eines überhöhten Schätzungsansatzes nicht zu hoch angesetzt werden. Strafschätzungen in diesem Sinne werden jedenfalls bei dokumentierbarem Fehlverhalten der Ermittlungsbehörden, etwa bei abweichender Aktenlage oder aus ersichtlich persönlichen Motiven gegenüber dem Steuerpflichtigen, also bereits in Fällen der von der Rechtsprechung als steuerlich rechtswidrig anerkannten Schätzungen in Betracht kommen.[24] Die Annahme eines weiterreichenden Schätzungsverbots im Rahmen der Auslegung des § 393 Abs. 1 S. 2 AO ist vor dem Hintergrund des insoweit nicht weiter auslegbaren Wortlauts (Zwangsmittel, § 328 AO) sowie der Steuerverwaltungspraxis unrealistisch. Nach überwiegender Ansicht würde die Verletzung steuerrechtlicher Erklärungspflichten zu einer ungerechtfertigten Privilegierung des ehrlichen Steuerpflichtigen gegenüber dem Steuerunehrlichen führen.[25] Eine ordnungsgemäße steuerliche Schätzung hat in keinem Fall das Ziel, eine Strafsteuer herbeizuführen. Unsicherheitszuschläge sind aber als wahrscheinlichkeitsgemäß zu rechtfertigen.[26] Die davon zu unterscheidende steuerstrafrechtliche Schätzung ist grundsätzlich ebenfalls möglich, jedoch nach anderen Maßstäben.[27]

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Eine entscheidende Verbesserung der Rechtsposition könnte sich für die Praxis im Zusammenhang mit dem Umstand ergeben, dass der Steuerpflichtige immer darüber aufgeklärt werden muss, in welchem Verfahren etwas von ihm verlangt wird, damit er seine Rechte und Pflichten kennt. Das Nebeneinander beider Verfahren kann die Steuerfahndungsstellen jedenfalls nicht dazu legitimieren, nach Belieben die Verfahrensart zu wechseln, um die jeweiligen Ermittlungen effektiv zu gestalten.[28] Insbesondere dürfen strafprozessuale Schutzrechte nicht steuerverfahrensrechtlich unterlaufen werden. Hiergegen wird in der Praxis häufig verstoßen, insbesondere in Betriebsprüfungsverfahren, etwa wenn der Betriebsprüfer keine Fragen an den Steuerpflichtigen stellt, die auf den effektiven Prüfungsabschluss hinzielen, sondern den Versuch unternimmt, die subjektive Tatseite zu ergründen.[29] Der BFH hat aber klargestellt, dass es kein Verwertungsverbot nach § 136a Abs. 3 StPO begründet, wenn der Betriebsprüfer den steuerstrafrechtlichen Zweck seiner Prüfung bewusst verschweigt.[30] Unterlässt der Prüfer dagegen die erforderliche Belehrung nach Einleitung des Steuerstrafverfahrens, unterliegen seine weiteren Erkenntnisse einem Verwertungsverbot.[31] Gleichwohl finden sich in der Rechtsprechung, trotz der eher nachlässigen Verwaltungspraxis und einer bislang deutlich restriktiven Rechtsprechung zu den steuerlichen Verwertungsverboten,[32] immer wieder Hoffnungsschimmer ein für die Praxis effektives Verteidigungspotenzial. Der BFH hatte in der Entscheidung vom 23.1.2002 nämlich einen Sachverhalt zu entscheiden, in dem kein Verstoß eines Finanzbeamten/Prüfers gegen § 136a Abs. 1 und 2 StPO vorlag, hat aber ausdrücklich offen gelassen, wie die Entscheidung für den Fall eines solchen Rechtsverstoßes ausfallen würde. Die positive Klärung dieser Frage anhand eines geeigneten Falles[33] wäre wünschenswert. Die Belehrungspflicht stünde nämlich ohne ein auch anerkanntes steuerliches Verwertungsverbot[34] im Ergebnis nur auf dem Papier. Für die Praxis kann die Geltendmachung von Verwertungsverboten für den Verteidiger ein probates Mittel sein, um steuerlich einer tatsächlichen Verständigung mit einer Einstellung des steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahrens nach §§ 153, 153a Abs.1 und 2 StPO den Weg zu bereiten.[35] Das „technische Rüstzeug“ muss also vorhanden sein, auch wenn die Mandanten regelmäßig kein gesteigertes Interesse verspüren, Verwertungsverbote einer abschließenden gerichtlichen Klärung zuzuführen. Das in § 393 Abs. 2 AO gesetzlich geregelte Beweismittelverwendungsverbot im Strafverfahren betrifft nur Nichtsteuerstraftaten und hilft wegen der praktisch nur eingeschränkten Bedeutung dem Steuerpflichtigen regelmäßig nicht weiter. Seit 2008 dürfen nach §393 Abs. 3 AO sogar seitens Finanzbehörde oder Staatsanwaltschaft rechtmäßig gewonnene Ermittlungserkenntnisse im Besteuerungsverfahren verwendet werden.[36]

Teil 1 Allgemeine GrundfragenII. Besteuerungs- und Steuerstrafverfahren › 1. Bindung an Entscheidungen anderer Gerichte und Behörden

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