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II.Die Unterscheidung von Verfassunggebung und Verfassungsänderung

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53Verfassunggebung meint die Schaffung einer Verfassung46, sei es einer völlig neuen in Folge der Gründung eines neuen Staates oder die (oft revolutionäre) Ablösung einer alten durch eine neue Verfassung bei Weiterbestehen des Staates als Rechtssubjekt. Verfassunggebung ist ein originärer Rechtsakt, der nur aus einer besonderen höchsten Rechtsquelle, der verfassunggebenden Gewalt (pouvoir constituant)47, entspringen kann. Nach modernem, entsakralisiertem Verfassungsverständnis ist Träger der verfassunggebenden Gewalt stets das Volk48. Die Ableitung der Herrschaftsgewalt von einer außerhalb des Gemeinwesens stehenden höchsten Autorität wird als Fundamentalismus abgelehnt.

Vielfach wird die verfassunggebende Gewalt als eine vorverfassungsrechtliche Größe bezeichnet, die originär, also nicht von einer anderen Rechtsquelle abgeleitet sei und grundsätzlich unbeschränkt existiere49. Dabei ist jedoch zu beachten, dass das Recht notwendig an eine Gemeinschaft von Menschen geknüpft ist und sich überall dort, wo eine Gemeinschaft von Menschen existiert, immer auch eine Form rechtlicher Ordnung bildet. Das „originäre Recht“ ist dann nichts anderes als die individuelle Verteidigungsfähigkeit gegen die Beschränkung des eigenen Handlungskreises durch andere. Die Übertragung dieser originären Verteidigungsfähigkeit auf ein Kollektiv ist nach oben dargestelltem Vertragsmodell die Staatsgründung durch Abschluss eines Staatsvertrags. Die Verfassunggebung als ­Beschränkung der durch den Staatsvertrag begründeten staatlichen Herrschaftsgewalt ist dieser insofern logisch nachgelagert. Ein Staat bedarf zu seiner Existenz keiner Verfassung. Freilich können Staatsgründung und Verfassunggebung in einem Akt zusammenfallen, was rechtshistorisch jedoch selten geschah.

Art. 146 GG nimmt auf diese Überlegungen Bezug, wenn er davon spricht, dass sich das (auch vor Schaffung der neuen Verfassung weiter bestehende) deutsche Volk eine Verfassung geben kann. Nach dem Gesagten ist aber auch klar, dass die Modalitäten einer neuen Verfassunggebung nicht durch die alte Verfassung geregelt sein können, da diese die originäre verfassunggebende Gewalt nicht binden kann.

54Ausdrücklich in der Verfassung vorgesehen sein kann ein Verfahren der Verfassungsänderung, d. h. die ausdrückliche und, teilweise, inhaltliche Änderung der bestehenden Verfassung50. Die Verfassungsänderung reicht weiter als der Verfassungswandel, mit dem Bedeutungswandlungen innerhalb der Grenzen des Wortlauts bezeichnet werden51. Sie beseitigt jedoch nicht die bestehende Verfassung oder schafft eine neue, sondern lässt vielmehr die Verfassung bestehen und ändert nur einen Teil, ohne formal ihre Integrität in Frage zu stellen. Die Verfassungsänderung geschieht nicht durch das Auftreten der verfassunggebenden Gewalt, sondern durch einen in der Verfassung vorgesehenen Rechtsakt des verfassungsändernden Gesetzgebers52. Auch die Änderung des gesamten Inhalts einer Verfassung in einem Akt – also eine Totalrevision, die im Ergebnis der Ablösung einer alten durch eine neue Verfassung gleichkommt – ist formal noch keine Verfassunggebung, weil die verfassunggebende Gewalt nicht in Erscheinung tritt, sondern die Änderung im Rahmen des gültigen Verfassungsrechts erfolgt53.

55Problematisch kann eine solche Totalrevision jedoch mit Blick auf den Ewigkeitsanspruch der Verfassung sein. Ein verfassunggebender Akt, der die Geltung der vorherigen Verfassung aufhebt, setzt auch deren Ewigkeitsanspruch außer Kraft. Eine Verfassungsänderung, die sich auf einzelne inhaltliche Änderungen beschränkt, beeinträchtigt den Ewigkeitsanspruch dagegen nicht, sondern trägt vielmehr zu seiner Verwirklichung bei, da sich nur eine dynamische Verfassung über lange Zeiträume behaupten und Veränderungen der tatsächlichen Verhältnisse begegnen kann. Abgeschwächt kann der Ewigkeitsanspruch in besonderen formalen Anforderungen auftreten, die eine Verfassungsänderung gegenüber der einfachen Gesetzesänderung erschweren54.

Umfassende Verfassungsänderungen bis hin zu einer Totalrevision können dagegen mit dem Ewigkeitsanspruch kollidieren, wenn sie die bisherige staatliche Ordnung zugunsten einer radikal neuen beseitigen55.

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