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3.Notwendige Eigenschaften der demokratischen Staatsform

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101Die demokratische Legitimation aller staatlichen Entscheidungen soll letztlich dazu führen, dass sich der gemeinsame Wille und der Wille aller Individuen im Wesentlichen decken und sich in einer gerechten Gemeinordnung ein Ausgleich widerstreitender Individualinteressen ergibt. Aus dieser Zielsetzung resultieren einige Grundentscheidungen, die eine demokratische Staatsform in ihrer Verfassung treffen muss.

102a) Gleiche staatsbürgerliche Mitwirkungsrechte. Demokratie bedeutet die Teilhabe aller Staatsbürger an der staatlichen Willensbildung und der Ausübung der Staatsgewalt. Impliziert wird damit das Recht jedes Staatsbürgers, an der staatlichen Willensbildung und Willensausübung mitwirken und mitentscheiden zu können. Eine demokratische Staatsform muss deshalb jedem Einzelnen die gleichen politischen Mitwirkungsrechte gewähren und die freie Ausübung seiner Stimmrechte garantieren. Darüber hinaus ist eine effektive Teilhabe an Kommunikations- und Informationsprozessen zu gewährleisten, was Meinungs-, Versammlungs- und Informationsfreiheiten verlangt.

Welche Rechte im Einzelnen gegeben sein müssen, hängt von der konkreten verfassungsrechtlichen Ausgestaltung der Demokratie ab. In einer unmittelbaren Demokratie muss etwa ein entsprechendes Abstimmungsrecht bestehen. In einer repräsentativen Demokratie, in der eine Volksvertretung gewählt wird, tritt an dessen Stelle ein allgemeines, freies, gleiches und geheimes Wahlrecht.

103Die Idee der Gleichheit aller Staatsbürger verlangt, dass grundsätzlich sämtliche Mitglieder des Staatsvolkes an der Willensbildung des Staates partizipieren, also aktive Staatsbürger sind. Kriterien wie Vermögen, Rasse oder Geschlecht dürfen nicht zum Anknüpfungspunkt für einen Ausschluss von politischen Mitwirkungsbefugnissen gemacht werden. Ein solcher ist nur angezeigt, wenn Zweifel an einer vernunftgemäßen Willensbildung überhaupt bestehen, d. h. bei Menschen unterhalb einer bestimmten Altersgrenze oder in ihrer geistigen Tätigkeit allgemein Beschränkten. Der Ausschluss von Ausländern von Wahlen stellt den Begriff der Demokratie demgegenüber nicht in Frage, da die Partizipation an der Willensbildung stets die Zugehörigkeit zum Staatsvolk und die hierfür geltenden Kriterien voraussetzt.10

104b) Demokratisch legitimiertes Repräsentativsystem. Da die vollständige Teilnahme jedes Einzelnen an jeglichen staatlichen Willensbildungen schon aus räumlichen und zeitlichen Gründen unmöglich ist, bedarf eine Demokratie moderner Prägung der Etablierung eines Systems von Repräsentanten, die den jeweils maßgeblichen staatlichen Willen bilden.

105Durch die repräsentative Willensbildung soll das mit dem Ausschluss eines Großteils der Staatsbürger von der unmittelbaren Entscheidung verbundene Defizit gegenüber dem ursprünglichen demokratischen Ideal überwunden werden. Sie transformiert den Willen des Volkes auf eine kleinere Menge von Personen, die effizienter, rationaler und schneller handeln kann. Dadurch können sogar Demokratiedefizite ausgeglichen werden, die durch den Ausschluss von Teilen des Staatsvolks (z. B. Kinder, Geisteskranke) von der staatlichen Willensbildung entstehen, indem die Volksvertreter den mutmaßlichen Willen und die Interessen dieser Personen bündeln und in ihre Entscheidungen mit einfließen lassen.

106Im engeren Sinne versteht man unter Repräsentation des Volkes die Wahrnehmung der Gesetzgebung als Staatsfunktion durch unmittelbar vom Volk bestimmte Volksvertreter. Synonym werden vor allem die Begriffe Parlament/Parlamentarier gebraucht und im Grundgesetz die Bezeichnung Bundestag/Abgeordneter. Im weiteren Sinne meint der Begriff Repräsentativsystem aber alle Staatsorgane und andere Stellen, die staatliche Funktionen ausüben, weil sie die Staatsgewalt, die ideal vollständig unmittelbar vom Volk ausgeht, in ihrem Aufgabenbereich stellvertretend für das Volk ausüben. Unterscheiden kann man eine personelle Repräsentation durch gewählte Vertreter und eine funktionale Repräsentation durch Erfüllung der staatlichen Aufgaben durch staatliche Organe und Stellen.

107Die Einrichtung eines Repräsentativsystems sagt noch nichts aus über das Verhältnis zwischen den Repräsentanten und dem Volk. Die Transformation des Volkswillens auf seine Repräsentanten kann dergestalt erfolgen, dass die Vertreter weisungsabhängig sind und nicht unabhängig entscheiden (sog. imperatives Mandat). Eine solche Bindung ist organisatorisch mit der ständigen Abrufbarkeit des Volksvertreters verknüpft. Dieser unterliegt der ständigen Kontrolle durch das Volk. Entscheidet der Repräsentant jedoch für das Volk nach seiner eigenen freien Überzeugung und ist der Volksvertreter auch nicht vor Ende seiner Amtszeit abrufbar (freies Mandat), dann reduziert sich die effektive demokratische Kontrolle auf den Akt der periodischen Neuentscheidung des Volkes über seine Repräsentanten. Jedenfalls aber muss die Übertragung von Herrschaftsgewalt zeitlich begrenzt bleiben.

108Besteht ein repräsentatives System, dann müssen die Repräsentanten vom Volk kontrolliert werden (unmittelbare demokratische Legitimation). Soweit eine direkte Kontrolle nicht möglich ist, muss die Kontrolle zumindest von Repräsentanten des Volkes wahrgenommen werden (mittelbare demokratische Legitimation). Das BVerfG führt dazu aus:

„In der freiheitlichen Demokratie geht alle Staatsgewalt vom Volk aus. Sie wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt […]. Alle Organe und Vertretungen, die Staatsgewalt ausüben, bedürfen hierfür einer Legitimation, die sich auf die Gesamtheit der Bürger als Staatsvolk zurückführen läßt […]. Das demokratische Prinzip erstreckt sich nicht nur auf bestimmte, sondern auf alle Arten der Ausübung von Staatsgewalt […]. Die verfassungsrechtlich notwendige demokratische Legitimation erfordert eine ununterbrochene Legitimationskette vom Volk zu den mit staatlichen Aufgaben betrauten Organen und Amtswaltern. Die Legitimation muß jedoch nicht in jedem Fall durch unmittelbare Volkswahl erfolgen. In aller Regel genügt es, daß sie sich mittelbar auf das Volk als Träger der Staatsgewalt zurückführen läßt“11.

109c) Transparenz der staatlichen Entscheidungsverfahren. Die Willensbildung des Volkes setzt dessen hinreichende Information voraus. Eine moderne Demokratie ist daher nicht denkbar ohne grundsätzliche Transparenz der staatlichen und politischen Willensbildung. Nur durch Transparenz besteht die Möglichkeit der Meinungsbildung und der Kontrolle der Repräsentanten durch das Volk. Aus diesem Grund setzt der politische Willensbildungsprozess in den Staatsorganen ein Höchstmaß an Öffentlichkeit voraus, das allerdings nicht die grundsätzliche Entscheidungsfähigkeit der Staatsorgane beeinträchtigen darf.

110d) Mehrheitsprinzip. Eine wirkliche gemeinsame Willensbildung des Volkes in dem Sinne, dass sich am Ende eines Diskurses die besseren Argumente durchsetzen und zu einem von allen getragenen Konsens führen, ist eine in einem aus Millionen Menschen bestehenden Staatsvolk nicht zu realisierende Utopie. Der prinzipiell auch in einer Massendemokratie zu führende Diskurs bedarf daher eines Diskursbegrenzungsverfahrens. Jede Massendemokratie benötigt ein dezisionistisches Element. Die Ausgestaltung dieses dezisionistischen Elements durch das Mehrheitsprinzip trägt zwei Prämissen Rechnung: zum einen ist in Mehrheitssystemen die Zahl der Unzufriedenen geringer, zum anderen spricht grundsätzlich eine Vermutung dafür, dass die Entscheidung durch die Mehrheit vernünftig ist.

Das BVerfG zählt das Mehrheitsprinzip zu den fundamentalen Prinzipien der Demokratie12. Durch das Mehrheitsprinzip werden demokratische Entscheidungen erst möglich – es reduziert aber die garantierte gleiche Beeinflussung des staatlichen Willens auf die garantierte gleiche Chance zur Einflussnahme.

111Der Wille der Minderheit fließt – jedenfalls in formaler Hinsicht – zwangsläufig nicht in das Ergebnis der staatlichen Willensbildung ein. Die primäre Rechtfertigung ergibt sich aus dem Bedürfnis, in demokratischen Strukturen überhaupt zu Entscheidungen zu kommen, die sich möglichst nahe an das Ideal der Einstimmigkeit anlehnen. Legitim sind Mehrheitsentscheidungen aber nur dann, wenn der Entscheidung der Mehrheit eine gleichberechtigte Teilnahme der Bürger zugrunde liegt und der Entscheidung ein freier, offener, gleichberechtigter Prozess der Meinungsbildung vorangegangen ist.

112Die gleichberechtigte Teilnahme korrespondiert mit den staatsbürgerlichen Mitwirkungsrechten. Demokratisch ist eine Entscheidung nur, wenn jeder Bürger die gleiche Möglichkeit hat, durch seine Mitwirkung Einfluss auf die Ausübung der Staatsgewalt zu nehmen. Er muss die Chance haben, dass seine Meinung die Zustimmung der Mehrheit erlangt und sein Votum gleichwertig für die Entscheidungsfindung ist. Essenziell dafür ist die Gewährung eines fairen Verfahrens, etwa durch Rede- und Antragsrechte.

113e) Demokratischer Minderheitenschutz und rechtsstaatliche Anforderungen. Eine Demokratie ohne Mehrheitsprinzip ist nicht entscheidungsfähig und damit als Staatsform ineffizient. Eine Demokratie ohne Minderheitenschutz bringt aber die Gefahr mit sich, dass die Mehrheit die Entscheidungsgewalt missbraucht. Daher muss die Minderheit effektiv geschützt werden. Ein solcher Missbrauch durch radikale Unterdrückung von Minderheiten wurde uns selbst durch sehr alte und stabile Demokratien vor Augen geführt. So institutionalisierten die Vereinigten Staaten von Amerika – obwohl demokratisch organisierter Verfassungsstaat – die Unterdrückung der schwarzen Minderheit durch staatliche Gestattung der Sklaverei. Ähnliche Ansätze kamen dort auch während des Zweiten Weltkrieges auf, als nationale Minderheiten japanischer Abstammung in Folge der Kriegsteilnahme Japans aufgrund sog. Civilian Exclusion Orders in Lagern interniert wurden13.

Die Gefahr des Missbrauchs liegt darin, dass der Wille der Mehrheit in einer Demokratie ohne zusätzliche Sicherungselemente keiner materiellen Bindung unterliegt und zu ungerechten Entscheidungen zu Lasten der Minderheit führen kann. Solche Sicherungselemente ergeben sich aus der Ergänzung der Demokratie durch die Idee des Rechtsstaates.

114Zu den rechtsstaatlichen Bindungen der Demokratie zählen vor allem die Grundrechte, die dem Bürger Schutz und Freiraum vor dem Staat garantieren, und die Gewaltenteilung. Die Gewaltenteilung bewirkt die Aufteilung der Staatsgewalt in funktional und personal getrennte Gewalten sowie in verschiedene staatliche Ebenen und die gegenseitige Kontrolle der getrennten Gewalten und der staatlichen Organe.

115Das BVerfG führt zu demokratischen Entscheidungsverfahren nach dem Mehrheitsprinzip aus:

„[N]ur wenn die Mehrheit aus einem freien, offenen, regelmäßig zu erneuernden Meinungsbildungsprozeß und Willensbildungsprozeß, an dem grundsätzlich alle wahlmündigen Bürger zu gleichen Rechten teilhaben können, hervorgegangen ist, wenn sie bei ihren Entscheidungen das – je und je zu bestimmende – Gemeinwohl im Auge hat, insbesondere auch die Rechte der Minderheit beachtet und ihre Interessen mitberücksichtigt, ihr zumal nicht die rechtliche Chance nimmt oder verkürzt, zur Mehrheit von morgen zu werden, kann die Entscheidung der Mehrheit bei Ausübung von Staatsgewalt als Wille der Gesamtheit gelten und nach der Idee der freien Selbstbestimmung aller Bürger Verpflichtungskraft für alle entfalten.“14

Staatsrecht I

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