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2.Staatstheoretische Rechtfertigung der Demokratie als Staatsform

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95Die moderne Rechtfertigung der Demokratie als Staatsform, die im Kern auf Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) und andere Denker des 18. Jahrhunderts zurückgeführt werden kann, ist am besten in der Auseinandersetzung mit der in seiner Zeit vorherrschenden absolutistischen Staatstheorie begreifbar zu machen.

96Die hierfür charakteristische Lehre Thomas Hobbes` (1588–1679) geht vom Bild eines egoistischen ohne über seinen Selbsterhaltungstrieb hinausgehende ethische Maßstäbe handelnden Menschen aus (homo homini lupus)4. Der hypothetische vorstaatliche Naturzustand solcher Menschen, den Hobbes in seinem Werk „Leviathan“ beschreibt, ist ein Krieg aller gegen alle (bellum omnium contra omnes)5. Hiervon ausgehend ist primärer Staatszweck die Überwindung dieses Naturzustands und die Schaffung eines Friedenszustandes durch Abschluss eines Staatsvertrags. Um diesen Frieden zu sichern, konzentriert die absolutistische Staatstheorie die Staatsgewalt in einer Person – dem Souverän, der den anderen Menschen zum (sterblichen) Gott werden soll (homo homini deus)6. Die einzige Bindung, der dieser unterliegen soll, ist die ursprüngliche Zielsetzung, eine dauerhafte Friedensordnung zu schaffen. Der Verzicht auf jegliche andere Vorgabe soll die effektivste Verwirklichung dieses Ziels ermöglichen. Die Individuen sollen erkennen, dass ihnen mit dieser Friedensordnung gedient ist und sich der diese ermöglichenden Staatsgewalt deshalb freiwillig, bedingungslos und endgültig unterwerfen7. Die fehlende Bindung des absoluten Herrschers wird im sog. „aufgeklärten Absolutismus“ dadurch abgeschwächt, dass er sich bei seinen Entscheidungen von der Vernunft leiten lassen soll, um die Staatsgewalt gerecht auszuüben.

97Die geschichtliche Entwicklung zeigte jedoch, dass eine absolute, d. h. von allen rechtlichen Bindungen losgelöste Staatsgewalt, konzentriert in einer Person, nicht dauerhaft dem Gemeinwohl diente, sondern durch Machtmissbrauch und Willkür gekennzeichnet war. Es existierte keine gerechte Gemeinordnung, weil der Inhaber der Staatsgewalt (Fürst, König) seine eigenen Interessen dem Gemeinwohl überordnete8. Das Ideal eines absoluten Herrschers, der sich bei seinen Entscheidungen nur durch die Vernunft leiten lässt, blieb eben nur ein Ideal. Eine absolute Entscheidungsgewalt ohne rechtliche Bindungen und ohne Kontrolle führt strukturell bedingt zu ungerechten Entscheidungen und kann somit schon das Ziel einer gerechten Friedensordnung nicht verwirklichen.

98Weiterhin ist die absolutistische Staatsform mit dem von Rousseau zugrunde gelegten Bild des Menschen als freiem, autonomem und vernunftbegabtem Wesen unvereinbar. Autonomie verlangt, dass das individuelle Gewissen die letzte moralische Instanz bleibt und somit jeder Mensch – in den Worten Rousseaus – „obwohl er sich mit allen zusammenschließt, dennoch nur sich selbst gehorcht und ebenso frei bleibt, wie zuvor“9. Die unbedingte und unwiderrufliche Unterwerfung unter die Gewalt eines absoluten Herrschers würde diese Autonomie zerstören.

99Zielsetzung der Demokratie als Staatsform ist es demgegenüber, diese Autonomie zu wahren und dennoch das Zusammenleben einer menschlichen Gemeinschaft zu organisieren, indem sich jeder einer Staatsgewalt unterwirft, die er gemeinsam mit allen anderen Bürgern ausübt. Durch seine politischen Mitwirkungsrechte kann jeder Staatsbürger danach die Ausübung von Staatsgewalt kontrollieren. Als Ideal gilt eine Einheit von Regierenden und Regierten, in welcher die Staatsgewalt nur handelt, wenn die ihr Unterworfenen diese Entscheidung gefällt haben. Es bildet sich somit ein gemeinsamer Wille des Staatsvolks als Staatswille, dem sich der Einzelne unterwirft. Da der gemeinsame Wille, der als volonté générale freilich mehr ist als die Summe der Einzelinteressen (volonté de tous), jeden einzelnen Willen in sich hält, führt er zu gerechten Entscheidungen. Die rechtliche Bindung der Staatsgewalt ist verfahrensmäßig dadurch abgesichert, dass allen Bürgern gleiche und freie Teilhabemöglichkeiten an ihrer Ausübung zustehen.

100Die unmittelbare Mitwirkung aller Bürger an sämtlicher Ausübung von Staatsgewalt, selbst – wie es Rousseau vor Augen stand – an jedem Akt der Gesetzgebung, ist in einem modernen Flächenstaat völlig undenkbar. Festgehalten werden kann jedoch an der Forderung, dass jede staatliche Gewaltausübung demokratisch legitimiert sein, das heißt im Ausgangspunkt auf einem Willensakt des Volkes beruhen muss. Der Satz „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG beschreibt die Eigenschaft des Volkes als Ursprung aller staatlichen Gewalt und das Erfordernis, alle Ausübung staatlicher Gewalt auf einen Willensakt des Staatsvolkes zurückführen zu können.

Staatsrecht I

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