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Tag 135
Оглавление6. August 2014
Manfred Götzl, Richter. Helmut W., 56, und Jörg T., 44, Kriminalbeamte aus Kassel. Thomas Bliwier, Doris Dierbach, Alexander Kienzle, Anwälte der Nebenklage.
(Es geht wieder um den Mord an Halit Yozgat im Internetcafé in Kassel.)
Helmut W. Wir haben im Zusammenhang mit dem Mordfall Yozgat versucht, uns ein Bild von der Rolle des Verfassungsschützers Andreas Temme zu machen – und sind dabei gescheitert. Wir hielten es für notwendig, auch die Informanten des Herrn Temme zu befragen. Uns war ein Telefongespräch aufgefallen unmittelbar nach der Tat. Die Antworten auf die Befragung des Herrn Temme durch das Landesamt für Verfassungsschutz waren uns zu kurz ausgefallen. Mehrere Leute vom Landesamt sind dann angereist und haben sich unsere Argumente angehört. Wir sind ohne Ergebnis auseinandergegangen. Sie haben unsere Argumente nach Wiesbaden mitgenommen. Später haben wir den Bescheid bekommen, dass die Befragung vom Ministerium abgelehnt wurde. Daraufhin haben wir einen Fragenkatalog erstellt, mit dem dann Mitarbeiter des Verfassungsschutzes die Informanten befragt haben. Uns war angeboten worden, teilzunehmen unter einer Legende. Wir hatten da arge rechtliche Bedenken, wir können ja keinen Zeugen täuschen. Darauf wollten wir uns nicht einlassen.
Götzl Bei der Besprechung, was haben Sie zu den unterschiedlichen Positionen in Erinnerung?
Helmut W. Ich habe damit angefangen, dass ich die gesamte Tatserie vorgestellt habe, und Herr B., unser Kollege, hat dann unsere Tat in Kassel dargestellt und die Fakten, die den Tatverdacht gegen Herrn Temme damals ergaben. Der Verfassungsschutz hat halt nachgefragt, die waren offenbar nicht ganz im Bilde, die wussten angeblich gar nicht, wie viele Informanten Temme geführt hatte. Wir haben klargestellt: Wenn, dann wollen wir alle vernehmen. Dann haben sie das Angebot gemacht mit der Legende. Mittendrin wurde einmal gesagt: Wir wissen ja, Sie kratzen alles zusammen, wir nehmen das auch nicht übel. Offensichtlich haben sie den Tatverdacht nicht so ernst genommen. Die Fakten haben sie nicht sonderlich beeindruckt, hatte ich den Eindruck. Dann haben sie auch noch gesagt, man kann da nicht drauf eingehen, weil man den Verfassungsschutz sonst aushebeln könnte, indem man eine Leiche in der Nähe eines Verfassungsschützers platziert. Es hieß auch, dass sie keine Gründe sähen, warum Herr Temme nicht weiter für den Verfassungsschutz arbeiten sollte. Das fand ich schon ein bisschen befremdlich. Ein Verfassungsschützer hat uns gesagt: Sobald die Quellen von der Polizei vernommen werden, müssten die abgeschaltet werden. Das wäre das größtmögliche Unglück für den Verfassungsschutz. Wie sind nun die Fakten zu dem Fall? Nach den Zeitabläufen, die wir ermittelt hatten, war die Version von Herrn Temme sehr, sehr unglaubwürdig. Es lief ja darauf hinaus, dass nach seinem Verlassen des Internetcafés nur 40 Sekunden blieben bis zum Mord. Entweder er hat die Tat mitbekommen und verschweigt uns seine Wahrnehmung. Oder er hat etwas mit der Tat zu tun. Dass er nichts mitbekommen hat, erschien uns so unwahrscheinlich.
Anwalt Bliwier Es gibt einen Vermerk vom 1.9.2006 über ein Gespräch mit dem Verfassungsschutz im Präsidium. Da ging es um die Geheimhaltungsproblematik. Haben Sie eine Erinnerung?
Helmut W. Ich habe in Vorbereitung des Tages heute den Vermerk gelesen. Ja, es war ein Anliegen des Verfassungsschutzes, uns im Hinblick auf den Umgang mit Daten zu sensibilisieren. Sie waren wohl der Meinung, dass wir mit diesen Daten zu offen umgehen. Mag auch sein, dass das so war. Ich bin kein Staatsschützer, ich bin Ermittler. Es war, glaube ich, auch ein Versuch, einen kleinen gemeinsamen Nenner zu finden, eine Lösung, mit der beide Seiten leben können. Aber das ist gescheitert. Wir wollten eine Vernehmung der Informanten von Herrn Temme mit offenem Visier. Das war immer ein Punkt – der eine Informant, der kurz nach der Tat mit Herrn Temme telefoniert hat.
Anwältin Dierbach Haben Sie das sogenannte kognitive Interview mit Herrn Temme veranlasst?
Helmut W. Ja. Er hatte angeboten, sich unter Hypnose befragen zu lassen, das wurde abgelehnt von der Staatsanwaltschaft mit Verweis auf die Rechtslage. Eine Hypothese war, ob es möglich ist, dass er etwas Entsetzliches erlebt und so erfolgreich verdrängt hat, dass er später selbst daran glaubt. Das sei aber unwahrscheinlich, haben mir Psychologen gesagt. Wir hatten nichts zu verlieren. Ich suche immer noch nach einer Erklärung, warum er uns etwas verschweigt, wenn er etwas gesehen hat. Das beschäftigt mich ja immer noch.
Anwältin Dierbach Sie waren anwesend bei dem Interview?
Helmut W. Ja, als Zuhörer. Nach Empfinden des Psychologen hat Herr Temme nur scheinbar mitgespielt, er habe sich nicht ganz darauf eingelassen. Der Psychologe hatte den Eindruck, dass Herr Temme immer versucht hat, die Kontrolle zu behalten. Herr Temme hat sich leicht enttäuscht geäußert, ihn hat wohl die Kamera irritiert, und es war wohl eine Unruhe um den Raum herum. Ich weiß nicht, was er sich vorgestellt hat. Es war ein ganz normaler Raum, in dem aber eine relativ große Kamera stand und auf ihn gerichtet war.
Anwalt Kienzle Sie hatten angesprochen, dass Ihnen im weiteren Verlauf Äußerungen der V-Personen übersandt wurden. Wann war das?
Helmut W. Im April war das Gespräch, es muss dann im Mai, Juni gewesen sein.
Anwalt Kienzle Es gab dann die Sperrerklärung, und dann gab es eine weitere Übersendung. Um den späteren Zeitpunkt geht es mir.
Helmut W. Ich glaube, Oktober, November bekamen wir die Absage, und es war dann 2007, als wir die Antwort bekamen.
Anwalt Kienzle Laut Vermerk am 9.1.2007.
Helmut W. Das kommt hin.
Anwalt Kienzle Waren da auch Angaben der GP 389 enthalten? (GP steht für »Gewährsperson« und ist eine andere Bezeichnung beziehungsweise eine Art Vorstufe für einen V-Mann. Unter GP 389 wurde damals Benjamin G. geführt, der an Tag 64 bereits als Zeuge im NSU-Prozess ausgesagt hat.)
Helmut W. Gehe ich von aus, ja.
Anwalt Kienzle Machte GP 389 Angaben zum Internetcafé in der Holländischen Straße?
Helmut W. Ja. Eine Frage war immer an die Informanten, ob sie den Tatort kennen. Er hat berichtet, dass ihm von Herrn Temme mal das Café empfohlen worden ist. Er hat das dann wohl abgelehnt, weil ihm gesagt wurde, dass ein Türke der Betreiber ist.
(Nun tritt ein weiterer Polizist aus Kassel auf.)
Götzl Es geht uns um zwei Aspekte: zum einen um eine Besprechung am 30.6.2006 mit dem LfV (Landesamt für Verfassungsschutz). Und zum anderen um ein Gespräch mit Frau E. (einer damaligen Kollegin Temmes im LfV, die am Tag 91 aussagte): was zwischen ihr und Herrn Temme gesprochen worden ist. Beginnen wir zunächst mit der Besprechung.
Jörg T. Sie fand im Präsidium statt. Es wurden Aufnahmen vom Tatort gezeigt. Und ein Anliegen von uns war die Vernehmung der Quellen des Herrn Temme. Von uns wurden die Quellen identifiziert, es waren fünf, wir wollten alle vernehmen. Zur Vernehmung der Quellen gab es unterschiedliche Meinungen. Wir wollten die Vernehmungen. Die Staatsanwaltschaft hat einen Antrag ans Innenministerium gestellt. Das wurde abgelehnt.
Götzl Zu dem anderen Themenbereich: Haben Sie eine Erinnerung an die Befragung von Frau E.?
Jörg T. Ja. Ende April, also unmittelbar nach der vorläufigen Festnahme von Herrn Temme, fand eine Besprechung mit dem LfV statt. Da ging es um die grobe Sondierung von Unterlagen. Im Gespräch war für mich die Frage, ob Herr Temme auf den Mord angesprochen wurde. Darauf meinte Herr F. (ein Kollege von Temme, der an den Tagen 104 und 211 aussagte), er müsse von Frau E. angesprochen worden sein. Er soll sie gebeten haben, Temme zu fragen. Wir haben sie dann gefragt. Sie hat wiedergegeben, dass sie von Herrn F. gebeten worden sei zu fragen, ob der Name des Opfers bekannt sei und ob der Fall eine Rolle für den Verfassungsschutz spiele. Herr Temme soll gesagt haben, dass er das Opfer nicht kenne und auch nicht im Internetcafé war, mit dem Zusatz, dass der Fall keinen regionalen Bezug habe, sondern die Waffe schon bundesweit aufgetaucht sei. Beim Staatsschutz der Polizei haben wir nachgefragt, da kam raus, dass Herr Temme am Montag beim Staatsschutz war. Man hat sich grundsätzlich ausgetauscht, es war üblich, dass er da vorbeikommt. Temme muss nachmittags dort gewesen sein, Hintergrund war nur, dass der Staatsschutz was haben wollte, es ging um eine Demo in Kassel Richtung Islamismus und ob Temme dazu was sagen konnte. Das Thema Internetcafé soll nicht von Temme angesprochen worden sein.
Götzl Ist von Frau E. von einem einzigen Gespräch mit Herrn Temme die Rede gewesen?
Jörg T. Ja, meines Erachtens wurde es hinterher nicht mehr thematisiert. Mehr als die Aussage an dem Montagmorgen von Herrn Temme hat sie wohl nicht bekommen.
Götzl Ist mit Frau E. über das Internetcafé als solches gesprochen worden?
Jörg T. Das war bei mehreren Gesprächen Thema, es wurde fast einhellig beantwortet, dass Herr Temme in diesem Internetcafé, das sich in der Nähe eines Beobachtungsobjekts des Verfassungsschutzes befand, absolut nichts zu suchen hatte. Die Internetrecherche sollte von Wiesbaden aus gemacht werden. Lediglich Frau P. (die damalige Vorgesetzte von Temme) äußerte, dass sie wüsste, dass er in Internetcafés gehe, dass aber dieses Café tabu ist.
(Der Zeuge verlässt den Saal. Nun gibt Thomas Bliwier, der Anwalt der Familie Yozgat, eine Erklärung ab.)
Anwalt Bliwier Der Verfassungsschutz hat die Ermittlungen massiv behindert, das haben die Zeugen bestätigt. Nach unserer Auffassung ist bewiesen, dass Andreas Temme am Vormittag die Angaben gemacht hat zur bundesweiten Serie, zu der der Mordfall in Kassel gehöre. Zu diesem Zeitpunkt konnte ein Außenstehender nicht wissen, mit welcher Waffe die Tat begangen wurde. Es gibt zwei Möglichkeiten: Er ist als Täter verstrickt, oder er hat als Zeuge Wahrnehmungen vom Mord gemacht und verschwiegen.
(Zum Ende des Verhandlungstages verliest Götzl zahlreiche Fundstellen aus den Akten, die im sogenannten Selbstleseverfahren in die Hauptverhandlung eingeführt werden. Es geht dabei unter anderem um Fahrzeuganmietungen der Untergetauchten, um Zschäpes Anmietung einer Garage vor dem Untertauchen und um die persönlichen Verhältnisse der Angeklagten.)
Götzl Es besteht Gelegenheit, auf der Geschäftsstelle des 6. Strafsenats vom Wortlaut der genannten Schriftstücke Kenntnis zu nehmen.