Читать книгу Der Weg der Schwalbe - Thomas Fischer - Страница 13
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„… ist es noch zu früh, um die Schäden genau zu beziffern, die das Erdbeben vor fünf Tagen in weiten Teilen des Landes angerichtet hat. So viel scheint jedoch bereits jetzt festzustehen: Bei den schwersten Erschütterungen seit vielen Jahren hat es nicht nur zahllose Verletzte, sondern auch Tote gegeben.“
Bonaventure saß in der zweiten Reihe des Minibusses, eingezwängt zwischen einer korpulenten Frau, die einen wenige Monate alten Säugling in den Armen hielt, und einem jungen Mann in einem dunkelbraunen Anzug, der trotz der Hitze sein Jackett nicht abgelegt hatte. Mit fünfundzwanzig Fahrgästen war das kleine Gefährt hoffnungslos überfüllt; diejenigen, die in einem der zahlreichen Vororte der Hauptstadt als Letzte zugestiegen waren, saßen unnatürlich verrenkt mehr oder weniger auf dem Schoß der anderen Reisenden, den Kopf nach vorne gebeugt, um nicht bei jeder Bodenwelle mit dem Schädel an das Dach zu stoßen. Bonaventures Knie drückten in die Sitzreihe vor ihm; für einen Mann seiner Größe waren Überlandreisen eine besondere Tortur. Wenigstens ließen die heruntergekurbelten Fenster des Busses ein wenig Luft in den metallenen Käfig, dem sie sich anvertraut hatten, auch wenn sie immer wieder von rötlichem Staub durchsetzt war, den vor ihnen fahrende Autos aufwirbelten. An Bewegung aber war in der drangvollen Enge kaum zu denken.
Dennoch versuchte Bonaventure nun, sich ein wenig nach vorne zu beugen, um den Nachrichtensprecher besser zu verstehen, dessen Stimme verzerrt aus den lädierten Lautsprechern des Autoradios schnarrte, immer wieder unterbrochen von statischen Störgeräuschen.
„… trat der Präsident vor die Journalisten und richtete Worte des Mitgefühls an die Opfer der Katastrophe. Außerdem versprach er schnelle Hilfe für alle, die zu Schaden gekommen sind oder gar ihr Zuhause verloren haben.“
„Ha!“, rief die Frau neben Bonaventure und klatschte so abrupt die Hände vor ihrem gewaltigen Busen ineinander, dass ihr Baby aufwachte und zu weinen begann. „Dieser alte Halunke! Auf dem Hügel, auf dem meine Schwester lebt, sind zwölf Häuser eingestürzt, und bis heute ist niemand gekommen! Niemand!“
Sie sah sich triumphierend unter ihren Leidensgenossen um.
„Natürlich ist niemand gekommen“, kam Zustimmung von einer der hinteren Bänke, „schließlich wird erst wieder in fünf Jahren gewählt.“
Einige Fahrgäste lachten grimmig.
„So ist es“, pflichtete die Frau ihrem für sie unsichtbaren Gesprächspartner bei, „und außerdem würden sie ihre schicken neuen Jeeps schmutzig machen, wenn sie zu uns aufs Land kämen.“
„Genau!“, kam es von hinten. „Und außerdem: Wer würde sich in der Zeit, in der sie weg wären, um ihre hübschen Sekretärinnen kümmern?“
In das erneute Lachen mischten sich nun anerkennende Pfiffe.
„Ich wüsste da jemanden!“, mischte sich ein zahnloser Greis aus der ersten Reihe ein, der gut und gerne siebzig Jahre alt sein musste und nun mit breitem Grinsen und blitzenden Augen über seine Schulter sah.
Jetzt johlten fast alle Passagiere, und selbst der Busfahrer schmunzelte hinter seiner schwarzen Sonnenbrille, während er mit halsbrecherischer Geschwindigkeit einen Lastwagen überholte, der sich nur langsam die Straße entlangquälte.
„… nach diesem Tag der nationalen Trauer“, war nun die sonore Stimme des Präsidenten aus dem Radio zu vernehmen. „Doch unser Land ist stark. Wir sind stark, meine Brüder und Schwestern! Stark genug, um auch diesen Schicksalsschlag zu meistern!“
„Ich weiß ja nicht, wer seine Brüder und Schwestern sind“, rief der Greis, „aber es beruhigt mich ungemein zu wissen, dass der Präsident und seine Geschwister diese schwere Zeit bewältigen werden!“
Im Bus gab es jetzt kein Halten mehr. Wohl überrascht von dem Heiterkeitsausbruch um es herum hatte das Baby aufgehört zu weinen und sah mit großen Augen zu seiner Mutter auf.
„… haben uns verschiedene europäische Länder und Hilfsorganisationen schnelle und unbürokratische Unterstützung angeboten – und wir werden die Hand, die uns unsere europäischen Freunde reichen, ganz sicher nicht wegstoßen!“
Bonaventure war der Einzige, der sich von der Stimmung im Bus nicht hatte anstecken lassen. Das Gelächter und Gejohle drang nur wie aus weiter Ferne zu ihm durch.
Unsere europäischen Freunde.
Und während Felder und Hütten in endloser Folge an den Fenstern des Busses vorbeizogen, wünschte Bonaventure, Familienvater, Ex-Chauffeur und Ex-Hausbesitzer, nichts mehr, als dass auch er welche hätte.