Читать книгу Der Weg der Schwalbe - Thomas Fischer - Страница 9
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Ein leichter Wind raschelte durch die Bananenpalmen, die das Grundstück auf zwei Seiten umsäumten. An einem fast wolkenlosen Himmel näherte sich die Sonne unerbittlich ihrem Scheitelpunkt. Bonaventure kniff die Augen zusammen. Von seinem Platz in den Ruinen seines Hauses aus musterte er die grünen Stauden, die unter dem Blätterdach an den Stämmen hingen.
Die Ernte würde schlecht ausfallen. Vor vier Monaten war die Regenzeit gekommen, mit schweren, dunklen Wolken, die tief über den Hügeln hingen und versprachen, das ausgedörrte Land in ein wogendes, sattes Grün zu verwandeln, so weit das Auge reichte. Doch diesen ersten Boten neuen Lebens waren viel zu wenige weitere gefolgt, und so trugen nun nicht nur die Palmen kümmerliche Früchte. Auch in dem kleinen Garten neben dem Haus – oder dem, was nun noch davon übrig war – wuchsen die Maisstauden nicht gerade üppig, und die Bohnen, die zwischen ihnen rankten, waren nicht so hoch hinausgeschossen wie sonst.
Der klägliche Ertrag des Gartens mochte der Familie vielleicht gerade noch durch die Trockenzeit helfen. Natürlich würden sie mehr auf dem Markt hinzukaufen müssen – wo die Preise in den Himmel stiegen, wie jedes Mal, wenn die großen Regenfälle ausgeblieben waren –, aber wenn er und Greta etwas weniger äßen, würde es vielleicht zumindest für die Kinder reichen. Durch die nächste Regenzeit aber, bis sie wieder würden ernten können, würden sie nicht mehr kommen. Nicht ohne fast alles, was sie zum Leben brauchten, bezahlen zu müssen. Und genau da lag das Problem: Bonaventure hatte kein Geld.
Und nun hatte er auch kein Haus mehr.
Mitten in der Nacht war er plötzlich aus dem Schlaf geschreckt. Ein dumpfes Dröhnen und Rumpeln hatte die Dunkelheit erfüllt. Neben ihm war auch Greta aufgewacht; Bonaventure sah im schwachen Licht des Sternenhimmels, das durch das kleine Fenster hereindrang und das Zimmer in ein fahles Grau tauchte, dass sie die Augen weit aufgerissen hatte. Mit zwei Sätzen war er am Fenster und blickte hinaus. Schwarz zeichneten sich die Hügel vor der Milchstraße ab. Das Dröhnen ließ nicht nach, im Gegenteil: Es wurde immer stärker, schien von überall und nirgends zu kommen. Gleichzeitig begann der Boden zu beben. Bonaventure spürte, wie kalter Schweiß auf seiner Stirn ausbrach. Sein Hirn war noch von Schlaf vernebelt, und doch hatte er keine Sekunde Zweifel daran, was draußen im kalten Sternenlicht vor sich ging.
Sie sind zurück, raste ein einziger Gedanke durch seinen Kopf, während Adrenalin durch seinen Körper schoss. Er merkte nicht, dass er heftig zu zittern begann.
Sie sind zurück.
Er ergriff mit beiden Händen das Gitter, das außen am Fenster angebracht war und sie vor unerwünschtem Besuch schützen sollte, wenn sie schliefen oder niemand zu Hause war. Gegen die Gegner jedoch, die jetzt dort draußen lauerten, Schatten in der Dunkelheit, würde es nicht helfen, im Gegenteil: Es versperrte einen möglichen Fluchtweg. Als er das Haus gebaut hatte, hatte er alle Fenster mit Gittern versehen lassen – die einzigen Wege hinaus führten durch den Haupteingang an der Veranda und eine Tür auf der Rückseite des Hauses, durch die man zu dem Verschlag mit Küche und Waschgelegenheit kam. Es wäre ein Leichtes, sie hier zu erwarten … Schlagartig wurde Bonaventure hellwach, als ihm die Ausweglosigkeit ihrer Situation bewusst wurde.
Sie sind zurück!
Er spürte kaum, wie die Kanten der Gitterstäbe in seine Hände schnitten. Wieder dröhnte es, wieder bebte der Boden unter seinen Füßen, Mörtel rieselte auf ihn herab. Seine Augen irrlichterten durch das Dunkel des Gartens.
Im Stillen hatte er gehofft, sie ein für alle Mal hinter sich gelassen zu haben. Hatte dafür gebetet, sie mit der Zeit vielleicht sogar vergessen zu können, ohne wirklich daran zu glauben. Jetzt aber, hilflos, sah er sie wieder, wie sie vor seinem inneren Auge Stellung bezogen.
Wir waren immer da, Bonaventure.
Männer in Fantasieuniformen aus tarnfarbenen Armeehosen und ärmellosen Shirts mit grellen Schriftzügen in fremden Sprachen. Männer mit Fetischen um den Hals, die sie unverwundbar machen sollten. Männer, die ihre Augen hinter Sonnenbrillen versteckten, als wollten sie keine Blicke in ihre Seelen zulassen, während sie ihre wehrlosen Opfer mit Messern und Macheten dahinmetzelten. Nur wenigen ließen sie die Gnade eines gezielten Schusses aus dem Sturmgewehr zuteilwerden.
Und das waren nur die Erwachsenen unter ihnen.
Schlimmer waren die Kinder.
Viel schlimmer.
Ein besonders heftiges, tiefes Rumpeln holte Bonaventure in die Gegenwart zurück. Irgendwo, nicht weit von ihnen, musste eine Granate eingeschlagen sein. Undeutlich wurde ihm bewusst, dass er begonnen hatte zu hyperventilieren, und dass er sich mittlerweile am Gitter festhielt, um nicht umzufallen. Es kostete ihn all seine Willenskraft, seinen Atem zu verlangsamen, und er spürte, wie der Schwindel in seinem Kopf ein wenig nachließ.
Sein Herz raste, während er versuchte, ihre Stellungen auf den Hügelkämmen zu erspähen. Warum jetzt? Warum hier? Er konnte keinen Sinn darin erkennen.
Erneut wackelte das ganze Haus; aus einem anderen Zimmer hörte er, wie Glas splitterte. Ein Fenster. Waren sie schon längst im Dorf, gebückt huschende Schatten in der Nacht, die Maschinenpistolen im Anschlag? Aber warum? Warum griffen sie gerade sein Dorf an? Verzweifelt versuchte Bonaventure, Ordnung in das Chaos in seinem Kopf zu bringen, während er mit geweiteten Augen die Dunkelheit absuchte.
Irgendetwas stimmte nicht. Neben ihm stürzte scheppernd ein Dachblech auf die Matratze, auf der bis eben noch seine Frau gelegen hatte. Greta? Er spürte, wie Panik sich seiner bemächtigte. Greta, wo war Greta?
Ihr Schrei brachte ihn zurück in die Wirklichkeit.
„Bonaventure!“
Seine Frau stand in der Tür, Belize, die weinende zweijährige Tochter, in den Armen. Greta schwankte ein wenig, so, als hätte sie ihren Strohhalm ein paarmal zu oft in die Kalebasse gesteckt.
„Bonaventure, wir müssen raus aus dem Haus! Schnell!“
Er sah, wie Montfort und Aléxine hinter ihr durch den Gang ins Wohnzimmer rannten, die nackten Füße ein kurzes Trommelfeuer auf dem Beton des Fußbodens. Dann hörte er, wie die Haustür aufgerissen wurde und scheppernd an die Wand schlug. Bonaventure blickte verständnislos zu Greta. Doch die hatte ihm schon den Rücken zugewandt und schickte sich an, den Kindern zu folgen. Plötzlich erzitterte das Haus erneut, heftiger als zuvor; Greta stolperte und wäre mitsamt Belize beinahe hingefallen, hätte der Türrahmen ihren Sturz nicht aufgefangen. Doch keine Explosion war zu hören, kein verräterisches Pfeifen, kurz bevor die Granaten ihr Ziel erreichten – nur das gleiche ortlose Dröhnen wie zuvor. Und in diesem Moment begriff Bonaventure, dass keine Rebellen Stellungen in den Hügeln bezogen hatten, dass niemand im Schutz der Dunkelheit mit Kalaschnikows und Buschmessern Jagd auf sie machte.
In jener Nacht zerstörte das Erdbeben acht Häuser im Dorf ganz oder teilweise; und hätte Greta nicht schneller reagiert als er, hätten sie vielleicht noch viel mehr verloren als das Dach über ihrem Kopf.