Читать книгу Der Weg der Schwalbe - Thomas Fischer - Страница 23
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„Haltet ihn! Haltet ihn fest!“
Bonaventure verlor fast das Gleichgewicht, als der kleine schmutzige Junge von der Seite gegen seine Beine prallte und sich auf den Hosenboden setzte, ihn kurz aus geweiteten Augen erschrocken anstarrte, während er einen grünen Plastikbeutel fest an seine Brust drückte – nur um im nächsten Augenblick schon wieder auf den Füßen zu sein und wieselflink Haken schlagend zwischen den Händlern, Käufern, Passanten und Reisenden zu verschwinden, die trotz der frühen Morgenstunde den Busbahnhof vor dem zentralen Markt der Hauptstadt bevölkerten. Längst war nichts mehr von ihm zu sehen, als die Urheberin der Rufe, eine junge Frau, die ihr Kind in einem Tuch auf dem Rücken trug, neben Bonaventure auftauchte, schimpfend wie ein Rohrspatz. Sie wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und zog gleichzeitig mit der anderen Hand das Tuch zurecht, in dem ihr Kind ungeachtet der Aufregung tief und fest zu schlafen schien.
„Dieser verdammte Dieb! Einen ganzen Beutel mit Passionsfrüchten hat er mir geklaut, als ich gerade einem Kunden sein Wechselgeld in die Hand zählte!“ Sie wandte sich an Bonaventure, der verloren mit seinem Koffer am Rande der Menschenmenge stand, im wahrsten Sinne wie bestellt und nicht abgeholt. „Haben Sie gesehen, wohin er gelaufen ist?“
Bonaventure zeigte in die Richtung, in der der kleine Langfinger verschwunden war. „Aber ich fürchte, er ist längst über alle Berge“, sagte er zu der Händlerin.
Ganz ehrlich war sein Mitleid nicht. Zwar wusste er, dass der Verlust ihrer Früchte ein empfindliches Loch in die Kasse der Frau reißen würde, doch dürfte es wohl kaum so groß sein wie das im Bauch des Straßenjungen. Er ist ein Kind, dachte Bonaventure, während er der Händlerin nachsah, die sich immer noch fluchend entfernte, und doch ist er schon ganz auf sich alleine gestellt. Niemand kümmert sich um ihn – nicht wenn er Hunger hat, nicht wenn er krank ist, und nicht wenn er stirbt, weil ihm das Klebstoffschnüffeln langsam, aber sicher die Lunge verätzt oder irgendein Parasit sein unheilvolles Werk in seinen Innereien vollendet. Wie konnten sie das nur zulassen? Wie tief war ein Land gesunken, das seine Schutzbedürftigsten sich selbst überließ? Was, wenn seine eigenen Kinder gezwungen wären, sich ein Nachtlager aus alten Pappkartons zu bereiten, ihr Schlaf unruhig und voller böser Träume von Polizisten, Wachmännern – oder noch viel Schlimmerem?
Bonaventure schüttelte kurz den Kopf, um die dunklen Gedanken zu vertreiben. Es gab nichts, was er jetzt für die verlorenen Kinder seines Landes tun konnte. Vielleicht eines Tages, wenn sein eigenes Leben sich wieder zum Guten gewendet hatte, aber für den Augenblick musste er an sich denken. Und an das, was vor ihm lag.
In diesem Moment kam Leben in die Menschen, die mit ihm am Rande des Busbahnhofs gewartet hatten. Die meisten von ihnen hatten wie Bonaventure Koffer, Taschen oder große mit bunten Stoffen umwickelte Bündel bei sich, die sie nun eilends zur Seite zogen, um dem großen weißen Reisebus Platz zu machen, der ein paarmal hupend in dem Gedränge vorfuhr. Er war kaum zum Stehen gekommen, als schon ein Helfer aus der offenen Tür neben dem Fahrer heraussprang und begann, das Gepäck der Fahrgäste in den Stauraum über dem Bodenblech des Busses zu verladen. Auch Bonaventure begab sich mit seinem Koffer in das Gedränge, das an der Luke entstanden war, und nachdem er sich vergewissert hatte, dass seine Habe sicher verstaut war, ging er die paar Schritte nach vorne zur Bustür. Dabei bemerkte er, dass über dem Gepäckabteil in großen geschwungenen Lettern der Name von Monsieur Gérards Unternehmen stand.
Wenn ihm der massige Mann schon keine Arbeit gegeben hatte, dachte Bonaventure, würde er ihm nun zumindest dabei helfen, welche zu finden, indem er ihn dreihundert Kilometer nach Norden brachte – die erste Etappe auf seiner langen Reise.
Die Reisebusse, die zwischen der Hauptstadt und den anderen Ländern der Region verkehrten, waren viel komfortabler als die klapprigen überfüllten Fahrzeuge, die innerhalb des Landes fuhren. Bonaventure hatte einen ganzen, wenn auch verschlissenen Sessel für sich alleine, und wenn er geduldig ein wenig an dem Griff ruckelte, der sich an der Seite des Sitzes befand, konnte er die Lehne sogar etwas absenken. Und so saß Bonaventure bequem nach hinten gelehnt auf seinem Fensterplatz und schaute nach draußen, als sich der Bus nur zwei Stunden nach der geplanten Abfahrtzeit schließlich in Bewegung setzte.
Sie nahmen auf den ersten Kilometern den gleichen Weg aus der Hauptstadt hinaus, den auch Jean-Marie damals im Jeep der Geheimpolizei zurückgelegt hatte. Das Land und die Hügel, die am Bus vorbeizogen, leuchteten in der Morgensonne in tausend Schattierungen von Grün. Hier und da stiegen Nebelfetzen aus den Feldern empor; es war bereits sehr warm, obwohl der Tag noch jung war.
Die Regenzeit meinte es gut mit ihnen. Zwar war sie fast vier Wochen später gekommen, als normal gewesen wäre, dafür aber waren die Wolken auch länger geblieben, und es hatte in den vergangenen zwei Monaten jeden Tag geregnet, manchmal sogar für mehrere Stunden. Die nächste Ernte, dessen konnte Bonaventure sich sicher sein, würde gut ausfallen, und dieser Umstand hatte es ihm ein kleines bisschen weniger schwer gemacht, seine Familie zu verlassen – jetzt, fast ein halbes Jahr nachdem die Erde gebebt hatte.
Als er Greta vor anderthalb Monaten eines Morgens seinen Entschluss mitgeteilt hatte, hatte sie wortlos das Haus verlassen und war erst spät am Abend in der Dunkelheit zurückgekehrt. Sie erzählte Bonaventure nicht, wo sie gewesen war, doch ihre Augen waren geschwollen, zweifellos hatte sie viel geweint. Als sie schließlich bei Jean-Marie in ihrer Kammer im Bett lagen, hatte sie sich wieder ein wenig gefangen. Sie lagen beide auf dem Rücken nebeneinander und starrten an die Decke. Eine Kerze tauchte den Raum in ihr schwaches Licht. Schließlich brach Greta das Schweigen.
„Weißt du noch, wie viel Angst ich immer um dich hatte, wenn du damals im Krieg mit deiner Einheit unterwegs warst? Jedes Mal, wenn du aufgebrochen bist, fürchtete ich, es könnte das letzte Mal sein, dass ich dich gesehen habe.“
Bonaventure antwortete nicht.
„Noch schlimmer war es für die Kinder. Sie konnten nicht verstehen, warum ihr Vater immer wieder fortging, und ich fand keinen Weg, es ihnen zu erklären.“
Gretas Stimme zitterte jetzt, und sie wischte sich verstohlen die Augen. „Erinnerst du dich, wie Lily sich immer an deine Beine geklammert und geweint hat, wenn sie sah, dass du deine Uniform angezogen hattest?“
Sie drehte den Kopf zur Seite und sah ihren Mann an, der seinen Blick immer noch nach oben gerichtet hatte.
„Ich weiß, es war dein Beruf, es ging nicht anders. Und ich danke Gott dafür, dass du nicht im Krieg geblieben bist. Doch dieses Mal verlässt du uns aus freien Stücken. Und wieder wissen wir nicht, wann du wiederkehrst.“
Bonaventure spürte, wie auch ihm eine Träne die Wange herabrollte, zum Glück auf der Seite seines Gesichts, die Greta nicht sehen konnte. Haben wir alle eine Seite, die für andere unsichtbar bleibt – selbst für die, die wir mehr lieben als alles andere? Es brach ihm das Herz, seine Familie zurückzulassen, und die Erinnerung an Lily, der niemand hatte helfen können, nicht die Ärzte und nicht ihre Eltern, tat ihr Übriges, um den Entschluss, den er gefasst hatte, beinahe ins Wanken zu bringen. Bonaventure hörte, wie vor dem Fenster ein Windstoß durch die Bananenpalmen wehte. Dann begann es zu regnen. Für einen Moment waren es nur einige wenige Tropfen, die unrhythmisch auf das Wellblechdach klatschten, doch dann öffnete der Himmel seine Schleusen, und kaum einen Wimpernschlag später ging ein Wolkenbruch über den dunklen Hügeln nieder. Das Geprassel der Wassermassen auf dem Dach löschte alle anderen nächtlichen Geräusche aus. Manchmal schien es kurz ein wenig schwächer zu werden, nur um im nächsten Augenblick wie eine Welle, die sich am Ufer bricht, wieder anzuschwellen. Ab und an mischte sich ein ferner Donnerschlag in das Rauschen und Getrommel, das die kleine Kammer erfüllte.
Schließlich, als der Regenguss etwas nachzulassen schien, wandte Bonaventure sein Gesicht Greta zu. Im tanzenden Schein der Kerze, die um die Hälfte heruntergebrannt war, sah er, dass sie die Augen geschlossen hatte. Ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig, doch ihre Lippen zitterten von Zeit zu Zeit, als ob sie im Traum Worte zu formen suchten; Worte, die nur sie selbst hören konnte und von denen nur sie selbst wusste, für wen sie bestimmt waren.
Irgendwann – es hatte längst aufgehört zu regnen und bloß der Geruch von kühler, nasser Erde, der durch das Fenster hereinzog, erinnerte noch an das Leben spendende Unwetter – flackerte die Kerze ein letztes Mal auf und verlosch dann endgültig. Bonaventure lag immer noch unbeweglich da. Nicht für einen Moment hatte er den Blick von seiner schlafenden Frau abgewandt, und selbst jetzt, als die Kammer von einem Augenblick auf den anderen in der Schwärze der Nacht versank, war es ihm, als sehe er Gretas Gesicht immer noch vor sich; als könne die Erinnerung zur Gegenwart werden, wenn man sie nur fest genug hielt.
In dieser Nacht fand Bonaventure keinen Schlaf mehr.