Читать книгу Der Weg der Schwalbe - Thomas Fischer - Страница 21
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„Ich werde gehen.“
Jean-Marie sah seinen Bruder verständnislos an.
„Was soll das heißen, du wirst gehen?“
„Es heißt, dass ich gehen werde. Um Arbeit zu finden.“
Der große schlanke Mann saß fast regungslos auf seinem Stuhl auf der Veranda, die Hände im Schoß gefaltet. Am Himmel türmten sich hohe weiße Wolken, so weit das Auge reichte. Über Nacht waren endlich die Vorboten der Regenzeit aufgezogen, die – so Gott wollte – das Land schon bald in ein Meer aus leuchtendem Grün verwandeln würde.
Seit Tagen hatten die beiden Brüder es vermieden, über ihre schwierige Lage zu sprechen, waren einander so gut es ging aus dem Weg gegangen und hatten sich stattdessen auf ihre Familien konzentriert. Es war, als hätten sie sich eine letzte Auszeit gönnen wollen, bevor sie sich endgültig und unumkehrbar der Tatsache stellten, dass sie einen Ausweg aus ihrer misslichen Lage finden mussten. Dass sein älterer Bruder ihn allerdings vor vollendete Tatsachen stellen würde, damit hatte Jean-Marie nicht gerechnet.
„Aber Bonaventure, du hast alles versucht! Wie oft warst du in den letzten Monaten in der Hauptstadt, und mit wem hast du alles gesprochen!“
„Ich meine nicht die Hauptstadt.“
„Was meinst du dann? Glaubst du, anderswo im Land ist es besser? Und selbst wenn du irgendwo als Tagelöhner unterkommst, werden deine Unterkunft und die Reisekosten alles Geld auffressen, das du verdienst. Nein, wir müssen einen anderen Weg finden. Vielleicht haben wir dieses Mal eine bessere Regenzeit, dann sieht es in ein paar Monaten schon ganz anders aus, und wer weiß …“
„Ich werde das Land verlassen.“
Bonaventure hatte leise gesprochen, fast wie zu sich selbst, und doch hallten seine Worte wie ein Donnerschlag nach. Unwillkürlich sah Jean-Marie für einen Augenblick zum Himmel, wo sich die Sonne hinter gewaltigen Formationen aus Myriaden feinster Wassertröpfchen verbarg.
„Das Land verlassen.“ Jean-Marie wiederholte die Worte, als ob sich erst dadurch ihr Sinn für ihn erschlösse. Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder gefangen hatte. „Und wo willst du hin?“, fragte er schließlich, und in seinem Blick lag etwas Lauerndes.
Bonaventure sah seinen Bruder an. Er hatte tiefe Ränder unter den Augen; die harte Arbeit in den Ruinen und viele schlaflose Nächte forderten ihren Tribut.
„Dorthin, wo es Arbeit gibt. Wo ich genug verdienen kann, um das Haus wieder aufzubauen. Um meiner Familie eine Zukunft zu ermöglichen.“
„Und wo bitte soll das sein?“ Jean-Marie wurde allmählich ungeduldig. „Nicht, dass ich dich entmutigen wollte, aber unsere Nachbarn haben auch schon bessere Zeiten erlebt. Meinst du, dort werden Arbeitssuchende mit offenen Armen empfangen? Wo die eigene Bevölkerung kaum genug zu beißen hat? Auf dich haben sie da gerade noch gewartet. Nein, Bonaventure, das ist Wahnsinn!“ Jean-Marie lachte bitter und machte eine ironische, einladende Geste mit seinen Händen. „Willkommen in Afrika, Bruder!“
„Nach Europa. Ich werde nach Europa gehen.“
Der zweite Donnerschlag, noch lauter als der erste. Jean-Marie verharrte mit spöttisch ausgebreiteten Armen, während sein Hirn zu verarbeiten versuchte, was seine Ohren soeben aufgenommen hatten.
„Was?“
Ohne hinzusehen, drehte Bonaventure einen Strohhalm zwischen den Fingern, der auf dem Tischchen zwischen ihnen gelegen hatte. Seit Wochen war er nicht mehr benutzt worden, ebenso wie die dazugehörige Kalebasse.
„Ich hatte viel Zeit nachzudenken. Steineschleppen ist eine eintönige Arbeit.“
„Aber …“ Man konnte die Male, die es Jean-Marie in seinem Leben die Sprache verschlagen hatte, leicht an zwei Händen abzählen, doch in diesen Tagen schienen sich die Anlässe zu häufen.
„Du weißt selbst, dass es nicht so weitergehen kann wie die letzten Monate. Wir können nicht länger auf ein Wunder warten. Etwas muss geschehen“, fuhr Bonaventure fort, während er den Strohhalm wieder auf dem Tischchen ablegte. „Ich werde nicht tatenlos zusehen, wie die Zukunft meiner Familie Stück für Stück in die Brüche geht, und dich dabei mit hinunterreißen.“
„Aber Europa …“ Jean-Marie versuchte krampfhaft, sich wieder zu fangen, doch in seinem Kopf drehten sich die Gedanken mit rasender Geschwindigkeit im Kreis, wie ein Hund, der nach dem eigenen Schwanz schnappt, und er vermochte sie nicht festzuhalten.
„Ich könnte auf einer Plantage in Spanien arbeiten. Der Bruder eines Freundes aus meiner Militärzeit ist dort vor vielen Jahren hingegangen. Seitdem schickt er seiner Familie jeden Monat Geld. Oder ich versuche sogar, bis Frankreich oder Belgien zu kommen. Es gibt dort viele Afrikaner.“
Bonaventure sah über die Brüstung der Veranda auf den kleinen Platz vor dem Haus seines Bruders, wo Aléxine und ihre Cousine Blessing hingebungsvoll damit beschäftigt waren, der kleinen Belize das Murmelspiel beizubringen. Es war Sonntag, und die Mädchen trugen ihre feinsten Kleider mit aufgesetzten weißen Kragen und großen Schleifen auf dem Rücken, was sie aber nicht davon abhielt, sich immer wieder in den rostroten Staub zu knien, wenn sie einen besonders kunstvollen Wurf bewerkstelligen wollten.
„Du bist verrückt!“, brachte Jean-Marie endlich hervor.
Bonaventure wandte den Blick von den spielenden Kindern ab und sah Jean-Marie an.
„Nein, Bruder, ich bin nicht verrückt. Aber ich habe viel verloren, und so viel mehr steht noch auf dem Spiel. Für uns alle.“
„Und jetzt erwartest du von mir, dass ich deinem irren Vorhaben meinen Segen gebe?“ Jean-Marie spürte, wie das anfängliche Chaos in seinem Kopf allmählich einem heiligen Zorn wich. Doch Bonaventure ließ sich nicht einschüchtern.
„Um ehrlich zu sein: Ja, genau das erwarte ich von dir.“
Jean-Marie lachte laut auf, und die Kinder unterbrachen ihr Spiel für einen Moment, um zu den Erwachsenen auf der Veranda zu sehen.
„Ich glaube es nicht! Weißt du überhaupt, wovon du da redest?“ Jean-Marie hatte sichtlich Mühe, seine Stimme im Zaum zu halten, um die Kinder nicht zu erschrecken. Er biss die Zähne aufeinander und zischte zwischen ihnen hervor: „Es ist ein verdammt langer Weg bis nach Europa, Bonaventure, entschuldige meine Wortwahl. Und er ist nicht nur lang, er ist auch gefährlich und vor allem teuer! Wir alle kennen die Geschichten von denen, die es nicht geschafft haben, und vor allem wissen wir, wie diese Geschichten ausgegangen sind! Und du willst es besser machen als sie? Ein Mann irgendwo aus dem Busch im vergessenen afrikanischen Nirgendwo? Hast du auch nur die Spur einer Vorstellung davon, worauf du dich da einlässt? Und wie du das Ganze bewerkstelligen willst?“
Jean-Marie zitterte jetzt am ganzen Leibe.
„Ja, die habe ich.“
Vier Worte, ausgesprochen, ohne zu zögern – mehr brauchte es nicht, damit Jean-Marie in diesem Augenblick begriff, dass nichts, was er sagte, seinen Bruder noch von seinem Entschluss würde abbringen können. Und während Bonaventure Jean-Marie seinen Plan auseinandersetzte, wurde dieser immer stiller, bis er schließlich gar nichts mehr sagte und nur noch von Zeit zu Zeit resigniert den Kopf schüttelte.
Irgendwann, die Kinder waren längst ins Haus gegangen, schloss Bonaventure seine Ausführungen ab. Inzwischen war die Abendsonne zwischen den Wolken hervorgebrochen und warf hier und da einen goldenen Lichtstrahl auf die Hügel. Zwei Schwalben flogen in schnellem Zickzack tief über die Dächer des Dorfes, zwischen denen vereinzelt feine Rauchsäulen emporstiegen. Die Brüder sahen den kleinen Flugkünstlern schweigend nach, und ohne es zu wissen, dachten beide dasselbe: Die zerbrechlichen Geschöpfe waren spät dran für ihre lange Reise gen Norden.