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Sie kamen gut voran. Ab und zu mussten sie Schlaglöchern von kolossalen Ausmaßen ausweichen; gelegentlich wurde das graue Asphaltband der Straße von kurzen unbefestigten Abschnitten unterbrochen, an denen sie gezwungen waren, im Schritttempo zu fahren – ein Umstand, den Händler am Straßenrand nutzten, um den Fahrgästen durch die geöffneten Fenster ihre Waren feilzubieten; und hin und wieder zwangen Viehherden, die ihre Hirten nicht rechtzeitig von der Fahrbahn trieben, den Busfahrer zu gewagten Manövern. Doch insgesamt verlief ihre Reise in den ersten Stunden ohne große Störungen.

Als sie sich allmählich der nördlichen Landesgrenze näherten, spürte Bonaventure, wie sich Nervosität seiner bemächtigte. Er war lange nicht mehr in dieser Gegend gewesen. Das letzte Mal war vor sieben Jahren gewesen, kurz vor Kriegsende, als er einen Truppentransport begleitet hatte. Damals hatten plötzlich Rebellen aus dem Hinterhalt das Feuer auf ihren Konvoi eröffnet, doch außer einem jungen Soldaten, den eine Kugel in den Oberarm getroffen hatte und der beinahe verblutet wäre, waren sie ungeschoren davongekommen.

Seine jetzige Unruhe hatte allerdings nichts mit den Geschehnissen jener Tage zu tun; sie war vielmehr der Tatsache geschuldet, dass sie sich unaufhaltsam der Grenzkontrolle näherten. Zwar wusste Bonaventure, dass er kein Visum benötigte und sein Reisepass gemäß den internationalen Bestimmungen ausreichte, um in das Nachbarland einzureisen; und doch fühlte er sich, als stünde ihm seine Reiseroute mit all ihren künftigen illegalen Grenzübertritten ins Gesicht geschrieben.

Als der Bus schließlich sein Tempo verlangsamte und dann vor einem heruntergelassenen Schlagbaum gänzlich zum Halten kam, hatte Bonaventure schweißnasse Handflächen, und in seinem rechten Oberschenkel machte sich ein unangenehmes Ziehen bemerkbar. Aus dem Fenster konnte er zwei kleine, schiefe hölzerne Baracken sehen, an deren Fassaden üppige Bougainvilleen wucherten. Vor den Bretterbuden lungerten einige Uniformierte herum. Kalaschnikows hingen an Trageriemen von ihren Schultern, die Ärmel ihrer Dienstkleidung hatten sie hochgerollt und ihre Unterarme ruhten lässig auf den Läufen der Waffen, die schräg Richtung Boden wiesen. Einige Augenblicke später betraten zwei Grenzbeamte den Bus durch die Tür neben dem Fahrer und begannen, die Papiere der Reisenden in Augenschein zu nehmen. Auch sie trugen Maschinenpistolen bei sich, mit denen sie auf ihrem Weg durch den engen Mittelgang des Busses immer wieder an den Sitzen zu ihren Seiten hängen blieben.

Die Männer ließen sich Zeit mit ihrer Kontrolle. Seite für Seite durchblätterten sie stumm und mit reglosen Mienen die Papiere, die ihnen entgegengestreckt wurden, zwischendurch warfen sie immer wieder prüfende Blicke in die Gesichter der Reisenden. Je näher die Uniformierten dem hinteren Viertel des Busses kamen, in dem Bonaventures Platz lag, desto schneller schlug sein Herz. Er versuchte, seine Augen auf eine Gruppe von Kindern zu heften, die neben den Baracken johlend einem Ball hinterherjagten, den sie aus alten Plastiktüten und ein paar Schnüren selbst gebastelt hatten, doch auch das vermochte das Zittern seiner Hände nicht zu stoppen. Bleib ruhig, sie können dir nichts anhaben. Du tust nichts Illegales. Du bist einfach ein Besucher, ein Gast in ihrem Land. Er wandte seinen Kopf noch etwas weiter zur Seite, sodass seine Stirn auf dem kühlen Glas des Busfensters zu ruhen kam. In der Scheibe konnte Bonaventure schemenhaft sein Gesicht erkennen, und selbst in der unscharfen Reflexion glaubte er zu sehen, dass ihm der wahre Grund seiner Reise überdeutlich anzusehen war. Draußen verschwanden die Kinder fast in einer Wolke aus Staub, als sie sich alle zugleich auf den Ball stürzten.

„Hallo? Ihren Ausweis!“

Bonaventure zuckte zusammen und hätte fast seinen Pass, den er seit Beginn der Kontrolle mit verkrampften Fingern bereitgehalten hatte, zwischen seinen Knien zu Boden fallen lassen. Der Grenzbeamte hatte sich über Bonaventures Sitznachbarn gebeugt und tippte Bonaventure ungeduldig auf den Oberarm; die Mündung seiner Kalaschnikow, die er mittlerweile auf dem Rücken trug, tanzte dabei wie eine verrückt gewordene Kompassnadel durch die Luft und zielte schließlich über seine Schulter mitten in Bonaventures Gesicht.

Er zwang sich, dem Kontrolleur ins Gesicht zu sehen, als er ihm seine Papiere überreichte. Dabei rang er sich ein Lächeln ab, das sein Gegenüber nicht erwiderte. Sein Herz klopfte einen beängstigend schnellen Rhythmus, als der junge Mann, der höchstens zwanzig sein konnte, den Ausweis aufschlug und die Augen über die Zeilen wandern ließ. Schließlich klappte er das Dokument zu, gab es Bonaventure jedoch nicht zurück, sondern behielt es in der Hand.

„Was ist der Grund Ihrer Reise?“

Bonaventure schluckte. „Ich besuche einen Freund aus gemeinsamen Zeiten beim Militär. Er ist während des Krieges ausgewandert.“

„Wie lange werden Sie sich in unserem Land aufhalten?“

„Etwa drei Wochen. Wir haben uns lange nicht gesehen.“

Mittlerweile war der zweite Grenzbeamte dazugetreten und verfolgte das Gespräch aufmerksam. Er war deutlich älter als sein Kollege, und im Gegensatz zu ihm hatte er ein sympathisches Gesicht und einen offenen Blick, wie Bonaventure jetzt aus der Nähe feststellte.

„Wo lebt Ihr Freund?“

„In einem Vorort der Hauptstadt. Er holt mich vom Busbahnhof ab.“

Drei Wochen – diese Lüge hatte sich Bonaventure zurechtgelegt für den Fall, dass sie sein Gepäck sehen wollten. Anders würde er kaum erklären können, warum er einen ganzen Koffer voller Kleidung bei sich hatte.

Der Mann sah ihn skeptisch an. „Aha, drei Wochen also. Zu Besuch bei einem Freund.“ Er wandte sich zu seinem Kollegen um, und die beiden wechselten mit gedämpfter Stimme ein paar Worte, die Bonaventure nicht verstehen konnte.

Schließlich drehte sich der Grenzbeamte wieder zu Bonaventure zurück.

„Woher, sagten Sie gleich noch, kennen Sie Ihren Freund?“

„Wir waren beide Fahrer bei der Armee. Doch eines Tages ist er desertiert und geflohen. Er betreibt jetzt eine kleine Bar.“

Dies ließ den zweiten Grenzbeamten wohl hellhörig werden; jedenfalls schaltete er sich nun in Bonaventures Befragung ein.

„Dürfte ich fragen, wie Ihr Freund heißt?“

„Célestin …“

Doch der Kontrolleur ließ ihn nicht zu Ende sprechen. Er bedeutete Bonaventure mit erhobener Hand innezuhalten.

„Célestin?“

„Ja, so heißt er.“

„Ein Landsmann von Ihnen?“ Der Beamte legte den Kopf ein wenig zur Seite – wie ein Vogel, dachte Bonaventure, der aufmerksam auf das horcht, was um ihn herum vorgeht.

„Ja.“

„Mit einer Bar in der Hauptstadt?“

„Das ist richtig. Er hat sie einige Jahre nach seiner Ankunft eröffnet.“

Der Uniformierte hielt kurz inne und zog die Augenbrauen hoch, während er zugleich den Zeigefinger erhob.

„Das Oasis?“

Bonaventure war jetzt völlig verdutzt und starrte den Grenzbeamten nur verständnislos an, während sich dessen Gesicht zu einem breiten Grinsen verzog. Dann streckte er Bonaventure die Hand entgegen, die dieser automatisch ergriff und schüttelte.

„Na dann – herzlich willkommen in unserem Land!“

„Aber woher wissen Sie …“

„Lassen Sie mich Ihnen eines sagen“, unterbrach ihn der Beamte und sah Bonaventure verschwörerisch an, als würde er ihm ein großes Geheimnis verraten, „unsere Hauptstadt ist zwar groß, aber so ungeheuer viele Deserteure aus Ihrer Heimat, die Célestin heißen und das Oasis betreiben, gibt es dann doch wieder nicht.“ Mit gespielt strenger Miene deutete er auf seinen jungen Kollegen, der nun reichlich unsicher wirkte und am Schulterriemen seiner Kalaschnikow herumnestelte. „Mein Partner hier ist noch nicht so lange in dem Job, und er nimmt ihn ungeheuer ernst. Manchmal ein bisschen zu ernst – nicht wahr?“ Dabei klopfte er seinem Kameraden väterlich auf die Schulter, der das mit einem verlegenen Blick quittierte. „Ich wünsche Ihnen noch eine gute Reise. Und grüßen Sie Célestin von mir.“ Er hatte sich schon wieder abgewandt, um den Bus zu verlassen, als er sich noch einmal umdrehte. „Ach ja, mein Name ist Marc. Sagen Sie Célestin viele Grüße von Marc aus dem Süden.“

Als Bonaventure kurz vor Einsetzen der Dämmerung im Schlepptau von Célestin dessen Bar betrat, die an einer staubigen Seitenstraße lag und vor allem aus einem kleinen Innenhof mit zahlreichen wackeligen weißen Plastiktischen und dazu passenden Stühlen bestand, begriff er sofort, was es mit seinem verwirrenden Erlebnis im Bus auf sich gehabt hatte. Schon zu dieser vergleichsweise frühen Stunde war das Oasis voller Uniformierter. Überall saßen Militärs und Polizisten in kleinen und größeren Grüppchen zwischen Palmen und geschlossenen Sonnenschirmen und unterhielten sich angeregt. Vor ihnen standen Bier- und ein paar vereinzelte Limonadenflaschen, und gemessen an ihren glasigen Augen und der Lautstärke des Gelächters, das immer wieder aufbrandete, waren es nicht ihre ersten. Weiter hinten hing ein großer Flachbildfernseher schief an einer Wand des flachen Gebäudes, das den Hof auf drei Seiten umschloss, auf dem sich einige Gäste ein Fußballspiel zweier europäischer Mannschaften ansahen. Immer wieder sprangen sie auf und gestikulierten wild in Richtung des dröhnenden Apparats, als könnten sie die Tausende Kilometer entfernten Spieler so zu mehr Leistung antreiben.

Célestin, dem nicht entgangen war, wie Bonaventure sich erstaunt umsah, grinste seinen alten Freund an, während er dessen Koffer neben einem freien Tisch abstellte.

„Wie du siehst, lässt sich mit unseren Staatsdienern ganz gut verdienen. Keine Ahnung, warum ausgerechnet das Oasis zum bevorzugten Laden für Uniformierte geworden ist. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass ich selbst einmal zur Truppe gehört habe, wenn auch nicht hier.“ Er hob die rechte Hand in die Luft und erwiderte so den Gruß eines Mannes, der einige Tische weiter saß und schon einige Zeit in ihre Richtung gewunken hatte. „Jedenfalls bringen sie mit ihrem Sold nicht nur sich und ihre Familien durch, sondern auch mich und die meine. Besonders am Monatsanfang, wenn das Geld noch am lockersten sitzt.“ Er deutete auf einen Stuhl, den eine Bedienung gerade mit einem feuchten Tuch abgewischt hatte. „Aber setz dich, setz dich! Ich schätze, du bist hungrig und durstig nach deiner langen Reise.“ Célestin klatschte in die Hände, und sofort erschien ein junger Kellner mit zwei in Plastik eingeschweißten Speisekarten.

„Ich soll dich von Marc grüßen“, sagte Bonaventure, während er sich auf seinem Platz niederließ. „Von Marc aus dem Süden, wie er sagte.“

„Ach, Marc – am Wochenende und wenn er Urlaub hat, kommt er immer nach Hause in die Stadt zu seiner Familie. Und natürlich zu mir!“ Célestin zwinkerte Bonaventure zu. „Hast du an der Grenze seine Bekanntschaft gemacht?“

„Ja, ich glaube, ohne ihn hätte ich vielleicht Probleme bekommen. Der andere Passkontrolleur war nicht so freundlich wie er.“

Célestin lachte. „Bei dem Theater, was die dort am Schlagbaum manchmal veranstalten, könnte man fast glauben, es kämen immer noch jeden Tag Tausende Bürgerkriegsflüchtlinge ins Land.“ Er rieb sich den Bauch, und Bonaventure bemerkte, dass sein alter Freund und Kamerad ziemlich zugelegt hatte, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten. „Aber jetzt lass uns essen. Ich empfehle den Ziegenspieß mit frittierten Bananen. Niemand in der Stadt grillt das Fleisch so gut wie unser Koch. Und danach reden wir über deine große Reise.“

Der Weg der Schwalbe

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