Читать книгу Der Weg der Schwalbe - Thomas Fischer - Страница 18
Оглавление82 Minuten vor Sonnenaufgang
Die Nacht im Wald war von so vollkommener und undurchdringlicher Schwärze, dass er nichts sehen konnte als die Umrisse des Dickichts, in dem er am Fuß eines alten Urwaldriesen kauerte, der die unerschöpfliche Gier des Landes nach Feuerholz irgendwie überlebt hatte. Schwere, kalte Tropfen prasselten unerbittlich auf das Blätterdach über ihm, das ebenso seinen Blicken entzogen war wie der Rest der Welt um ihn herum. Sein Atem ging schnell und stoßweise, sein Herz hämmerte in seiner Brust, und trotz der Kühle der Nacht hatte sich ein feiner Schweißfilm auf seiner Stirn gebildet.
Angstschweiß.
Der Ort, der noch vor einer Viertelstunde Sicherheit und Rettung versprochen hatte, erschien ihm jetzt feindlich, und er fühlte sich schutzlos und ausgeliefert. Obwohl er nass bis auf die Knochen war, spürte er den Regen kaum. Sein rechtes Bein war unter ihm eingeschlafen und seine Füße schmerzten in den klobigen Springerstiefeln, doch er wagte nicht, sich zu bewegen. Wie eine waidwunde Antilope lauschte er mit weit aufgerissenen Augen in das Dunkel um ihn herum. Nichts, außer dem gleichmäßigen Trommeln und Rauschen des Regens.
Schließlich fasste er sich ein Herz. Mit zitternden Händen ertastete er das Blätterwerk vor seinem Gesicht und schob es vorsichtig, um nur kein Geräusch zu machen, ein wenig auseinander, doch auch dahinter war nur Finsternis. Er ließ die Zweige zurückschnellen und zuckte zusammen, als sich ihr Rascheln für einen kurzen Moment zu dem Rauschen des herabfallenden Wassers gesellte. Ein Krampf durchfuhr sein Bein, und der plötzliche scharfe Schmerz zwang ihn, seine Position zu verändern. Er biss die Zähne zusammen und ließ sich vorsichtig aus der Hocke nach hinten sinken, bis er schließlich in nasser Erde und halb verrottetem Laub zu sitzen kam, das den Boden des Waldes bedeckte. Er lehnte sich an den mächtigen Baum, legte den Kopf zurück, sodass die Tropfen ihm ins Gesicht fielen, und streckte langsam und unter Schmerzen sein Bein durch, bis der Krampf allmählich nachließ. Für einen Moment schloss er die Augen und umklammerte mit beiden Händen den Lauf der Kalaschnikow, die in seinem Schoß lag. Das Metall fühlte sich glatt und kalt an. Aus Erfahrung wusste er, dass ihr Nässe kaum etwas anhaben konnte und dass sie vermutlich sogar seinen unfreiwilligen Tauchgang unbeschadet überstanden hatte. Neben dem Magazin, das sich in der Waffe befand, steckte noch ein weiteres in der Außentasche seiner Militärhose. Zwei Magazine, das bedeutete sechzig Schuss. Nicht genug, um sich den Weg freizuschießen, aber vielleicht ausreichend, um Verfolger auf Distanz zu halten.
Er war der Letzte seiner Einheit. Zumindest soweit er wusste, ganz sicher konnte er sich nicht sein. Beim bloßen Gedanken daran, was aus den anderen geworden war, spürte er, wie ihn erneut Panik ergriff. Eben noch waren sie um das kleine Feuer in ihrem Unterstand zusammengesessen, den sie aus ein paar Ästen und rostigen Wellblechen errichtet hatten. Sie hatten Maiskolben in der Glut geröstet und eine Flasche Bananenschnaps kreisen lassen. Obwohl er mit Abstand der Jüngste und Unerfahrenste war, hatten ihn seine Kameraden behandelt wie einen der ihren. Bis plötzlich …
Sein Magen zog sich in einem heftigen Krampf zusammen, und er warf den Oberkörper gerade noch rechtzeitig nach vorne, um sich nicht in seinen Schoß, sondern zwischen seine Beine zu übergeben. Minutenlang würgte er, bis nur noch bittere Galle kam. Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und lehnte sich erschöpft wieder zurück.
In diesem Moment gab eine Lücke in der Wolkendecke den Mond frei, und er tauchte den Wald in sein kaltes fahles Licht. Nur für einen kurzen Augenblick, doch lange genug für ihn, um Gewissheit zu erlangen, dass er nicht alleine war.