Читать книгу Der Weg der Schwalbe - Thomas Fischer - Страница 8
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Bonaventure saß inmitten der Trümmer, die einmal sein Haus gewesen waren. Vor zwei Stunden war die Sonne aufgegangen. Seitdem hockte der große, schmale Mann fast regungslos auf einem gewaltigen Zementbrocken, die Unterarme auf die Knie gelegt, und versuchte, Ordnung in das Chaos in seinem Kopf zu bringen. Um ihn herum bedeckten Ziegelsteine, an denen trockener Mörtel haftete, zersplitterte Dachbalken und rostige, verbogene Wellblechplatten den Boden. Dazwischen schaute ein abgewetzter Sessel aus dem Schutt. Eine Ziege zupfte am Rande des Trümmerfeldes ungerührt Grashalme aus dem Boden und meckerte von Zeit zu Zeit leise vor sich hin.
Das, was vom Haus übrig war, stand im hellen Morgenlicht, als ob es nie anders gewesen wäre. Längst hatte der Staub sich gesetzt, nur gelegentlich zeugte das trockene Knirschen rutschender Trümmerteile davon, dass Bonaventures Heim sich erst noch in seiner neuen Statik einrichten musste. Von den meisten Wänden waren bloß die untersten vier oder fünf Ziegelreihen geblieben. Inmitten des Durcheinanders aus Schutt und Erinnerungen sahen sie aus wie das abgenutzte, schiefe Gebiss eines Riesen.
Da war die kleine Veranda, auf der er gerne mit seiner Frau gesessen hatte, wenn die Hitze des Tages der nächtlichen Kühle des tropischen Hochlandes wich. Oft sahen sie einfach nur in einvernehmlichem Schweigen zu, wie die Sonne hinter den Hügeln verschwand. Ab und zu beugten sie sich gemeinsam zu der Kalebasse auf dem Tischchen zwischen ihnen, um mit Strohhalmen einen Schluck Bananenwein zu nehmen. Der Flaschenkürbis war ein Hochzeitsgeschenk von Bonaventures Vater gewesen. Der knorrige alte Anastase hatte die nach traditioneller Rezeptur selbst angesetzten berauschenden Getränke des Landes den grellbunt bedruckten Flaschen aus den modernen Brauereien in den Großstädten stets vorgezogen. „Ich kann das Gesöff nicht ausstehen“, hatte er gerne zu seinen Söhnen gesagt und dabei mit seinem Gehstock durch die Luft geschnitten, als schlüge er reihenweise Flaschen von einem imaginären Tresen. „Es versteckt sich im Gewand eines Politikers, ist aber so dünn wie ein armer Mann!“ Wann immer er an diesen Ausspruch seines Vaters denken musste, lächelte Bonaventure leise in sich hinein. Es war schon richtig, was man sagte, dachte er, während die Nacht über das Land hereinbrach und die Stille mit ihren zahllosen Düften und Geräuschen erfüllte: Die Alten gehen niemals ganz.
Wenn es draußen zu frisch wurde – Bonaventure wusste, dass es so weit war, wenn Greta ihr Tuch unauffällig immer enger um sich zog –, stand er auf, stellte sich hinter seine Frau und legte die Hände auf ihre Schultern. Greta neigte dann den Kopf zur Seite, sodass ihre Wange auf dem Rücken seiner linken Hand zu ruhen kam. So verharrten sie ein Weilchen, bevor Greta sich schließlich aufrecht setzte und sagte: „Es war ein schöner Tag. Aber jetzt lass uns schlafen gehen; morgen werden wir unsere Kräfte brauchen.“ Dann nahm Bonaventure einen kleinen Kerzenstumpf, der auf der Brüstung der Veranda stand, entzündete mit einem Streichholz den Docht, und sie gingen im schwachen Schein des Kerzenlichts ins Haus.
Hinter der Eingangstür lag das Wohnzimmer. Vier verschlissene Sessel, jeder mit einem weißen Spitzendeckchen auf der Kopflehne, gruppierten sich um einen flachen länglichen Tisch. An einer fleckigen Wand stand ein schiefes Regal, das bis auf ein paar verblichene gerahmte Fotos und einen kleinen Bastkorb mit Deckel leer war. Hinter dem Wohnzimmer lag der private Teil des Hauses, den Gäste so gut wie nie zu sehen bekamen: ein enger Korridor und zwei Schlafkammern, die von ihm abgingen, eine davon für Bonaventure und Greta, die andere teilten sich ihre drei Kinder. In einem zweiten Gebäude hinter dem Haus, kaum mehr als ein Verschlag, befanden sich ein Abstellraum, in dem vor allem Feuerholz, Reis und rote Bohnen lagerten, die Küche und ein rudimentäres Badezimmer, das fast nie benutzt wurde, da die Wasserversorgung im ganzen Dorf nur selten funktionierte. Den stetigen Versicherungen des Provinzgouverneurs, man werde sich des Problems sehr bald annehmen, schenkten Bonaventure und Greta schon lange keinen Glauben mehr. „Was für eine reiche Sprache wir doch haben“, pflegte Greta zu spotten: „Wir haben gleich zwei Wörter für ‚nie‘: ‚nie‘ und ‚bald‘!“
Im Schlafzimmer war es wärmer als draußen auf der Veranda. Das Wellblechdach war im Verlauf des Tages unter den Sonnenstrahlen heiß geworden, hatte die Zimmer unter ihm erhitzt und sich dabei unmerklich gedehnt. Nun kündete ein unaufhörliches Knacken und Knirschen davon, dass es sich in der Kühle der Nacht allmählich wieder zusammenzog. Bonaventure hängte sein Hemd und seine Hose mit ihren scharfen Bügelfalten stets mit Sorgfalt an zwei Haken, die an der Innenseite der Tür angebracht waren, löschte die Kerze und legte sich neben Greta auf seine Matratze. Leise sprachen sie dann noch eine Weile davon, was der morgige Tag bringen würde, und horchten auf die gedämpften Geräusche aus dem Zimmer neben ihnen, wie sie nur schlafende Kinder hervorbringen können. Schließlich schlossen sie zum Konzert der unzähligen kleinen surrenden und zirpenden Herrscher der afrikanischen Nacht die Augen.