Читать книгу Der Weg der Schwalbe - Thomas Fischer - Страница 7
Оглавление98 Minuten vor Sonnenaufgang
Schemenhaft erhob sich der Waldrand vor ihm, ein schwarzer Schatten im Dunkel der Nacht, keine zweihundert Meter mehr entfernt. Er ahnte ihn mehr, als dass er ihn sah. Dorthin musste er es schaffen, dann hatte er vielleicht eine Chance. Kalter Regen peitschte in sein Gesicht, während er durch offenes Gelände hetzte, in dem er ein leichtes Ziel abgeben würde, käme der Mond bloß für einen Augenblick hinter den Wolken hervor, die unsichtbar in der Finsternis über ihm hingen. Das unebene Terrain unter seinen Füßen war voller Stolperfallen, und immer wieder strauchelte er, doch es gelang ihm stets, einen Sturz zu vermeiden. Jetzt einmal umknicken, ein verstauchter Knöchel oder gar ein Bänderriss, und es wäre aus.
Die Salve einer Maschinenpistole war für einen Augenblick deutlich hinter dem Vorhang der Wassermassen zu hören, die auf das Land hinabfielen. Ein kurzes, trockenes Stakkato; dann war es wieder nur der Regen, der die Nacht mit seinem Rauschen erfüllte, das schmatzende Geräusch seiner Stiefel auf dem nassen Erdreich und sein keuchender Atem.
Die nackte Angst ließ ihn seine Schritte weiter beschleunigen, obwohl ihm klar war, welches Risiko er damit einging, und er nicht einmal wusste, ob das Gewehrfeuer ihm gegolten hatte. Alle paar Sekunden warf er panische Blicke über seine Schulter, ohne dabei sein Tempo zu verringern, doch schon nach wenigen Metern verlor sich sein Blick in den Regenschleiern und der Dunkelheit.
Noch hundert Meter. Wieder das Rattern der Maschinenpistole, jetzt etwas weiter weg. An den Sohlen seiner Stiefel klebte eine dicke Schicht lehmiger Erde; mit jedem Schritt schienen sie sich ein wenig schwerer vom Boden zu lösen. Die Muskeln in seinen Beinen schmerzten, und er hatte heftiges Seitenstechen. Lange würde er diese Geschwindigkeit nicht mehr durchhalten können.
Noch fünfzig. Er zwang sich, die Signale zu ignorieren, die ihm sein Körper sandte, und setzte zu einem letzten Sprint an.
Noch vierzig.
Der Grund unter seinen Füßen wurde plötzlich ebener; wo sich seine Stiefel gerade noch in den nassen Furchen eines frisch gepflügten Feldes festgesaugt hatten, bedeckte jetzt eine Grasnarbe das Land, und das verlieh seinen schnellen Schritten unverhoffte Festigkeit.
Dreißig.
Ein euphorisches Gefühl durchflutete ihn, während er seinem Ziel entgegenzufliegen schien. In wenigen Sekunden würde er den Schutz des Waldes erreicht haben.
Zwanzig.
Noch einmal blickte er im vollen Laufschritt hinter sich, doch da war nichts, nur die Nacht und der Regen. Er würde es schaffen, dessen war er sich jetzt sicher, und er musste sich zusammenreißen, um nicht in hysterisches Lachen auszubrechen.
Er wandte den Blick wieder nach vorn – zu spät.
Sein rechter Fuß trat ins Leere.
Er hatte nicht einmal Zeit, mit den Armen zu rudern, bevor er der Länge nach ins Nichts stürzte.