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2.Die Erweiterung: Art. 24 Abs. 2 GG

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Es ist also nicht jede völkerrechtlich zulässige Gewaltanwendung auch nach dem Grundgesetz als Verteidigung gemäß Art. 87a Abs. 2 GG zulässig. Doch bereits nach der Präambel des Grundgesetzes ist das deutsche Volk „von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem Vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen.“ Noch vor der Aufzählung der einzelnen Grundrechte wird also die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes erkennbar. In diesem Zusammenhang sind daher die Vorgaben des Art. 24 Abs. 2 GG zu sehen. Dieser bildet eine Konstellation ab, in welcher das Grundgesetz den Einsatz von Streitkräften auch über die reine Verteidigung hinaus zulässt:

(2) Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.

Werden die dort aufgestellten Voraussetzungen erfüllt, ist ein Einsatz der Streitkräfte in diesem Rahmen verfassungsrechtlich auch dann zulässig, wenn es sich nicht um Verteidigung im Sinne des Art. 87a GG handelt. Die Ermächtigung des Art. 24 Abs. 2 GG bietet damit die verfassungsrechtliche Grundlage für die Übernahme mit der Zugehörigkeit zu einem solchen System typischerweise verbundenen Aufgaben. Zur Erfüllung dieser Aufgaben kann damit auch die Bundeswehr eingesetzt werden, wenn diese Einsätze im Rahmen und nach den Regeln dieses Systems stattfinden.221

a) Einordnung in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit. Der Begriff des „Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ als bewusst unscharfe Fomulierung ist seit jeher und nach wie vor umstritten.222 Als ein System gegenseiter kollektiver Sicherheit könnte etwa (nur) ein System angesehen werden, das der Friedenssicherung innerhalb desselben Systems dient.223 Dann wären nur die Vereinten Nationen oder vergleichbare Organisationen solche Systeme. Erfasst man hingegen auch reine Verteidigungsbündnisse, die sich gegen Angriffe von außen richten, als Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit auf, sind auch Organisationen wie etwa die NATO erfasst.224

Eine solche formale Unterscheidung zwischen nach innen und nach außen gerichteten Systemen führt allerdings im Ergebnis nicht weiter. Der vermeintliche Gegensatz zwischen kollektiver Sicherheit (also Friedenssicherung nach innen) und kollektiver Verteidigung (Friedenssicherung nach außen) ist letztlich keiner. Entscheidend ist nicht der Ursprung der Friedensbedrohung, sondern allein die strikte Verpflichtung zur gegenseitigen Friedenswahrung. So erkannte das BVerfG anhand des Selbstverteidigungsrechts aus Art. 51 VN-Charta: „Insoweit bestätigt die Satzung, dass sich zur Wahrung des internationalen Friedens eine Organisationsform, in der alle Mitglieder einem Angegriffenen bei einem Angriff eines Mitgliedstaates beistehen, und eine solche, in der sich die Mitgliedstaaten zur gegenseitigen Unterstützung bei einem Angriff durch einen Nicht-Mitgliedstaat verpflichten, ergänzen.“225

Die „Einordnung“ erfolgt zweistufig: Völkerrechtlich schließt die Bundesrepublik Deutschland mit dem jeweiligen System (meist eine internationale Organisation) einen Beitrittsvertrag; alternativ könnte sie auch Gründungsmitglied eines solchen Systems sein. Diesem Beitritt bzw. der völkerrechtlichen Vertragsgrundlage eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit muss der Deutsche Bundestag verfassungsrechtlich nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1, 1. Alt. GG in Form eines Gesetzes zustimmen.226

b) Einzelne Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit. Die Vereinten Nationen sind ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne von Art. 24 Abs. 2 GG. Sie sind darauf angelegt, Streitigkeiten unter ihren Mitgliedern auf friedliche Weise beizulegen und notfalls durch Einsatz von Streitkräften den Friedenszustand wiederherzustellen. Dabei sind die Mitgliedstaaten zu entsprechender Zusammenarbeit verpflichtet.227 Eine Mitgliedschaft in einem solchen System mit wechselseitiger Friedenssicherung setzt voraus, dass seine Mitglieder auch militärische Beiträge leisten.228 Ein Einsatz der Bundeswehr im Rahmen und nach den Regeln der Vereinten Nationen ist damit verfassungsrechtlich zulässig.

Die NATO ist von ihrem Grundansatz her – trotz Erweiterung ihres Aufgabenspektrums seit Ende des Kalten Krieges – ein klassisches Verteidigungsbündnis. Ihr grundlegender Zweck der regionalen Friedenswahrung in Europa und dem Nordatlantik erlaubt allerdings auch Einsätze zur Eindämmung von Krisen, ohne dass die NATO ihren Charakter als Verteidigungsbündnis verlöre.229 Die NATO dient der Wahrung des Friedens auch dadurch, dass sich die Vertragsparteien verpflichten, Streitfälle, an denen sie beteiligt sind, mit friedlichen Mitteln zu lösen.230 Aus der Idee einer gemeinsamen Verteidigung gegen einen Angriff von außen folgt zudem, dass der Angreifende mit seinem Staatsgebiet einen insoweit maßgeblichen Bezug zum Bündnisgebiet herstellt. Mit dem Zweck der NATO als System mehrerer Staaten zur gemeinsamen Abwehr militärischer Angriffe von außen waren abwehrende militärische Einsätze außerhalb des Bündnisgebiets, nämlich auch auf dem Territorium eines angreifenden Staates, von vornherein umfasst. Bei einem Angriff muss die Verteidigung nicht an der Bündnisgrenze enden, sondern kann auf dem Territorium des Angreifers stattfinden. Dabei dient auch dessen langfristige und stabile Befriedung der Sicherung eines dauerhaften Friedens des Bündnisses.231 Folglich wurde auch in dem nach Maßgabe des Art. 59 Abs. 2 Satz 1, Art. 24 Abs. 2 GG ergangene Zustimmungsgesetz zum NATO-Vertrag das Integrationsprogramm eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit festgelegt.232 Eine Fortentwicklung der NATO ändert an dieser Einschätzung nichts, solange eine solche Fortentwicklung nicht über die mit dem Zustimmungsgesetz erteilte Ermächtigung hinausgeht und damit ultra vires erfolgt.233

Bei der Europäischen Union (EU) hingegen ließ sich das vielbeachtete Lissabon-Urteil des Bundverfassungsgerichts so verstehen, dass die EU mit dem Integrationsstand des Vertrages von Lissabon noch kein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG darstellte.234 Der für eine gemeinsame Verteidigung erst noch erforderliche einstimmige Beschluss des Europäischen Rates sowie der ebenfalls erforderliche Beschluss der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften verdeutliche, „dass der Schritt der Europäischen Union zu einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit durch die geltende Fassung des Primärrechts und durch die Rechtslage nach einem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon noch nicht gegangen wird.“235 Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht allerdings in seiner Entscheidung zur Beteiligung deutscher Streitkräfte an dem Einsatz zur Verhütung und Unterbindung terroristischer Handlungen durch die Terrororganisation IS im September 2019 klargestellt: „Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist […] nicht dahingehend zu verstehen, dass die Europäische Union grundsätzlich nicht als System im Sinne von Art. 24 Abs. 2 GG eingeordnet werden kann. Ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG setzt ein friedensicherndes Regelwerk sowie den Aufbau einer eigenen Organisation und einen Status völkerrechtlicher Gebundenheit voraus, der wechselseitig zur Wahrung des Friedens verpflichtet und Sicherheit gewährt […]. Anhand dieser Kriterien kann die Europäische Union zumindest vertretbar als ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit angesehen werden.“236

Ein Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen gemäß Kapitel VII der VN-Charta – also für Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen – ist für Einsätze der Bundeswehr im Rahmen der NATO oder EU nicht zwingend erforderlich.237 Andere völkerrechtliche Ermächtigungen zur Gewaltanwendung, etwa die Einladung des betroffenen Staates, reichen grundsätzlich aus.

Sog. „Koalitionen der Willigen“, also ad hoc vereinbarte Zusammenschlüsse ohne entsprechendes Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, erfüllen hingegen nicht die Kriterien eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit, da ihnen sowohl der Organisationsaufbau als auch eine völkerrechtliche Grundlage fehlt.238

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