Читать книгу Praktiken professioneller Lehrpersonen (E-Book) - Urban Fraefel - Страница 23
Was braucht es für eine erfolgreiche Begleitung von individuellen Lernprozessen?
ОглавлениеDie Praktiken der individuellen Lernbegleitung sind komplex. Lehrpersonen benötigen dafür ein vielfältiges Repertoire auf verschiedenen Ebenen. Sie erhalten hier die Gelegenheit, die einzelnen Elemente kennenzulernen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und sie miteinander zu verknüpfen. Besonders beim Thema «Lernbegleitung» ist es wichtig, dass Sie aktiv nach Übungsgelegenheiten Ausschau halten. Mit der Zeit werden Sie lernen, die Elemente flexibel einzusetzen und zu orchestrieren.
Die folgende Abbildung gibt einen ersten Überblick über die Bereiche, die für eine erfolgreiche Lernbegleitung wichtig sind. Die Fülle der Aspekte mag irritieren – aber alle diese Themen werden im weiteren Verlauf des Arbeitsbuchs vertieft werden.
Abbildung 6: Übersicht über die Voraussetzungen und Verfahren zur Entwicklung von Praktiken der Lernbegleitung.
Das fachdidaktische Wissen (in der Abbildung 4 oben links abgebildet) ist für die Lernbegleitung unverzichtbar und zentral, kann aber in diesem Buch nicht vertieft werden, abgesehen von einzelnen beispielhaften Hinweisen. Sinnvoll unterstützen kann nur, wer die Sache selber versteht und weiss, wie sie lehr- und lernbar ist. Es ist deshalb unabdingbar, dass die Studierenden und Lehrpersonen sich ein solides fachliches und fachdidaktisches Wissen aneignen, denn sonst geht in der Lernbegleitung wenig.
Die weiteren Felder der Abbildung 4 – Kommunikation und Beziehung; Fähigkeiten zur Diagnose; Analysieren, Trainieren und Praktiken der Lernbegleitung – werden hingegen in diesem Buch thematisiert, theoretisch eingebettet und vielfältig vertieft.
Weiterführende Informationen und Materialien
Die «soziale Konstruktion» von Wissen: Ein Blick auf den lernpsychologischen Ansatz von Lew Vygotsky
Die Bedeutung dieses Ansatzes für jedes schulische und ausserschulische Lernen kann gar nicht genügend hoch eingeschätzt werden. «Soziale Konstruktion von Wissen» bedeutet, dass Menschen andere Menschen brauchen, um sich etwas lernend zu erschliessen und das Wissen am Ende verinnerlichen zu können. Kaum jemand lernt sprechen oder lesen oder stricken oder ein Musikinstrument spielen ohne andere Menschen. Das hatte der russische Forscher Lew Vygotsky (1896−1934) als erster intensiv erforscht und beschrieben, was ihm, neben Jean Piaget, einen bleibenden Platz unter den Pionieren der Lernpsychologie eingetragen hat. Er stellte fest, dass in der kulturellen Entwicklung eines Kindes alles zuerst auf sozialer Ebene geschieht, bevor es im Innern des Kindes Gestalt annimmt. Alle höheren geistigen Funktionen beruhen gemäss Vygotsky auf realen Beziehungen zwischen Menschen (Vygotsky & Cole, 1934/1978, S. 57).
Abbildung 7: Taschenlampe in der Nacht als Metapher für die «Zone der nächsten Entwicklung» (Lernzone)
Vygotskys Ansatz ist bedeutsam für jedes Lernen überhaupt. Mit der sogenannten «Zone der proximalen Entwicklung» schuf Vygotsky eine einleuchtende Metapher für Lernprozesse im sozialen Kontext. Sie wird auch «Zone der nächsten Entwicklung» oder schlicht «Lernzone» genannt. Vygotsky versteht darunter die Distanz zwischen dem, was ein Kind alleine erreichen kann, und dem, was es unter Anleitung von Erwachsenen oder mit fähigeren Peers meistern kann (nach Vygotsky & Cole, 1934/1978).1 Dies wird in der Abbildung 6 verdeutlicht: Zwischen dem Gelernten und dem Unerreichbaren erstreckt sich die Zone, in der die Menschen etwas lernen können und mehr oder weniger Unterstützung brauchen. Man könnte die Zone mit einem Taschenlampenstrahl in der Nacht vergleichen: Die «Zone der nächsten Entwicklung» reicht so weit, wie die Taschenlampe leuchtet (Abbildung 7).
Abbildung 8: Veranschaulichung der Zone der proximalen Entwicklung. Vgl. auch Tharp und Gallimore, 1991; Hattie & Clarke, 2018.
1«…the distance between the actual developmental level as determined by independent problem solving and the level of potential development as determined through problem solving under adult guidance, or in collaboration with more capable peers» (Vygotsky & Cole, 1934/1978, S. 86).