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Die Bedeutung der «Zone der nächsten Entwicklung» für Lernen im Unterricht

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Es lässt sich festhalten: Wenn es um einen bestimmten Lerngegenstand geht, haben alle Schülerinnen und Schüler ihre eigene «Zone der nächsten Entwicklung», in der Fortschritte möglich sind: Wenn die Herausforderung zu gering ist («Komfortzone») oder zu gross («Panikzone»), lernen sie nichts. In einem Klassenunterricht sieht sich die Lehrperson immer Schülerinnen und Schülern gegenüber, die an höchst unterschiedlichen Orten stehen, wenn es um eine bestimmte Sache geht: Einige können nicht folgen, weil es zu schwierig ist, einige sind unterfordert und machen keine Fortschritte, und einige haben das Glück, dass die Anforderungen des Unterrichts genau in ihrer «Zone der nächsten Entwicklung» liegen. Nur diese profitieren.

Ein wichtiger Faktor ist die Zeit: Klassenunterricht ist in der Regel klar getaktet und lässt jenen, die etwas verpasst haben, nur beschränkt Zeit. Manche Schülerinnen und Schüler wären durchaus erfolgreich, wenn sie etwas mehr Zeit hätten oder etwas Verpasstes kurz nachholen oder üben könnten. So aber riskieren sie, den Anschluss zu verpassen.

Hinzu kommt eine weitere Schwierigkeit: Es gibt in einer Unterrichtsstunde nicht nur «einen» Lerngegenstand; vielmehr überlagern sich zahlreiche unterschiedliche Themen. Je nach Fähigkeiten und Vorwissen sind nicht alle Schülerinnen und Schüler gleich angesprochen. Eine Schülerin kann bei einem Thema gut mitkommen und kurz danach scheitern, und beim nächsten Schüler ist es umgekehrt. Mit anderen Worten: Es sind immer wieder andere Schülerinnen und Schüler, für die sich der Klassenunterricht in der Zone der proximalen Entwicklung abspielt. Die Abbildung 7 veranschaulicht diesen Sachverhalt graphisch. Dabei wird klar, dass eine Lehrperson nie alle Schülerinnen und Schüler einer Lerngruppe gleichzeitig erreichen kann, so flexibel und gewandt der Unterricht auch sein mag: Schüler/-in 1 ist dauernd im Panikmodus, Schüler/-innen 8 und 9 sind schlicht unterfordert, und einzig die Schüler/-innen 2 und 6 können optimal profitieren.

Man könnte nun den Schluss ziehen, der Klassenunterricht sei überholt. Das ist aber keineswegs der Fall: Gerade weil der Unterricht einer ganzen Lerngruppe so anspruchsvoll ist, soll er hoch professionell gestaltet werden, und die Lehrpersonen werden auch dafür wirkungsvolle Praktiken aufbauen, trainieren und weiterentwickeln. Das wird Gegenstand weiterer Kapitel sein.


Abbildung 9: Veranschaulichung der unterschiedlichen «Zonen der nächsten Entwicklung» der Schülerinnen und Schüler einer Lerngruppe.

Aktivitäten und Anregungen
Fünf Anregungen, wie Sie sich dem Thema «Lernbegleitung» in Ihrer täglichen Praxis annähern können.
1. Machen Sie Erfahrungen mit individueller Lernbegleitung.Sie sollten das, was hier erläutert und diskutiert wird, mit konkreten Erfahrungen verbinden können, die nicht zu weit zurückliegen.Suchen Sie wiederholt Gelegenheiten der individuellen Lernbegleitung. Ein paar Hinweise:–Wenn Sie allein unterrichten, sollten Sie die Phasen der Einzel- oder Partnerarbeit nutzen, um einzelne Schülerinnen und Schüler im Bedarfsfall zu unterstützen.–Wenn Sie in einem Praktikum sind, dann konzentrieren Sie sich in Phasen des Co-Teachings ganz auf die Lernbegleitung und überlassen Sie anderen Lehrpersonen den Klassenunterricht.–Unterstützen Sie Schülerinnen und Schüler ausserhalb des Unterrichts, z. B. durch Nachhilfe.–Helfen Sie Schülerinnen und Schülern aus ihrem Bekanntenkreis bei den Hausaufgaben.2. Dokumentieren Sie Ihre Lernbegleitung.Lehr-Lern-Gespräche sind flüchtig. Darum sammeln Sie «Spuren» Ihrer Lernunterstützung, z. B.–Behalten, kopieren oder fotografieren Sie, was während der Gespräche aufgeschrieben wird.–Machen Sie eine Audio-Aufnahme mit Ihrem Smartphone, wenn die Schülerin, der Schüler damit einverstanden ist.–Lassen Sie sich von einer Drittperson filmen, wenn alle Beteiligten einverstanden sind – ein Smartphone reicht dafür aus.3. Werden Sie sich Ihrer Praktiken bewusst, d. h., wie Ihre Lernbegleitung gegenwärtig «funktioniert».Auf den folgenden Seiten lernen Sie viele neue Aspekte der Lernbegleitung kennen. Sie werden jeweils aufgefordert, Ihre Erfahrungen mit Lernbegleitung unter diesem Blickwinkel zu betrachten und zu analysieren.Bei der nächsten Gelegenheit können Sie den ausgewählten Aspekt dann besonders beachten.4. Beobachten Sie sich selbst.Schon jetzt fällt Ihnen bestimmt auf, wie Sie Lernbegleitung intuitiv gestalten.–Wissen Sie genau, wo die Schwierigkeit liegt?–Stellen Sie Fragen, um herauszufinden, was die Schülerin, der Schüler schon kann oder nicht kann?–Erklären Sie? Oder stellen Sie vor allem Fragen?–Stellen Sie mehrere Fragen hintereinander?–Wollen Sie mit Ihren Fragen die Schülerin, den Schüler anregen, das Problem selbst zu lösen?–Erklären Sie mit Beispielen?–Erklären Sie, indem Sie etwas vorzeigen?
5. Empfehlung, im «Handbuch» Bemerkenswertes, Gelerntes, Ungenügendes zu notieren.Die Erfahrungen und Einsichten sind flüchtig, wenn Sie sie nicht festhalten. Nutzen Sie Ihr «Handbuch», wie auch immer Sie es gestalten.Lesen Sie doch nochmals die Arbeitsanleitung im Kapitel 3!
Praktiken professioneller Lehrpersonen (E-Book)

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