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Einordnen in einen Entwicklungsprozess

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Beobachtungen sind auf den Moment ausgerichtet: Was sehe ich jetzt? Was ist beobachtbar? Das «Jetzt» liefert viele Informationen, wenn man bereit ist, sie zu lesen. Aber jedes Tun hat auch eine Vorgeschichte; es hat Gründe, warum sich die Schülerinnen und Schüler gerade so verhalten. Das können wir nur verstehen, wenn wir eine Ahnung von der Entwicklung haben, in der sie stehen, und zwar auf jeder Ebene. Die Lehrperson weiss zum Beispiel, mit welchen schulischen Problemen das Kind zu kämpfen gehabt hat, oder sie weiss, dass die Schülerin offene Aufgaben ohne klar ersichtlichen Lösungsweg hasst, oder die Lehrperson weiss, dass dieser Junge Mühe hat, seine Zeit gut einzuteilen usw.

Wenn die momentane Beobachtung in einen grösseren Kontext gestellt werden kann, eröffnen sich neue Möglichkeiten des Verstehens.

Weiterführende Informationen und Materialien

Das Beobachten mit Hilfe von Videos trainieren

Beobachten mittels Videos ist sehr wirkungsvoll: Wo sonst im realen Berufsalltag kann man einfach stoppen und zurückscrollen? Videos helfen, ausserhalb des Unterrichts die eigene Wahrnehmung zu schärfen, die Interpretation und Entscheidung zu überprüfen und allenfalls bessere Varianten durchzudenken.

Seit digitale Videos so leicht zugänglich sind und deren Herstellung und Verbreitung sehr einfach geworden ist, ist die Schwelle für deren Nutzung in der Lehrpersonenbildung tiefer. Während die analogen Videos des letzten Jahrhunderts noch sehr schwerfällig in der Handhabung waren und vor allem in der Forschung eingesetzt wurden, finden Unterrichtsvideos immer mehr Verbreitung und Anwendung in Seminaren und Workshops der Aus- und Weiterbildung. Man kann für Schulungszwecke fertige («fremde») Videos verwenden, die zumeist schon gut ausgewählt sind und etwas hergeben. Oder Videos des eigenen Unterrichtens können analysiert werden, was am Anfang etwas gewöhnungsbedürftig ist, aber insgesamt sehr produktiv, weil man auch viele Hintergrundinformationen hat, die im Video nicht sichtbar werden.

Seit etwa 2000 finden sich zunehmend Erfahrungsberichte, Empfehlungen und auch Forschungsergebnisse zur Verwendung von Unterrichtsvideos in der Lehrpersonenbildung. So hat sich z. B. eine Gruppe der PH Luzern in Anlehnung an Santagata & Guarino (2011) eingehend mit den Verfahren der Videonutzung befasst. Sie schlagen vier Schritte vor (vgl. Biaggi, Krammer & Hugener, 2013), die hier summarisch zusammengefasst sind.

Schritt 1: Unterrichtssituation und Erwartungen an die Schülerinnen und Schüler klären

Zuerst wird geklärt, worum es in der Szene geht, und was die Schülerinnen und Schüler tun und lernen sollen. Idealerweise bearbeiten die Studierenden die Aufgaben und Aufträge, die an die Schülerinnen und Schüler gestellt werden, zuerst selbst, um dann verschiedene Lösungswege zu diskutieren.

Schritt 2: Schülerinnen und Schüler beobachten (Verhalten, Lern- und Denkprozesse)

Entscheidend ist, zuerst den Blick von der Lehrperson zu lösen und einen Perspektivenwechsel in Richtung der Lernenden zu vollziehen. Der Fokus der Aufmerksamkeit soll sich auf das Verhalten der Schülerinnen und Schüler richten. Man muss versuchen zu verstehen, was sich bei den Schülerinnen und Schülern abspielt, was sie eigentlich tun, wie es ihnen geht und was sie wohl denken mögen.

Schritt 3: Handlungen der Lehrperson und deren Wirkungen analysieren

Anschliessend ist die Lehrperson im Blick, insbesondere wie sie die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler beeinflusst oder auch nicht. Man kann Vermutungen anstellen, ob es zwischen den Aktionen der Lehrperson und den Lernaktivitäten der Schülerinnen und Schüler Zusammenhänge gibt. Wenn möglich werden auch Verbindungen zu theoretischem Wissen hergestellt, z. B. zu didaktischen Konzepten oder zu Wissen über das Lernen.

Schritt 4: Alternativen vorschlagen und begründen

Ziel des letzten Schrittes ist es, dass die Studierenden Optimierungsmöglichkeiten entwickeln, die sie wenn möglich auch begründen können, d. h. indem sie Entsprechungen ihrer Vorschläge zu didaktischem, erziehungswissenschaftlichem sowie lern- und entwicklungspsychologischem Wissen herstellen.

In den Grundzügen und mit Variationen können Studierende auch selbständig so vorgehen – allein, zu zweit oder in kleinen Gruppen. Ein solch straffes Verfahren hat den Vorteil, dass es einen vor zu schnellen Urteilen bewahrt und einen zwingt, von den Lernenden her zu beobachten. Ohne diesen Perspektivenwechsel ist der Ertrag geringer, da es zentral um die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler gehen soll und nicht um den Auftritt der Lehrperson.

Praktiken professioneller Lehrpersonen (E-Book)

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