Читать книгу Praktiken professioneller Lehrpersonen (E-Book) - Urban Fraefel - Страница 33
Übung und Erfahrung im Wechselspiel mit neuem Wissen
ОглавлениеEs wäre aber eine Fehlannahme zu meinen, dass Lehrpersonen ihre theoretischen Wissensbestände im Unterricht immer gedanklich präsent haben müssten. Das ist schlicht unmöglich, und darum geht es nicht, sondern um das Training und die Schärfung der Intuitionen auf der Grundlage sich kontinuierlich aufbauenden impliziten Wissens. Das Wesentliche an Lernprozessen – auch bei Erwachsenen! – ist ja, dass das Gelernte tief in der eigenen Person verankert ist. Sie kann darüber frei verfügen, ohne Nachgrübeln, ohne angestrengtes Erinnern. Das vorher bearbeitete Wissen wirkt indirekt; der Lernprozess ist initiiert worden, und das Wissen wird nun zunehmend Teil der Praktiken der intuitiven Diagnose.
Dieser Lernprozess der Studierenden und Lehrpersonen erfordert systematische Übung. Wie schon ausgeführt, steigt die Stimmigkeit von Intuitionen vor allem mit der Erfahrung. Es ist deshalb wichtig, dass dieser Prozess bereits in der Lehrpersonenbildung beginnt – durch produktive Lernsituationen in den Praktika, durch Gespräche und (Selbst-)Beobachtungen sowie durch gezieltes Üben, wozu dieses Buch zahlreiche Anleitungen gibt.
Aber wenn nicht gezielt geübt wird, ist Skepsis angebracht. Tina Hascher (2012) stellte in einer grösseren Studie zu Praktika fest, dass «in Praxiskontakten immer irgendwie alles gelernt wird», aber eben nicht spezifische Fähigkeiten entwickelt werden. Sie fährt fort:
«Die Studierenden springen oftmals von einer Situation zur nächsten, und eine systematische Gestaltung ihres Lernprozesses findet nur selten statt. Vielmehr entdecken sie jeden Tag etwas Neues, das sie in der Situation zwar als sehr relevant erachten, aber zu selten in ihren Kompetenzerwerb bzw. in Hinblick auf die Folgen für ihr eigenes Lernen integrieren. Grundlegend muss also die Frage gestellt werden, wie aus Praxiserfahrungen Lernprozesse werden.» (Hascher, 2012, S. 122)
Schulpraktika bieten herausragende Chancen, dass an einzelnen Praktiken systematisch und kontinuierlich gearbeitet wird. So können die Praktiken dermassen entwickelt und verinnerlicht werden, dass sie dauerhaft und auch unter Stress verfügbar sind.
Zurück zur Frage, wie intuitive Diagnosen verbessert werden können. Die Abbildung 12 stellt schematisch dar, aus welchen Ressourcen eine Entscheidung gespeist wird und wo man ansetzen könnte, um die Qualität der Entscheidungen zu verbessern. Wenn eine Lehrperson etwas wahrnimmt und eine intuitive Einschätzung macht, greift sie in der Regel nicht bewusst auf Wissensbestände zurück, sondern muss sich darauf verlassen können, dass sie gelernt hat, richtig einzuschätzen; sie nutzt ihr implizites Wissen. Und wie jeder Lernprozess braucht auch dieser sehr viele Vollzüge, bis er auf professionellem Niveau ist. Aber wie gesagt: Intuitionen erlauben immer noch einen kurzen Moment des Innehaltens, um die aktuelle Situation zu interpretieren – andernfalls würde man rein reflexartig agieren. In diesem kurzen Augenblick des Überprüfens («Stimmt das? Bin ich auf dem richtigen Weg?») wird die Lehrperson möglicherweise eine Information abrufen, mit der sie sich schon früher befasst hat – je nach Situation fachliches oder psychologisches Wissen, Vorwissen über die Geschichte dieses Schülers usw. So ist dieser Lernprozess nie ganz abgeschlossen, denn es wird immer leicht veränderte Situationen und neues Wissen geben, was die Praktiken anreichern und verbessern kann.
Abbildung 12: Intuition, gespeist von implizitem Wissen, als wichtigste Quelle situativer Entscheidungen.