Читать книгу Praktiken professioneller Lehrpersonen (E-Book) - Urban Fraefel - Страница 27
Diagnosen: Schnell und/oder gründlich?
ОглавлениеSchnelle und spontane Diagnosen können unscharf, willkürlich oder gar irrational sein und zu krassen Fehleinschätzungen führen. Hier tut sich für Lehrpersonen ein Dilemma auf:
Einerseits muss die Lehrperson oft schnell eine Entscheidung treffen und rasch handeln. Ihre reflexartige Diagnose läuft dann Gefahr, oberflächlich und einseitig zu sein.
Anderseits: Wenn die Lehrperson es genau wissen will, muss sie sich Zeit nehmen für eine eingehende, systematische Prüfung des Lernstands und allenfalls der Lernschwierigkeiten, etwa indem sie einen Test durchführt, die Arbeiten des Schülers analysiert oder ihn gründlicher befragt. Um diese letztere systematische Diagnostik geht es hier aber nicht, auch wenn diese bei einer summativen Beurteilung manchmal nützlich ist.
Es stellt sich die Frage: Gibt es nur diese beiden Alternativen? Auf der einen Seite die spontane und bisweilen unbewusste Einschätzung (auch «implizite Diagnostik» oder «Alltagsdiagnostik» genannt), auf der anderen Seite die systematische Diagnose entlang definierter Verfahren und Kriterien (auch «explizite Diagnostik» oder «professionelle Diagnostik» genannt)?
Nun, es sollte eine dritte Möglichkeit geben, denn allein die Vielzahl der professionellen Lehrpersonen, die sowohl schnell als auch treffend diagnostizieren können, beweist es. Es gibt eine Praktik des treffenden Diagnostizierens – Ruiz-Primo (2011) nennt sie auch «informelle formative Evaluation». Sie bildet das Bindeglied zwischen dem spontanen Urteil und dem analytischen Diagnostizieren. Der Schlüssel zu dieser Praktik ist eine geschärfte Intuition.
Diagnostik, um Lehrpersonen wachzurütteln?
A. Helmke (2009) stellt fest, dass die pädagogische Diagnostik ein Schattendasein führe, und empfiehlt, diese einzusetzen, damit die Lehrpersonen sich der Mängel ihres Unterrichts bewusst werden und ihn auf dieser Basis weiterentwickeln:
«Warum sollte sich jemand, der mit sich und seinem Unterricht zufrieden ist, ändern? Deshalb ist es wichtig, so früh und so oft wie möglich Gelegenheiten des Abgleichs zu schaffen, um eine empirisch fundierte, realistische Standortbestimmung zu leisten, Selbsttäuschungen zu erkennen und blinde Flecken zu vermeiden. Mit anderen Worten: Unterrichtsdiagnostik benötigt einen ‹fremden Blick› auf den eigenen Unterricht, sei es in Gestalt von Unterrichtsbeobachtung, Videographie oder Schülerfeedback.»
Der Ansatz der Praktiken professionellen Handelns hat dasselbe Ziel, aber der Weg verläuft in die Gegenrichtung: Zuerst legt die Lehrperson den Fokus darauf, die Qualität der Lernprozesse zu verbessern, und erst dann können im Bedarfsfall auch solche empirischen Verfahren zum Einsatz kommen.