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Rückblende: Marggrafs Entdeckung des Rübenzuckers

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Die Entdeckung von Zucker in einheimischen Rübenarten war keineswegs das Resultat einer gezielten Suche nach neuen Zuckerquellen. Vielmehr machte Marggraf diese Entdeckung im Rahmen seiner systematischen chemischen Analysen von Pflanzen und pflanzlichen Produkten. 1747, zum Zeitpunkt seiner Entdeckung, war Marggraf noch Apotheker und arbeitete in der Apotheke seines Vaters, deren Laboratorium er selbst eingerichtet hatte. Obwohl er nie eine Universität besucht und lediglich eine Apothekerlehre absolviert hatte, war er ein angesehener Chemiker und seit neun Jahren Mitglied der Königlichen Societät der Wissenschaften, der Vorläuferorganisation der Akademie der Wissenschaften. Wie fast alle preußischen Chemiker des 18. Jahrhunderts war er Empiriker, der sich auf Stoffkenntnisse und chemische Analysen konzentrierte.

Die sogenannte Pflanzenanalyse gehörte um die Mitte des 18. Jahrhunderts zu den internationalen Forschungsschwerpunkten der akademischen Chemie. Ihr Ziel war die Kenntnis der „näheren Bestandteile“ der Pflanzen, das heißt solcher stofflicher Komponenten, die als charakteristisch pflanzliche gelten konnten, aber noch in einfachere Komponenten zerlegbar waren. Zu den näheren Bestandteilen der Pflanzen gehörten Stoffe wie Fette, flüchtige Öle, Wachse, Harze, Schleime, Gummi, Säuren und Salze, die gegen Ende des Jahrhunderts auch als „organische“ von den „anorganischen“ Stoffen abgegrenzt wurden.64 In ihren Analysen versuchten die Chemiker des 18. Jahrhunderts, diese Stoffe mithilfe chemischer Verfahren aus den Blättern, Wurzeln, Blüten oder Samen von Pflanzen unverändert abzuscheiden und sie danach eindeutig auf chemische Weise zu identifizieren.

Die damaligen analytischen Verfahren waren immer auch stoffliche Herstellungsverfahren – im 19. Jahrhundert sprach man eher von Darstellungsverfahren –, die aufgrund ihrer materiellen Produktivität einen praktischen Nutzen versprachen. Im Fall der Entdeckung von Zucker als näherem Bestandteil einheimischer Pflanzen lag der mögliche praktische Nutzen auf der Hand. Wie Marggraf in der Veröffentlichung seiner Experimente betonte, hatte er zum einen ausschließlich einheimische Pflanzen analysiert, die nicht anspruchsvoll waren und zum anderen nachgewiesen, dass der daraus abgeschiedene, süß schmeckende Stoff identisch mit Rohrzucker war. Er schlussfolgerte, seine Experimente zeigten, dass es einheimischen Ersatz für den teuren Rohrzucker gebe.

Für seine Pflanzenanalysen hatte sich Marggraf geschmacklich auffällige Pflanzenarten ausgesucht, weil man in diesen „wesentlichen Pflanzensalze“ vermutete, die man zu den näheren Bestandteilen der Pflanzen zählte. Als erstes wollte er ein Pflanzensalz aus Sauerklee, römischem Fenchel und der Mariendistel isolieren. Später sollten süß schmeckende Salze folgen. Marggrafs Ziel war also zunächst ein wissenschaftlich-analytisches: die systematische experimentelle Abscheidung „wesentlicher Pflanzensalze“ aus verschiedenen Pflanzenarten und ihre eindeutige Identifikation.

Da die wesentlichen Pflanzensalze wie alle näheren Bestandteile der Pflanzen als zusammengesetzte und daher zersetzbare chemische Verbindungen galten, waren Analyseverfahren notwendig, die ohne Denaturierung vor sich gingen, sodass man die näheren Bestandteile in ihrer natürlichen Form aus den Pflanzen abscheiden konnte. Als beste Methoden für diesen Zweck galten die Destillation bei niedrigen Temperaturen sowie die Extraktion der Bestandteile mit Wasser, Weingeist oder einem anderen Lösungsmittel. Im Fall der pflanzlichen Fette und wesentlichen Salze griff man auf traditionellere Verfahren zurück, nämlich das mechanische Auspressen der Fette und die Kristallisation von Salzen aus eingedickten Pflanzensäften. Diese chemischen Analysemethoden, deren Nähe zu handwerklichen Herstellungsverfahren in den zuletzt genannten Sonderfällen besonders augenfällig ist, wurden bis ins 19. Jahrhundert angewandt und dann durch die Anwendung reinerer Lösungsmittel chemisch ausgebaut. Sie waren in jedem Apothekerlaboratorium durchführbar, in dem gewöhnlich auch die dafür notwendigen Instrumente und Gefäße – Messer und Mörser, Glasbecher, Filter, Kristallisationsschalen, Retorten, Destillationsvorlagen und Öfen verschiedenster Art – vorhanden waren.

Schauen wir uns etwas genauer an, wie Marggraf vorging. In seinem publizierten Experimentalbericht bemerkte er eingangs, er habe sich hinsichtlich der Art und Weise seiner Untersuchung der wesentlichen Pflanzensalze verschiedener Pflanzenarten an vorhandenen Kenntnissen und Verfahren orientiert, insbesondere an der Extraktion des Sauerkleesalzes aus Sauerklee, einem bekannten Verfahren der Arzneimittelherstellung. Das Verfahren klingt einfach, war aber im Detail nicht ohne Tücken. Der ausgepresste Pflanzensaft wurde zuerst durch stoffliche Zusätze von festen Rückständen getrennt, durch Filtrieren gereinigt und dann durch vorsichtiges Kochen eingedickt. Aus dem eingedickten Saft kristallisierte das Salz nach einiger Zeit spontan aus und konnte somit abgesondert werden. Da dieses Verfahren zu den geläufigen Herstellungsverfahren im Apothekergewerbe gehörte, fasste Marggraf sich kurz. Die „salzigen Theile“, hieß es nur, können „ohne der Pflanzen essentielles Wesen zu zerstöhren, aus ihrem ausgepreßten Saft, nach gehöriger Reinigung, Eindickung und Cristallisirung, abgesondert werden“.65

Nachdem Marggraf auf diese Weise wesentliche Pflanzensalze aus herb schmeckenden Pflanzen isoliert hatte, weitete er seine Versuche auf süß schmeckende Pflanzenarten aus. Das war nur wissenschaftlich konsequent, da die diversen Zuckerarten damals als „süße Salze“ klassifiziert wurden. Selbst in die gewöhnlichen Warenlexika ging diese heute merkwürdig erscheinende Klassifikation ein.66 Sie beruhte auf dem auffällig starken Geschmack, der kristallinen Struktur und der Wasserlöslichkeit von Salzen und Zuckern, also der Übereinstimmung einiger Eigenschaften. Zu den von Marggraf analysierten süßen Pflanzen gehörten die Mohrrübe, essbarer Kürbis, eine pharmazeutisch verwendete Graswurzel, amerikanische Aloe und mehrere einheimische Rübenarten.

In seinem ersten Experiment mit einheimischen Runkelrüben ging Marggraf auf folgende Weise vor. Er gab eine abgewogene Menge getrockneter und mit einem Mörser pulverisierter weißer Rüben (Beta vulgaris) in ein enghalsiges Glasgefäß und vermischte sie mit einer genau abgewogenen Menge hochreinem Weingeist. Das Glasgefäß wurde verschlossen, in eine Sandkapelle gestellt, und die Stoffmischung dann vorsichtig zum Kochen gebracht. Der so erhaltene alkoholische Rübenextrakt wurde mittels eines leinenen Beutels von den festen Rückständen abgetrennt, nochmals filtriert und dann in einem verschlossenen Glasgefäß aufbewahrt. Nach einigen Wochen, so Marggraf, setzte sich in dem Glasgefäß „ein schönes hartes cristallinisches Salz, welches alle Eigenschaften des Zuckers besaß“ ab.67 Durch nochmaliges Auflösen mit reinem Weingeist und Wiederholung des Verfahrens wurden die Zuckerkristalle gereinigt. Mithilfe eines Mikroskops stellte Marggraf dann fest, dass deren Kristallform identisch mit derjenigen von Rohrzucker war.

Marggrafs Extraktion von Rübenzucker mit hochreinem Alkohol war ein geeignetes analytisches Verfahren, da der abgeschiedene Zucker durch das Extraktionsmittel nicht verunreinigt wurde und somit leichter identifizierbar war. Hochreiner Weingeist war jedoch teuer, und daher testete Marggraf umgehend ein alternatives Verfahren, das von ausgepresstem, filtriertem und eingedicktem Rübensaft ausging und den Zucker durch Auskristallisieren aus dem Rübensirup gewann. Doch auch bei diesem einfachen und traditionellen Verfahren waren mehrere technische Hürden zu überwinden. Die „mehligen Theile“ der Runkelrübe machten den Saft schleimig und beeinträchtigten dadurch die Kristallisation. Marggraf versuchte daher, einen möglichst klaren Pflanzensaft zu gewinnen. Ein anderes technisches Problem bestand in der Zerkleinerung der harten Rüben vor der Saftgewinnung. Doch Marggraf war optimistisch. „Uebrigens ist hier zu merken”, schrieb er, „daß zum Zerstoßen und Kleinmachen dieser Wurzeln allerhand Maschinen eingerichtet werden können“. In seinem Resummee hielt er fest: 68

▷ Aus dem bishero erzehltem erhellet, was für häußliche Vortheile man aus diesen Erfahrungen ziehen kann, wovon [ich] z. E. nur dieses anführen will: daß sich der arme Bauer dieses Pflanzen-Zuckers oder dessen Syrups, statt des ordinairen theuren, sehr wohl bedienen könnte. ◁

Die festen Rückstände, die nach dem Auspressen des Rübensafts übrigbleiben, fügte er noch hinzu, würden sich gut für die Branntweingewinnung eignen.

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